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BGH - Entscheidung vom 15.06.2010

4 StR 229/10

Normen:
BtMG § 35
JGG § 5 Abs. 3
JGG § 105 Abs. 1
StGB § 64
StPO § 357 S. 1

Fundstellen:
NStZ-RR 2010, 319

BGH, Beschluss vom 15.06.2010 - Aktenzeichen 4 StR 229/10

DRsp Nr. 2010/12960

Anforderungen an das Vorliegen eines Symptomwertes von Straftaten und Vorrang der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gegenüber einer Zurückstellung der Strafvollstreckung

1. Der Symptomwert der Taten ist bei § 64 StGB (schon) dann zu bejahen, wenn der Hang des Täters zu übermäßigem Rauschmittelkonsum neben anderen Umständen zu deren Begehung beigetragen hat.2. Hieran hat sich durch die Neufassung dieser Vorschrift nichts geändert.

1. Auf die Revision des Angeklagten E. wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 14. Januar 2010

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass dieser Angeklagte und der frühere Mitangeklagte L. im Fall 19 der Urteilsgründe jeweils des Diebstahls (statt eines schweren Bandendiebstahls) schuldig sind,

b) im Rechtsfolgenausspruch hinsichtlich des Angeklagten E. mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Auf die Revision des Angeklagten Ö. wird das vorbezeichnete Urteil

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass dieser Angeklagte im Fall 55 der Urteilsgründe des Diebstahls (statt eines schweren Bandendiebstahls) schuldig ist,

b) mit den Feststellungen aufgehoben im Ausspruch über die Einzelstrafe im Fall 55 der Urteilsgründe, im Gesamtstrafenausspruch und soweit eine Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

4. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.

Normenkette:

BtMG § 35 ; JGG § 5 Abs. 3 ; JGG § 105 Abs. 1 ; StGB § 64 ; StPO § 357 S. 1;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten E. wegen schweren Bandendiebstahls in 41 Fällen, wobei es in elf Fällen beim Versuch geblieben ist, und wegen versuchten Diebstahls zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren verurteilt; den Angeklagten Ö. hat es wegen schweren Bandendiebstahls in 21 Fällen, wobei es in fünf Fällen beim Versuch geblieben ist, und wegen Diebstahls in sieben Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch geblieben ist, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Hiergegen richten sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten; der Angeklagte Ö. rügt ferner die Verletzung formellen Rechts. Die Rechtsmittel haben mit der Sachrüge, auch hinsichtlich des früheren Mitangeklagten L. , in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO .

1.

Bei der rechtlichen Würdigung des Falles 19 der Urteilsgründe hat das Landgericht übersehen, dass es bereits vor Begehung dieser Tat zu einem Streit zwischen den Bandenmitgliedern gekommen war und der gesondert verfolgte B. aus der zuvor mit dem Angeklagten E. und dem früheren Mitangeklagten L. gebildeten Bande ausgeschieden war (zur Mindestzahl vgl. BGHSt 46, 321 ). Dementsprechend hat sich der Angeklagte E. in diesem Fall lediglich des Diebstahls (in einem besonders schweren Fall) gemäß § 242 Abs. 1 , § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 , 2 und 3 StGB schuldig gemacht.

Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert.

2.

Ebenfalls nicht belegt ist das für eine Verurteilung gemäß § 244 a StGB erforderliche Vorliegen einer aus mindestens drei Personen bestehenden Bande im Fall 55 der Urteilsgründe. Nach den Feststellungen brach der Angeklagte Ö. in diesem Fall "zusammen mit weiteren bislang nicht ermittelten Tätern" in ein Geschäftsgebäude ein.

Auch insoweit hat der Senat den Schuldspruch entsprechend abgeändert; er hat ferner die hiervon betroffene Einzelstrafe und die Gesamtstrafe aufgehoben.

3.

Das Urteil hält außerdem rechtlicher Prüfung nicht stand, soweit eine Entscheidung zur Frage der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB ) unterblieben ist.

a)

Nach den Feststellungen begann der Angeklagte E. im Jahre 2001 mit dem Konsum von Marihuana. Dies führte im Jahr 2005 zu einer mehrmonatigen Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine anschließende Jugendhilfemaßnahme musste wegen wiederholten Rückfalls in den Missbrauch von Rauschgift abgebrochen werden. Im Jahr "2007 bzw. 2008" begann er, auch Kokain zu schnupfen. Seinen Drogenkonsum versuchte er durch die abgeurteilten Diebstahlstaten zu finanzieren. Er möchte eine Therapie absolvieren.

