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BGH - Entscheidung vom 23.03.2010

5 StR 556/09

Normen:
JGG § 18 Abs. 2

Fundstellen:
NStZ-RR 2010, 290

BGH, Urteil vom 23.03.2010 - Aktenzeichen 5 StR 556/09

DRsp Nr. 2010/6592

Abwägungskriterien für eine Änderung der Höhe einer verhängten Jugendstrafe bei einer Revision; Relevanz der Erziehungswirksamkeit einer Sanktion für die Strafzumessung

1. Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Jugendstrafe so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist.2. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Erziehungswirksamkeit als einziger Gesichtspunkt bei der Strafzumessung heranzuziehen ist. Vielmehr sind daneben auch andere Strafzwecke, bei Kapitalverbrechen namentlich das Erfordernis gerechten Schuldausgleichs, zu beachten.3. Erziehungsgedanke und Schuldausgleich stehen regelmäßig nicht im Widerspruch. Zumeist stehen sie miteinander im Einklang, da die charakterliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, nicht nur für das Erziehungsbedürfnis, sondern auch für die Bewertung der Schuld von Bedeutung sind.

1. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 15. September 2009 wird verworfen.

2. Von der Auferlegung von Kosten und Auslagen wird abgesehen.

- Von Rechts wegen -

Normenkette:

JGG § 18 Abs. 2 ;

G r ü n d e

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung und Aussetzung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt. Der mit der Sachrüge geführten Revision der Angeklagten bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt. Näherer Betrachtung bedarf nur der Ausspruch über die Höhe der verhängten Jugendstrafe.

1.

Nach den Feststellungen des Landgerichts liefen die zur Tatzeit 14 Jahre alte, stark alkoholisierte Angeklagte und die Geschädigte zusammen mit mehreren Freunden an einem kalten Abend des Januar 2009 eine Bundesstraße entlang. In der Nähe einer Bushaltestelle führte die Angeklagte die Gruppe auf einen kleinen Feldweg, der an ein großes brach liegendes Feld grenzte.

Die Angeklagte begann die Geschädigte, ihre ehemals beste Freundin J. , von den anderen wegzudrängen und machte ihr Vorwürfe, sie habe Lügengeschichten, vor allem, was ihr Verhältnis zu Jungen angeht, verbreitet. J. bestritt dies. Im weiteren Verlauf schubste die Angeklagte die Geschädigte, brachte sie zu Fall, schlug und trat nach ihr und warf ihr schließlich Schnee ins Gesicht. J. wehrte sich zunächst nicht und hielt alles für einen groben Spaß. Als die Geschädigte aufstand, brachte die Angeklagte sie erneut zu Fall und setzte sich rittlings auf sie.

Während die Angeklagte massiv auf J. einschlug, verließen zwei Personen die Gruppe; lediglich die bereits rechtskräftig verurteilten L. und K. blieben etwa 10 Meter entfernt stehen und unterhielten sich. Obwohl die Geschädigte vor Schmerzen schrie und die beiden Jungen um Hilfe bat, schritten sie nicht ein. Vielmehr ging K. mehrmals zur Angeklagten, um ihr während des fortdauernden Schlagens und Tretens eine Flasche Bier zum Trinken zu bringen. Die Angeklagte schüttete einen Teil des Bieres der Geschädigten ins Gesicht und schlug ihr dann mit der leeren Flasche mehrfach auf Kopf und Körper. Nachdem es J. gelungen war, kurzzeitig aufzustehen und in Richtung der beiden Jungen zu laufen, um noch einmal um Hilfe zu bitten, riss die Angeklagte sie an den Haaren zurück, warf sie erneut zu Boden und misshandelte sie weiter.

