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BSG - Entscheidung vom 24.11.2010

B 11 AL 12/10 R

Normen:
SGB III § 57 Abs. 1
SGB III § 58 Abs. 1

BSG, Urteil vom 24.11.2010 - Aktenzeichen B 11 AL 12/10 R

DRsp Nr. 2011/4521

Anspruch auf einen Gründungszuschuss zur Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit; Berechnung unter Verminderung des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes um Nebeneinkommen

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Juli 2009 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 26. Februar 2008 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Normenkette:

SGB III § 57 Abs. 1 ; SGB III § 58 Abs. 1 ;

Gründe:

I

Streitig ist die Höhe eines dem Kläger bewilligten Gründungszuschusses.

Der Kläger bezog in der Zeit vom 1.4. bis 31.5.2007 Arbeitslosengeld (Alg). Der tägliche Leistungssatz belief sich auf 43,86 Euro. Wegen Anrechnung eines vom 12.2. bis 31.5.2007 aus einer kurzzeitigen Beschäftigung als Gärtner erzielten Nebeneinkommens von 320 Euro monatlich wurden dem Kläger jedoch nur 38,69 Euro täglich ausgezahlt.

Zum 1.6.2007 nahm der Kläger eine selbständige hauptberufliche Tätigkeit als Versicherungsvermittler auf und übte diese bis Ende Februar 2008 aus. Auf seinen Antrag bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 13.8.2007 einen Gründungszuschuss für die Zeit vom 1.6.2007 bis 29.2.2008 in Höhe von monatlich 1460,70 Euro (30 x 38,69 = 1160,70 Euro, zuzüglich 300 Euro). Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe Anspruch auf monatlich 1615,70 Euro (eigentlich 1615,80 = 30 x 43,86 = 1315,80 + 300). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25.9.2007).

Das Sozialgericht ( SG ) hat die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide antragsgemäß verpflichtet, dem Kläger Gründungszuschuss in Höhe von 1615,70 Euro monatlich für die Zeit vom 1.6.2007 bis 29.2.2008 zu gewähren (Urteil vom 26.2.2008). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 16.7.2009). Das LSG hat unter Hinweis auf den Wortlaut des § 58 Sozialgesetzbuch Drittes Buch ( SGB III ) ausgeführt, maßgebend sei der Betrag, den der Arbeitnehmer zuletzt als Alg bezogen habe, also der ausgezahlte Betrag. Dem Gesetzgeber sei der Unterschied zwischen dem Stammrecht und dem tatsächlichen Bezug bekannt gewesen. Ein fiktiver Anspruch auf Alg könne deshalb nicht zum Maßstab genommen werden. Eine teleologische Reduktion sei nur möglich, wenn die immanente Teleologie des Gesetzes einer Einschränkung bedürfe; dies lasse sich nicht feststellen. Soweit im Schrifttum angenommen werde, Arbeitslose würden von der Möglichkeit des vorherigen Ausprobierens der selbständigen Tätigkeit im Rahmen einer Nebenbeschäftigung Abstand nehmen, oder soweit versucht werde, das Einkommen aus Nebenerwerb und Sozialleistung konstant zu halten, rechtfertige dies keine Abweichung vom Gesetz. Der Kläger könne sich auch nicht auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch berufen.

Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 58 Abs 1 SGB III und erhebt ferner Verfahrensrügen. Der Hinweis in § 58 Abs 1 SGB III auf den Betrag, den der Arbeitslose als Alg zuletzt bezogen habe, entspreche nicht der in § 57 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB III genannten Fördervoraussetzung, wonach ein Anspruch (Stammrecht) auf Entgeltersatzleistungen genüge und es somit nicht zum tatsächlichen Bezug von Alg gekommen sein müsse. Außerdem könne bei Teilnehmern an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nicht auf bezogenes, sondern nur auf ein fiktives Alg abgestellt werden. § 58 Abs 1 SGB III sei unpräzise formuliert und es sei immer der Kontext zu § 57 SGB III zu sehen. Zu beachten sei auch die dem Wortlaut nach vergleichbare Regelung in § 24 Abs 2 Nr 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und die dazu ergangene Rechtsprechung des BSG, wonach der befristete Zuschlag aus dem ungekürzten Alg zu errechnen sei. Mit § 24 Abs 2 Nr 1 SGB II solle der Übergang in das bedarfsabhängige Leistungssystem finanziell erleichtert werden und ein Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit geschaffen werden; insoweit seien zwei Haushaltslagen miteinander zu vergleichen. Auch seine (des Klägers) Haushaltslage sei durch das zuvor erzielte Nebeneinkommen mitgeprägt und ein Abstellen auf gemindertes Alg genüge dem Zweck, die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit zu fördern und damit die Arbeitslosigkeit zu beenden, nicht.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts vom 16. Juli 2009 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 26. Februar 2008 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

II

Die Revision des Klägers ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Sie führt zur Wiederherstellung des der Klage stattgebenden erstinstanzlichen Urteils. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung eines Gründungszuschusses in der geltend gemachten Höhe.

1. Der streitgegenständliche Anspruch auf höhere Leistungen scheitert nicht am Fehlen eines Leistungsanspruchs dem Grunde nach (vgl zur Überprüfung auch des Grundes im Höhenstreit etwa BSGE 94, 109 = SozR 4-4220 § 3 Nr 1, jeweils RdNr 8, oder BSGE 100, 295 = SozR 4-4300 § 132 Nr 1, jeweils RdNr 11). Dem Gesamtzusammenhang der tatsächlichen Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, dass die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 57 SGB III idF des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) erfüllt sind. Der Kläger hatte bis zur Aufnahme der selbständigen Tätigkeit einen Anspruch auf eine Entgeltersatzleistung nach dem SGB III (vgl hierzu Urteile des Senats vom 5.5.2010, B 11 AL 11/09 R und B 11 AL 28/09 R, jeweils zur Veröffentlichung vorgesehen). Er verfügte auch bei der Aufnahme noch über einen Anspruch auf Alg von mindestens 90 Tagen und hatte der Beklagten die Tragfähigkeit der Existenzgründung durch Vorlage einer fachkundigen Stellungnahme nachgewiesen sowie Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung der selbständigen Tätigkeit dargelegt (vgl § 57 Abs 1 und Abs 2 Satz 1 Nr 1 bis 4, Satz 2 SGB III ).

2. Für den streitgegenständlichen Zeitraum von neun Monaten (1.6.2007 bis 29.2.2009) hat der Kläger Anspruch auf Gewährung eines Gründungszuschusses in der geltend gemachten und vom SG zugesprochenen Höhe von 1615,70 Euro monatlich.

Nach § 58 Abs 1 SGB III idF des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) wird der Gründungszuschuss für die Dauer von neun Monaten in Höhe des Betrages geleistet, den der Arbeitnehmer als Alg zuletzt bezogen hat, zuzüglich von monatlich 300 Euro. Zur Höhe des zuletzt bezogenen Alg hat das LSG festgestellt, dass die Beklagte dem Kläger einen täglichen Leistungssatz von 43,86 Euro bewilligt, jedoch wegen Anrechnung von Nebeneinkommen nur einen Betrag von täglich 38,69 Euro ausgezahlt hat. Entgegen der Auffassung des LSG ist der Berechnung des dem Kläger zustehenden Gründungszuschusses als zuletzt iS des § 58 Abs 1 SGB III bezogenes Alg nicht der ausgezahlte Betrag von 38,69 Euro, sondern der bewilligte Leistungssatz von 43,86 Euro ohne Minderung durch Nebeneinkommen zugrunde zu legen. Dies ergibt einen monatlichen Betrag von 1615,80 Euro (30 x 43,86 = 1315,80 Euro, vgl § 339 Satz 1 SGB III , zuzüglich 300 Euro); folglich ist dem Kläger der begehrte und nicht zur Korrektur gestellte Betrag von 1615,70 Euro zu gewähren.

