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BGH - Entscheidung vom 18.02.2010

Xa ZR 166/07

Normen:
Verordnung Nr. 261/2004 Art. 5
Verordnung Nr. 261/2004 Art. 6
Verordnung Nr. 261/2004 Art. 7

BGH, Urteil vom 18.02.2010 - Aktenzeichen Xa ZR 166/07

DRsp Nr. 2010/4837

Ausgleichsanspruch wegen einer wie eine Annullierung zu behandelnden großen Verspätung eines Fluges

Auf die Revision der Klägerin wird das am 7. November 2007 verkündete Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt aufgehoben.

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 9. Mai 2007 verkündete Urteil des Amtsgerichts Rüsselsheim abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.200,-- Euro zuzüglich Verzugskosten in Höhe von 76,90 Euro zu zahlen, jeweils nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10. Juni 2006.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Von Rechts wegen

Normenkette:

Verordnung Nr. 261/2004 Art. 5; Verordnung Nr. 261/2004 Art. 6; Verordnung Nr. 261/2004 Art. 7 ;

Tatbestand

Die Klägerin verlangt von der beklagten Charterfluggesellschaft Ausgleichszahlungen nach Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (ABl. EG L 46 S. 1; im Folgenden: Verordnung).

Die Klägerin und ihr Ehemann, der seine Ansprüche an sie abgetreten hat, buchten bei einem Reiseveranstalter eine Pauschalreise nach Kenia. Der Flug von Frankfurt am Main nach Mombasa und zurück wurde von der Beklagten durchgeführt. Der für den 3. Februar 2006 gebuchte Rückflug erfolgte erst am nächsten Tag. Die Klägerin und ihr Ehemann kamen etwa 20 Stunden später als geplant in Frankfurt an. Die Klägerin verlangt deshalb eine Ausgleichszahlung in Höhe von 600,-- Euro pro Person.

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren in vollem Umfang weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren mit Beschluss vom 21. Oktober 2008 im Einverständnis mit den Parteien bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in der Vorlagesache X ZR 95/06 ausgesetzt. In diesem Vorlageverfahren hat der Gerichtshof mit Urteil vom 19. November 2009 (C-402/07, RRa 2009, 282 = NJW 2010, 43 ) wie folgt entschieden:

1.

Art. 2 Buchst. l sowie die Art. 5 und 6 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 sind dahin auszulegen, dass ein verspäteter Flug unabhängig von der - auch erheblichen - Dauer der Verspätung nicht als annulliert angesehen werden kann, wenn er entsprechend der ursprünglichen Flugplanung des Luftfahrtunternehmens durchgeführt wird.

2.

Die Art. 5, 6 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 sind dahin auszulegen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und somit den in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen. Eine solche Verspätung führt allerdings dann nicht zu einem Ausgleichsanspruch zugunsten der Fluggäste, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, also auf Umstände, die von dem Luftfahrtunternehmen tatsächlich nicht zu beherrschen sind.

3.

Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ist dahin auszulegen, dass ein bei einem Flugzeug aufgetretenes technisches Problem, das zur Annullierung oder Verspätung eines Fluges führt, nicht unter den Begriff "außergewöhnliche Umstände" im Sinne dieser Bestimmung fällt, es sei denn, das Problem geht auf Vorkommnisse zurück, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur antragsgemäßen Verurteilung der Beklagten.

I.

Die Annahme des Berufungsgerichts, die Voraussetzungen für die begehrten Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung seien nicht erfüllt, hält der Nachprüfung nicht stand.

1.

Eine Annullierung des Flugs im Sinne von Art. 5 der Verordnung hat allerdings, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, nicht stattgefunden. Nach dem Urteil des Gerichtshofs kann ein verspäteter Flug unabhängig von der - auch erheblichen - Dauer der Verspätung nicht als annulliert angesehen werden, wenn er entsprechend der ursprünglichen Flugplanung des Luftfahrtunternehmens durchgeführt wird (aaO Tz. 39). So verhält es sich im Streitfall. Der Flug von Mombasa nach Frankfurt ist nach den Feststellungen der Vorinstanzen trotz der eingetretenen Verzögerung entsprechend der ursprünglichen Flugplanung durchgeführt worden. Ob die Verfahrensrügen, die die Revision hiergegen richtet, zulässig sind, kann dahinstehen.

2.

