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BGH - Entscheidung vom 29.07.2010

Xa ZR 69/06

Normen:
GG Art. 103 Abs. 1

BGH, Beschluss vom 29.07.2010 - Aktenzeichen Xa ZR 69/06

DRsp Nr. 2010/14886

Vereinbarkeit einer unterschiedlichen Beurteilung einer erfinderischen Tätigkeit durch das Gericht im Gegensatz zu einem Sachverständigen mit dem rechtlichen Gehör

Die Anhörungsrüge gegen das Urteil des Senats vom 15. April 2010 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Normenkette:

GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe

Die Anhörungsrüge ist teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet.

1.

Dass der Senat die Frage der erfinderischen Tätigkeit anders beurteilt hat als der gerichtliche Sachverständige, stellt entgegen der Auffassung der Beklagten keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG dar. Ob sich der Gegenstand einer Erfindung für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt, ist eine Rechtsfrage (BGH, Urteil vom 7. März 2006 - X ZR 213/01, BGHZ 166, 305, 311 - Vorausbezahlte Telefongespräche mwN).

2.

Soweit die Beklagte geltend macht, der Senat habe eine Überraschungsentscheidung getroffen und sei abrupt von der etablierten Entscheidungspraxis abgewichen, ist ihre Rüge bereits unzulässig. Die Beklagte zeigt nicht auf, was sie ergänzend vorgetragen hätte, wenn sie auf die von ihr geltend gemachte Abweichung von früheren Entscheidungen aufmerksam gemacht worden wäre. Unabhängig davon ist der Senat in seinem Urteil von denselben Grundsätzen zur Beurteilung der Patentfähigkeit ausgegangen, die auch den von der Beklagten angeführten Entscheidungen zu Grunde liegen.

3.

Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Senat bei der Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen kein entscheidungserhebliches Vorbringen der Beklagten übergangen.

a)

Der Senat hat berücksichtigt, dass es bei der Internet-Telefonie als nicht akzeptabel angesehen wird, wenn die Verzögerungszeit bei der Übertragung von Datenpaketen mehr als eine halbe Sekunde beträgt (Rn. 17, 96 f.). Seine Beurteilung, dass nach der Lehre des Streitpatents auch Störungen hinnehmbar sein können, die einige Sekunden dauern (Rn. 43), steht dazu nicht in Widerspruch. Diese Erwägungen beruhen auf der -ausdrücklich wiederholten -Annahme, dass bei Telefongesprächen schon geringfügige Zeitverzögerungen zu hörbaren Qualitätseinbußen führen können. Sie befassen sich mit der davon zu unterscheidenden Frage, wie lange eine solche Störung - beispielsweise die Übertragung von Datenpaketen mit einer Verzögerungszeit von 600 Millisekunden - andauert, bevor auf eine zuverlässigere, aber teurere Verbindung gewechselt wird.

b)

Der Senat hat in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt, dass die anderen von ihm angeführten Methoden zur Ermittlung der Qualität der Datenübertragung weniger genau sind und nur grobe Anhaltspunkte liefern (Rn. 43). Dass er auf dieser Grundlage Patentanspruch 1 des Streitpatents abweichend von der Auffassung der Beklagten und des gerichtlichen Sachverständigen ausgelegt hat, stellt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.

c)

Der Senat hat den Vortrag der Beklagten, was als individuelle Kommunikationsverbindung im Sinne des Streitpatents zu verstehen ist, berücksichtigt (Rn. 35). Entgegen der Auffassung der Beklagten hat er festgestellt, dass im Stand der Technik Lösungen bekannt waren, bei denen während einer solchen Verbindung zwischen paket- und leitungsorientierter Übertragung gewechselt wird (Rn. 48).

d)

Der Senat hat berücksichtigt, dass die Datenübertragung nach der Lehre des Streitpatents zwischen zwei bestimmten Switches erfolgt. Er hat ausdrücklich dargelegt, wie der Ausdruck "Switch" im Sinne des Streitpatents zu verstehen ist (Rn. 26 f.), und ist auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis gelangt, dass eine solche Einrichtung auch bei der in NK22 offenbarten Lösung eingesetzt wird (Rn. 77). Dass dies von der Bewertung durch die Beklagte und den gerichtlichen Sachverständigen abweicht, stellt keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar. Die Auslegung eines Patentanspruchs ist eine Rechtsfrage (BGH, Urteil vom 13. Februar 2007 - X ZR 74/05, BGHZ 171, 120 Rn. 18 - Kettenradanordnung mwN).