Der Berücksichtigung des Leistungssatzes ohne Minderung durch Nebeneinkommen steht nicht, wie das LSG angenommen hat, der "eindeutige" Wortlaut des § 58 Abs 1 SGB III entgegen. Vielmehr lässt § 58 Abs 1 SGB III , der auf die Höhe des Betrages abstellt, den der Arbeitnehmer als Alg zuletzt bezogen hat, offen, ob der ungeminderte Leistungssatz oder der ausgezahlte geminderte Betrag anzusetzen ist (vgl BSG SozR 4-4200 § 24 Nr 2 RdNr 18 zur gleichartigen Formulierung in § 24 Abs 2 Nr 1 SGB II; ferner LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.5.2009, L 19 AL 71/08, juris RdNr 17; SG Berlin, Urteil vom 13.2.2009, S 58 AL 6208/08, juris RdNr 15). Dass unter dem Betrag, den der Arbeitnehmer "als Arbeitslosengeld zuletzt bezogen" hat, ausschließlich der geminderte Betrag zu verstehen sein soll, lässt sich dem Gesetz nicht zwingend entnehmen. Auf den ungeminderten Betrag stellt selbst die Beklagte in Fällen ab, in denen kurzzeitige Beschäftigungen nur gelegentlich ausgeübt werden (vgl Geschäftsanweisungen 58.11 zu § 58 SGB III , Stand August 2009).

Da dem Kläger ein bestimmter Leistungssatz bewilligt worden ist und er insoweit Leistungen auch tatsächlich bezogen hat, stellt sich bei der Anwendung des § 58 Abs 1 SGB III auf die vorliegende Fallgestaltung nicht vorrangig die Frage, was unter einem "Bezug" im Sinne der Vorschrift zu verstehen ist (vgl zur Auslegung dieses Begriffs etwa BSG SozR 3-4100 § 55a Nr 2 S 13; SozR 3-4100 § 55a Nr 4 S 23; SozR 4-4300 § 57 Nr 2 RdNr 12; SozR 4-4300 § 158 Nr 4 RdNr 15 ff). Insofern geht die Argumentation des LSG, es dürfe nicht auf ein "fiktives" Alg abgestellt werden (vgl hierzu Bayerisches LSG, Urteil vom 30.4.2008, L 10 AL 360/07, juris RdNr 15), an der eigentlichen Problematik vorbei. Die entscheidende Frage ist, welcher Betrag "als Arbeitslosengeld" iS des § 58 Abs 1 SGB III bezogen worden und damit zu berücksichtigen ist.

Dass für die Höhe des Gründungszuschusses im Regelfall der bewilligte Leistungssatz ohne Minderung durch Nebeneinkommen maßgebend sein muss, folgt insbesondere aus Sinn und Zweck der §§ 57 und 58 SGB III . Mit der Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit durch Gründungszuschuss verfolgt der Gesetzgeber den Zweck, den Lebensunterhalt des Existenzgründers zu sichern und insoweit das infolge der Existenzgründung "wegfallende" Alg zu kompensieren (vgl BT-Drucks 16/1696 S 30 zu § 57 Abs 1; vgl Urteil des Senats vom 5.5.2010, B 11 AL 11/09 R, zur Veröffentlichung vorgesehen, RdNr 16; vgl auch zum Existenzgründungszuschuss gemäß § 421l SGB III : BSGE 99, 240 = SozR 4-4200 § 11 Nr 8, jeweils RdNr 17 ff). Der darüber hinaus nach § 58 Abs 1 SGB III zusätzlich zu leistende Betrag von 300 Euro dient der sozialen Absicherung des Existenzgründers (BT-Drucks 16/1696 S 31 zu § 58). Soweit die Höhe des Gründungszuschusses an der Höhe des letzten Alg-Bezugs auszurichten ist, bedarf es somit, worauf die Revision zu Recht hinweist, eines Vergleichs zwischen zwei Haushalts- bzw Einkommenslagen, nämlich derjenigen zur Zeit des letzten Alg-Bezugs und derjenigen nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit (ähnlich zu § 24 Abs 2 Nr 1 SGB II: BSG SozR 4-4200 § 24 Nr 2 RdNr 19). Da die Einkommenssituation des Klägers zur Zeit des letzten Alg-Bezugs maßgeblich durch die Kombination von Alg und Nebeneinkommen geprägt war und das frühere Nebeneinkommen nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit mit Bezug eines Gründungszuschusses nicht mehr zur Verfügung steht, würde allein ein Abstellen auf das wegen Anrechnung von Nebeneinkommen geminderte und wegfallende Alg das Ziel der Kompensation verfehlen (vgl zu § 24 Abs 2 Nr 1 SGB II: BSG SozR 4-4200 § 24 Nr 2 RdNr 20; vgl auch Stratmann in Niesel/Brand, SGB III , 5. Aufl 2010, § 58 RdNr 4).