Nach etwa einer halben Stunde zwang die Angeklagte die Geschädigte sich nackt auszuziehen, um sie in Gegenwart der Jungen weiter zu demütigen. Jedes einzelne Kleidungsstück, das J. ihr gab, warf sie weit von sich auf das Feld. Anschließend trat und schlug, wiederum mit einer Bierflasche, die Angeklagte erneut auf die - bei einer Lufttemperatur von minus zwei Grad Celsius und starkem Wind - nackt auf dem Boden liegende Geschädigte ein. Auf erneute Hilferufe reagierte die Angeklagte mit den Worten: "Hier wird Dir keiner helfen" (UA S. 16). Als L. gehen wollte, um noch etwas zum Trinken zu kaufen, sagte die Angeklagte, dass sie das hier in Ruhe zu Ende bringen wolle und noch fünf Minuten brauche.

Gegen 21.40 Uhr forderte sie L. auf, mit seinem Handy einen früheren Freund anzurufen, und erkundigte sich sodann bei diesem, ob J. sie bei ihm schlecht gemacht habe, was dieser Freund jedoch verneinte. Während des folgenden zwanzig Minuten dauernden Telefonats wurde das Telefon mehrfach hin- und hergereicht, und L. berichtete dem Angerufenen über die weitere Entwicklung des Geschehens; er sagte unter anderem, dass er eigentlich noch Durst habe, aber die Angeklagte nicht mitkommen wolle und sie deshalb noch dableiben müssten. Die Angeklagte schrie dabei: "Du hast meine Beziehungen alle kaputt gemacht. Dafür musst Du jetzt büßen" (UA S. 17).

Als die Angeklagte genug hatte und dem Drängen der beiden Jungen nachgab, den Ort zu verlassen, rechneten alle drei mit der nahe liegenden Möglichkeit, dass J. nicht mehr in der Lage sein würde, selbständig Hilfe zu holen. Dennoch entschieden sie sich, die Geschädigte alleine auf dem Feld zurückzulassen und gemeinsam zur Bushaltestelle zu gehen. Kurz vor Erreichen der Haltestelle kehrte die Gruppe auf Veranlassung der Angeklagten um, weil sie noch einmal nach der Geschädigten sehen wollten. Die Angeklagte setzte um 22.38 Uhr einen Notruf ab und kauerte sich hinter J. , um sie wieder aufzuwärmen.

Als die Geschädigte gegen 22.50 Uhr aufgefunden wurde, war sie nicht mehr ansprechbar. An ihrem Körper gab es keine Stelle, die nicht verletzt war. Im Krankenhaus wurde um 0.20 Uhr eine Körperkerntemperatur von 23,8 Grad Celsius gemessen. Die Überlebenschance der Geschädigten betrug weniger als zehn Prozent. Sie wurde noch drei Wochen im Krankenhaus behandelt.

2.

Die Jugendkammer hat die Grundlagen für die Verhängung von Jugendstrafe - in der Tat zum Ausdruck gekommene schädliche Neigungen und die Schwere der Schuld der Angeklagten (§ 17 Abs. 2 JGG ) - rechtsfehlerfrei angenommen. Auch die Bemessung der - freilich hohen (§ 18 Abs. 1 Satz 1 JGG ) - Jugendstrafe hält revisionsgerichtlicher Prüfung noch stand.

a)

Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Jugendstrafe so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Erziehungswirksamkeit als einziger Gesichtspunkt bei der Strafzumessung heranzuziehen ist. Vielmehr sind daneben auch andere Strafzwecke, bei Kapitalverbrechen namentlich das Erfordernis gerechten Schuldausgleichs, zu beachten. Das Gewicht des Tatunrechts muss auch gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Verurteilten abgewogen werden. Erziehungsgedanke und Schuldausgleich stehen regelmäßig nicht im Widerspruch. Zumeist - und so auch hier - stehen sie miteinander im Einklang, da die charakterliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, nicht nur für das Erziehungsbedürfnis, sondern auch für die Bewertung der Schuld von Bedeutung sind (vgl. BGH NStZ-RR 1996, 120; BGH, Urteil vom 23. Oktober 1997 - 5 StR 486/97).