e)

Der Senat hat berücksichtigt, dass es zwischen Praktikern aus dem Bereich der öffentlichen Fernmeldenetze einerseits und dem Bereich der Internet- und LAN-Technologie andererseits traditionell eine Kluft gab, die am Prioritätstag noch nicht überwunden war (Rn. 85, 92). Seine Beurteilung, dass am Prioritätstag dennoch Anlass bestand, sich mit vorhandenen Lösungen aus dem jeweils anderen Bereich zu befassen (Rn. 86), ist entgegen der Auffassung der Beklagten keine Tatsachenfeststellung, sondern die rechtliche Bewertung des maßgeblichen Sachverhalts. Der Senat hat dabei nicht übersehen, dass die Internet-Telefonie ausschließlich im IP-Bereich erfolgte.

f)

Der Senat hat das Vorbringen der Beklagten berücksichtigt, dass bei der in NK22 offenbarten Lösung nur das Verkehrsaufkommen des paketvermittelten Netzes insgesamt, nicht aber die Qualität einer individuellen Kommunikationsverbindung betrachtet wird (Rn. 88). Er hat diesem Umstand bei der Beurteilung der Patentfähigkeit keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen und damit eine von der Auffassung der Beklagten abweichende rechtliche Bewertung vorgenommen.

g)

Der Senat hat das Vorbringen der Beklagten berücksichtigt, dass die X.25-Übertragung über den D-Kanal nicht die für Internet-Telefonie erforderliche Bandbreite bietet (Rn. 93). Er hat aus diesem Umstand abweichende rechtliche Schlussfolgerungen gezogen, weil in NK14 und NK24 auch für die paketvermittelte Übertragung ein ISDN-B-Kanal eingesetzt wird (Rn. 56) und weil das entscheidende Kriterium für das Wechseln zur leitungsvermittelten Übertragung nach der Lehre des Streitpatents nicht die zur Verfügung stehende Bandbreite, sondern eine Änderung hinsichtlich Zeitverzögerung oder Rauschanteil darstellt (Rn. 93).

h)

Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Senat nicht unterstellt, dass der maßgebliche Fachmann keine umfangreiche Berufserfahrung hat. Dieser Aspekt bedurfte im Urteil keiner ausdrücklichen Erwähnung, weil er zwischen den Parteien nicht in Streit stand und auch aus Sicht des Senats selbstverständlich war.

i)

Die im Beweisbeschluss und im Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen aufgeführten Hilfskriterien zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bedurften im Streitfall keiner ausdrücklichen Erwähnung. Diese Hilfskriterien können eine erfinderische Tätigkeit für sich genommen weder begründen noch ersetzen. Sie können lediglich im Einzelfall Anlass geben, die im Stand der Technik bekannten Lösungen besonders kritisch darauf zu überprüfen, ob sie vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens hinreichende Anhaltspunkte für ein Naheliegen des Gegenstands der Erfindung bieten und nicht erst aus Ex-post-Sicht eine zur Erfindung führende Anregung zu enthalten scheinen (BGH, Urteil vom 30. Juli 2009 - Xa ZR 22/06, GRUR 2010, 44 Rn. 29 - Dreinahtschlauchfolienbeutel mwN). Im Streitfall bestand ein solcher Anlass nicht.

j)

Der Senat hat nicht übersehen, dass in Patentanspruch 17 unter anderem auch eine Einrichtung zur Komprimierung und Dekomprimierung von Daten vorgesehen ist. Er hat diesem Merkmal keine ausschlaggebende Bedeutung für die Beurteilung der Patentfähigkeit beigemessen. Einer besonderen Erwähnung dieses Merkmals in den Entscheidungsgründen bedurfte es nicht. Auch die Anhörungsrüge zeigt keinen Tatsachenvortrag auf, der Anlass zu einer eingehenderen Erörterung hätte geben können.

Vorinstanz: BPatG, vom 05.04.2006 - Vorinstanzaktenzeichen 4 Ni 61/04 (EU)