Gegen eine Berücksichtigung nur des geminderten Alg spricht auch die Überlegung, dass Existenzgründer, die eine selbständige Tätigkeit zunächst im Rahmen einer Nebenbeschäftigung "ausprobieren" und danach zur Beendigung der Arbeitslosigkeit "ausweiten" wollen (vgl BSG SozR 4-4300 § 57 Nr 1 RdNr 11), von dieser Option Abstand nehmen könnten, wenn sie einen verminderten Gründungszuschuss befürchten müssten (so zutreffend Link in Eicher/Schlegel, SGB III , § 58 RdNr 26, Stand 2010). Insofern ist die Auslegung des LSG nicht mit dem Ziel des Gründungszuschusses, Arbeitnehmern einen Anreiz zur Beendigung der Arbeitslosigkeit zu bieten (vgl BT-Drucks 16/1696 S 30 zu § 57; Link, aaO, RdNr 10), zu vereinbaren.

Die Berechnung der Höhe des Gründungszuschusses unter Heranziehung des ungeminderten Alg ist ferner aus gesetzessystematischen Gründen geboten und vermeidet Wertungswidersprüche bzw mögliche Ungleichbehandlungen im Vergleich zu Existenzgründern, deren Anspruch nach § 57 SGB III nicht an den Bezug von Alg anknüpft (vgl hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.5.2009, L 19 AL 71/08, juris RdNr 20; Link, aaO, RdNr 26; Petzold in Hauck/Noftz, SGB III , § 58 RdNr 4, Stand 2009).

Bei dieser Gesetzesauslegung besteht schließlich auch kein Anlass, einem Antragsteller zu raten, kurz vor Auslaufen des Alg-Bezugs die Nebenbeschäftigung einzustellen, um damit "zuletzt" ein ungemindertes Alg beziehen zu können (vgl Winkler info also 2008, 267, 268). Dies zeigt gerade die vorliegende Fallgestaltung, in der sich der Kläger auch darauf beruft, er hätte bei richtiger Beratung durch die Beklagte im Monat Mai 2007 die Nebenbeschäftigung aufgegeben, womit ein anzurechnendes Nebeneinkommen entfallen wäre.

Da der Kläger die Nebenbeschäftigung mit der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit eingestellt hat, kann unentschieden bleiben, wie zu verfahren ist, wenn ein Existenzgründer die während des Alg-Bezugs ausgeübte Nebenbeschäftigung nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit fortsetzt (vgl dazu Link in Eicher/Schlegel, SGB III , § 58 RdNr 26, Stand 2010). Eine Anrechnung von Nebeneinkommen auf den Gründungszuschuss ist jedenfalls gesetzlich nicht vorgesehen (vgl § 57 Abs 3 SGB III ).

Nachdem der Klage bereits aus materiellrechtlichen Gründen stattzugeben ist, bedarf es keines Eingehens auf die Verfahrensrügen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, vom 16.07.2009 - Vorinstanzaktenzeichen L 13 AL 2074/08
Vorinstanz: SG Heilbronn, vom 26.02.2008 - Vorinstanzaktenzeichen S 5 AL 3613/07