Hierauf kommt es nicht an, da wegen des wesentlich verspäteten Abflugs gleichwohl ein Anspruch auf die in Art. 7 der Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung in Betracht kommt.

a)

Der Flug hat einen Tag später als geplant begonnen; die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 der Verordnung für die Annahme einer von der Verordnung erfassten (großen) Verspätung lagen daher ohne weiteres vor.

b)

In einem solchen Fall steht dem Fluggast, sofern auch die weiteren Voraussetzungen für eine Ausgleichsleistung erfüllt sind, der in Art. 7 der Verordnung vorgesehene Ausgleichsanspruch zu, wenn er wegen des verspäteten Fluges sein Endziel nicht früher als drei Stunden nach der ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreicht (EuGH aaO Tz. 61). Auch diese Voraussetzung ist ohne weiteres erfüllt, denn das Endziel der Reisenden wurde etwa 20 Stunden später als geplant erreicht. Damit liegen im Streitfall die vom Gerichtshof aufgestellten Anforderungen für einen Ausgleichsanspruch wegen einer wie eine Annullierung zu behandelnden großen Verspätung vor.

II.

Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, da der Rechtsstreit auf der Grundlage des vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts zur Endentscheidung reif ist.

1.

Der Ausgleichsanspruch ist nicht entsprechend Art. 5 Abs. 3 der Verordnung ausgeschlossen. Außergewöhnliche Umstände, die der Entstehung eines Ausgleichsanspruchs entgegenstehen könnten, sind nicht vorgetragen.

Entgegen der von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung besteht auch keine Veranlassung, den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um der Beklagten Gelegenheit zu geben, zu den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung vorzutragen. Die Parteien haben in den Tatsacheninstanzen darüber gestritten, ob die Beklagte im Streitfall zu einer Ausgleichszahlung wegen Annullierung des Flugs verpflichtet ist. Die Beklagte war demgemäß gehalten, auch zu den Voraussetzungen vorzutragen, unter denen die Verpflichtung zu einer solchen Ausgleichszahlung ausgeschlossen ist, wenn sie sich damit verteidigen wollte. Für den Ausgleichsanspruch wegen großer Verspätung gelten keine anderen Voraussetzungen.

2.

Die Beklagte ist deshalb verpflichtet, eine Ausgleichszahlung in der in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung bestimmten Höhe von 600,-- Euro pro Person zu erbringen. Der geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus § 291 und § 288 Abs. 1 BGB , der Anspruch auf Ersatz nach Verzugseintritt entstandener vorgerichtlicher Anwaltskosten, deren Höhe unstreitig ist, beruht auf § 280 und § 286 BGB .

3.

Zu der von der Beklagten angeregten Vorlage der Sache an den Gerichtshof der Europäischen Union sieht der Senat keine Veranlassung.

Der Bundesgerichtshof hat dem Gerichtshof die Streitsache X ZR 95/06 zur Vorabentscheidung vorgelegt, weil er es nicht für zweifelsfrei gehalten hat, dass den Fluggästen eines wesentlich verspäteten Fluges, wie er im Streitfall vorliegt, nach der Verordnung kein Anspruch auf Ausgleichszahlungen zusteht. Diese Unklarheit hinsichtlich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist dadurch beseitigt worden, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. November 2009 die Verordnung dahin ausgelegt hat, dass auch in einem solchen Fall Ausgleichsleistungen zu erbringen sind. Das Urteil selbst wirft jedenfalls keine für den Streitfall relevanten neuen Auslegungsfragen auf, die der Senat nicht ohne erneute Vorlage beantworten könnte.

Soweit sich das Urteil nicht ausdrücklich mit der Frage befasst, ob das vom Gerichtshof gefundene Auslegungsergebnis mit dem Montrealer Übereinkommen vereinbar ist, hat der Senat diese Frage bereits in seinem Urteil vom 10. Dezember 2009 ( Xa ZR 61/09) bejaht; daran hält er fest. Der Gerichtshof hat dies offenbar ebenso gesehen; dass er Art. 29 MÜ übersehen hätte, kann nicht angenommen werden.

Der Senat hat auch keine Zweifel an der Gültigkeit der Verordnung. Der Gerichtshof hat die Gültigkeit - anders als die Generalanwältin - bejaht (aaO Tz. 47). Für den von der Beklagten angenommenen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nichts Substantiiertes geltend gemacht.

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO .

Von Rechts wegen

Verkündet am: 18. Februar 2010

Vorinstanz: LG Darmstadt, vom 07.11.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 7 S 89/07
Vorinstanz: AG Rüsselsheim, vom 09.05.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 3 C 598/06