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BGH - Entscheidung vom 21.09.2010

VIII ZB 14/09

Normen:
ZPO § 85 Abs. 2
ZPO § 233
ZPO § 234

Fundstellen:
BRAK-Mitt 2011, 34

BGH, Beschluss vom 21.09.2010 - Aktenzeichen VIII ZB 14/09

DRsp Nr. 2010/18877

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen des Fehlers eines Boten i.R.d. Einreichung einer Berufungsbegründung; Erfordernis einer regelmäßigen Überwachung eines Boten bei Ausführung von ausschließlich fehlerfreien Botengängen in der Vergangenheit

Einer Partei ist grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine geschulte und zuverlässige Kanzleikraft einen fristwahrenden Schriftsatz versehentlich beim falschen Gericht einwirft.

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der Zivilkammer 7 des Landgerichts Hildesheim vom 30. Dezember 2008 aufgehoben.

Der Klägerin wird gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Peine vom 11. August 2008 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: 744,10 €.

Normenkette:

ZPO § 85 Abs. 2 ; ZPO § 233 ; ZPO § 234 ;

Gründe

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung von 744,10 EUR nebst Zinsen in Anspruch. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Urteil vom 11. August 2008 ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 14. August 2008 zugestellt worden.

Mit Schriftsatz vom 15. September 2008, beim Landgericht eingegangen am selben Tag, einem Montag, hat die Klägerin Berufung eingelegt. Nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 14. November 2008 hat sie die Berufung mit Schriftsatz vom 14. November 2008 begründet. Dieser Schriftsatz trägt den Eingangsstempel des Landgerichts vom (Montag) 17. November 2008.

Nach einem Hinweis des Gerichts auf den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 28. November 2008, bei Gericht eingegangen am selben Tag, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Rechtfertigung ihres Wiedereinsetzungsgesuchs hat sie vorgetragen und durch die eidesstattlichen Versicherungen ihres Prozessbevollmächtigten sowie dessen als Bote eingesetzten Mitarbeiters H. folgendes glaubhaft gemacht:

Am 14. November 2008 gegen 15.00 Uhr habe ihr Prozessbevollmächtigter dem Boten den an das Landgericht adressierten Schriftsatz mit der Berufungsbegründung in dieser Sache sowie einen weiteren Schriftsatz an das im selben Ort gelegene Amtsgericht in einer Insolvenzangelegenheit übergeben. Der Bote habe die Kanzlei mit den beiden in Fensterkuverts "eingetüteten" Schriftsätzen kurze Zeit später im Beisein ihres Prozessbevollmächtigten verlassen. Zuvor sei er von diesem ermahnt worden, darauf zu achten, dass er persönlich jeden der beiden Umschläge nur in den Briefkasten des in der Adresse aufgeführten Gerichts einwerfe. Ihr Prozessbevollmächtigter habe sich vergewissert, dass sich der Bote H. der Tragweite des richtigen Zugangs bewusst gewesen sei. Der Bote H. sei seit dem 1. Dezember 2007 in dessen Kanzlei tätig und seither für sämtliche Botengänge zuständig, und zwar sowohl für sämtliche Gerichts- und Behördenpost als auch für Wege zu Banken einschließlich der Einzahlung und Entgegennahme von Geldern. Der Mitarbeiter H. sei in jeder Hinsicht zuverlässig und arbeite insbesondere im Rahmen der Botengänge fehlerfrei.

Am Morgen des 17. November 2008 habe der Bote ihrem Prozessbevollmächtigten bestätigt, dass er die Schriftsätze ordnungsgemäß eingeworfen habe. Nachdem ihr Prozessbevollmächtigter durch das Berufungsgericht auf den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung aufmerksam gemacht worden sei, habe er den Boten H. nochmals befragt. Auf Nachhaken habe der Bote ihm erklärt, dass er sich "ziemlich sicher" sei, den Schriftsatz in den richtigen Briefkasten geworfen zu haben, nunmehr aufgrund des Stempelaufdrucks vom 17. November 2008 jedoch nicht mehr "hundertprozentig sicher" sei, ob er den Schriftsatz in den richtigen Briefkasten eingeworfen habe. Da der in der Insolvenzangelegenheit an das Amtsgericht gerichtete Schriftsatz dort mit dem Datum vom 14. November 2008 abgestempelt worden sei, sei nicht auszuschließen, dass der Bote H. trotz seiner bisherigen einjährigen fehlerfreien Botentätigkeit den Schriftsatz für das Landgericht versehentlich in den Briefkasten des Amtsgerichts eingeworfen habe.