Diese Sachlage legt nahe, dass die gegenständlichen Taten auf einen Hang des Angeklagten zurückgehen, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Der Angeklagte hat über einen längeren Zeitraum bis zu seiner Inhaftierung illegale Drogen konsumiert. Der Symptomwert der Taten ist (schon) dann zu bejahen, wenn der Hang des Täters zu übermäßigem Rauschmittelkonsum neben anderen Umständen zu deren Begehung beigetragen hat (BGH, Beschl. vom 16. September 2008 - 3 StR 312/08). So war es hier. Die Jugendkammer ist selbst davon ausgegangen, dass der Angeklagte die Taten auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, wie ihr Hinweis auf § 35 BtMG zeigt. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist aber gegenüber einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vorrangig (vgl. BGH, Beschl. vom 4. März 2009 - 2 StR 37/09, NStZ 2009, 441 m.w.N.). Daher hätte das Landgericht prüfen und entscheiden müssen, ob die Voraussetzungen des § 64 StGB gegeben sind. Hieran hat sich durch die Neufassung dieser Vorschrift nichts geändert (vgl. BGH, Beschl. vom 13. November 2007 - 3 StR 452/07, NStZ-RR 2008, 73 ). Den bisher getroffenen Feststellungen ist auch nicht zu entnehmen, dass die Maßregelanordnung jedenfalls deswegen ausscheiden müsste, weil es an der hinreichend konkreten Aussicht eines Behandlungserfolges (§ 64 Satz 2 StGB ) fehlt.

Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO ; vgl. BGHSt 37, 5 ). Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen.

Aus § 5 Abs. 3 , § 105 Abs. 1 JGG folgt, dass über die Verhängung von Jugendstrafe und die Anordnung der freiheitsentziehenden Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur auf Grund einheitlicher Betrachtung entschieden werden kann. Der Rechtsfolgenausspruch war daher in Bezug auf den Angeklagten E. insgesamt aufzuheben.

b)

Auch bei dem Angeklagten Ö. hätte die Frage der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erörtert werden müssen: Der Angeklagte begann als Jugendlicher mit dem Konsum von Cannabisprodukten. Anschließend schnupfte er auch Kokain. Den Konsum steigerte er "relativ schnell". Er musste Schulden machen, um seinen Drogenmissbrauch zu finanzieren; seiner Freundin entwendete er Geld zu diesem Zweck. Für die Zukunft plant er, seine Sucht zu bekämpfen. Auch bei diesem Angeklagten ist das Landgericht davon ausgegangen, dass er die Taten auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, wie der Hinweis auf § 35 BtMG zeigt. Es hätte daher prüfen müssen, ob die - vorrangige - Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen ist.

Bei dem Angeklagten Ö. ist das Urteil nur insoweit aufzuheben, als eine Entscheidung über die Maßregel nach § 64 StGB unterblieben ist. Der Senat schließt hingegen aus, dass das Landgericht ohne den aufgezeigten Rechtsfehler in den von der Schuldspruchänderung nicht betroffenen Fällen auf geringere Einzelstrafen erkannt hätte.

c)

Die Frage nach der Anordnung der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB bedarf mithin unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246 a Satz 2 StPO ) der Prüfung und Entscheidung durch ein neues Tatgericht.

4.

Die Änderung des Schuldspruchs im Fall 19 der Urteilsgründe ist gemäß § 357 Satz 1 StPO auf den nicht revidierenden früheren Mitangeklagten L. , den Mittäter des Angeklagten E. in diesem Fall, zu erstrecken. Das Landgericht hat L. zu der im Blick auf den in seinen Taten hervorgetretenen Erziehungsbedarf sehr milden Jugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten mit Bewährung verurteilt; der Senat schließt aus, dass der Tatrichter diesen Angeklagten ohne den aufgezeigten Rechtsfehler zu einer noch milderen Strafe verurteilt hätte.

Vorinstanz: LG Bielefeld, vom 14.01.2010
Fundstellen
NStZ-RR 2010, 319