II.

Das Landgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe nicht die Rechtzeitigkeit des Eingangs der Berufungsbegründung am 14. November 2008 nachweisen können.

Wiedereinsetzung könne der Klägerin nicht gewährt werden. Soweit die Klägerin den Wiedereinsetzungsantrag damit begründe, dem ansonsten zuverlässigen Boten als Anwaltsgehilfen ihres Prozessbevollmächtigten sei ein Fehler unterlaufen, fehle es an einem glaubhaft gemachten Vorbringen zu der erforderlichen regelmäßigen Überwachung desselben.

III.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde. Sie macht geltend, das Berufungsgericht habe die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts hinsichtlich der Organisation seiner Kanzlei in Bezug auf die Übermittlung ausgehender Schriftsätze an die örtlichen Gerichte durch einen Boten überspannt. Die Wiedereinsetzung scheitere nicht am Fehlen eines glaubhaft gemachten Vorbringens der Klägerin in Bezug auf eine regelmäßige Überwachung des Boten durch ihren Prozessbevollmächtigten. Einer solchen Überwachung bedürfe es jedenfalls dann nicht, wenn -wie hier -der Bote über den Zeitraum eines Jahres alle ihm aufgetragenen Botengänge fehlerfrei ausgeführt habe, sein Aufgabenkreis auch die Übermittlung der für die ortsansässigen Gerichte bestimmten Schriftstücke umfasst habe und er im konkreten Fall lediglich unmissverständlich formulierte Anweisungen auszuführen gehabt habe.

IV.

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1.

Die gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO ). Die Entscheidung des Berufungsgerichts beruht auf einer Würdigung, die der Klägerin den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert. Dies verletzt den Anspruch der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. BVerfGE 69, 381 , 385; 88, 118, 123 f.; BVerfG, NJW-RR 2002, 1004 ; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2004 - II ZB 18/03, NJW-RR 2005, 75 unter II 2).

2.

Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

Der Klägerin ist auf ihr rechtzeitig angebrachtes Gesuch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts beruht die Fristversäumung nach den glaubhaft gemachten Angaben der Klägerin nicht auf einem - ihr nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbaren - Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten, sondern allein auf einer fehlerhaften Erledigung der dessen Büropersonal zulässigerweise übertragenen Aufgabe.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist einer Partei grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine geschulte und zuverlässige Kanzleikraft einen fristwahrenden Schriftsatz versehentlich beim falschen Gericht einwirft (Senatsbeschluss vom 11. September 2007 - VIII ZB 114/05, FamRZ 2008, 142 Rn. 8). Bei dem Botengang handelt es sich um eine einfache Tätigkeit, mit der ein Rechtsanwalt auch einen Auszubildenden oder einen zuverlässigen Praktikanten betrauen darf, sofern von der beauftragten Person eine gewissenhafte Ausführung des Auftrags erwartet werden kann (Senatsbeschluss vom 11. September 2007 - VIII ZB 114/05, aaO Rn. 10 mwN). Dies war hier der Fall. Nach dem durch eidesstattliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin glaubhaft gemachten Vortrag hat der Bote H. sich in der bis dahin einjährigen Tätigkeit in dessen Kanzlei als zuverlässig erwiesen und fehlerfrei alle Botengänge einschließlich der Überbringung von Post zu Gerichten und Behörden ausgeführt. Danach war der Mitarbeiter H. eine für einfache Tätigkeiten wie Botengänge geeignete Person, bei der sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin darauf verlassen durfte, dass er den ihm übertragenen Botengang zuverlässig erledigen werde. Zudem war der Bote von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin unmittelbar vor Ausführung des Botengangs nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass der fristwahrende Schriftsatz für das Berufungsgericht nur in den Nachtbriefkasten des Landgerichts einzuwerfen sei. Damit fehlt es an einem Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten. Ein Verschulden allein des Boten H. bei der Beförderung des Briefes ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht anzulasten (BGH, Urteil vom 2. November 2006 - III ZR 10/06, NJW 2007, 603 Rn. 7).

3.

Die angefochtene Entscheidung ist somit aufzuheben. Da weitere Feststellungen entbehrlich sind, ist der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gemäß §§ 233 , 234 ZPO zu gewähren.

Vorinstanz: LG Hildesheim, vom 30.12.2008 - Vorinstanzaktenzeichen 7 S 194/08
Vorinstanz: AG Peine, vom 11.08.2008 - Vorinstanzaktenzeichen 18 C 13/08
Fundstellen
BRAK-Mitt 2011, 34