Das Landgericht hat hiernach rechtlich zutreffend erzieherischen Gesichtspunkten den Vorrang vor dem Schuldausgleich eingeräumt (vgl. BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 4 und Schwere der Schuld 1; § 18 Abs. 2 Tatumstände 2; Eisenberg, JGG 13. Aufl. § 18 Rdn. 13, 22).

b)

Nach der Urteilsbegründung ist die Angeklagte schon im strafunmündigen Alter mehrfach wegen Verdachts des Diebstahls und der Körperverletzung polizeilich in Erscheinung getreten. In den letzten fünf Monaten vor der Tat kam es zu einer vollständigen Schulverweigerung. Sie verbrachte "die Werktage meist zu Hause, schlief bis 10 oder 11 Uhr und beschäftigte sich dann etwa vier bis fünf Stunden täglich mit Computerspielen oder Internetaktivitäten. In den frühen Abendstunden traf sie sich dann mit Bekannten ... Ebenso verliefen die Wochenenden, wobei es hier verstärkt zum Alkoholkonsum kam." In den letzten beiden Monaten vor der Tat wurde sie viermal in alkoholisiertem Zustand (Atemalkoholkonzentration zwischen 1,0 und 1,56 ‰) von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht. Bemühungen des Jugendamtes, sie in verschiedene Präventionsprojekte zu integrieren, blieben ebenso erfolglos wie der Einsatz einer Familienhelferin. Nach der Tat befand sie sich zunächst für rund fünf Wochen in Untersuchungshaft. Anschließend wurde sie nach § 71 Abs. 2 JGG in einer Einrichtung zur Untersuchungshaftvermeidung untergebracht, musste aber nach zwei Monaten, weil sie sich der pädagogischen Einzelbetreuung entzog und zunehmend die Regel- und Rahmenbedingungen verletzte, in einem Kinder- und Jugendheim untergebracht werden. Nachdem sie dort dreimal entwichen war, wurde sie erneut in Untersuchungshaft genommen.

Die Jugendkammer ist dem psychiatrischen Sachverständigen darin gefolgt, dass bei der Angeklagten zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar kein krankhafter psychischer Zustand vorliege. Allerdings gebe es deutliche Merkmale in der Persönlichkeit der Angeklagten, die, wenn nicht entsprechend konsequent und nachhaltig erzieherisch entgegengewirkt werde, die Entwicklung zu einer dissozialen Persönlichkeit befürchten ließen. Grenzen sowie die Notwendigkeit der Einhaltung gewisser Regeln und Normen seien ihr bislang ebenso wenig vermittelt worden wie das Bestehen von Pflichten. Diese Erziehungsversäumnisse seien letztlich mitursächlich für die Tat. Die Aggressionsschwelle sei bei der Angeklagten sehr niedrig. Prognostisch erschwerend seien auch die kaum wahrnehmbare Reue der Angeklagten und ihre emotionale Unberührtheit.

Bei der Strafzumessung sind zugunsten der Angeklagten gewertet worden ihr umfassendes Geständnis, ihr Versuch, sich bei der Geschädigten zu entschuldigen, dass sie den Notruf abgesetzt und versucht hat, die Geschädigte warm zu halten, erst 14 Jahre alt war und durch Alkohol ihre Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war. Straferschwerend wurden die erheblichen Verletzungen und die Demütigung der Geschädigten gewertet.

Entscheidendes Gewicht hat die Jugendkammer dem erheblichen Erziehungsbedarf beigemessen. Das Landgericht folgt der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen, dass die Angeklagte in ein System von hoher Strukturierung und strikten Regeln überführt werden müsse. Sie benötige daneben unbedingt psychotherapeutische Behandlung, um eine "Mentalisierung und ein Interesse an anderen Mitmenschen bei ihr zu initialisieren" (UA S. 51). Dies alles könne auch mittelfristig nicht unter ambulanten oder Heimbedingungen erreicht werden. Nach Überzeugung der Jugendkammer bestehe - auch belegt durch die fehlende Bereitschaft der Angeklagten, sich den Bedingungen von zwei Einrichtungen zur Vermeidung von Untersuchungshaft zu unterwerfen - ein erheblicher langjähriger Erziehungsbedarf unter Jugendhaftbedingungen. Es werde bereits geraume Zeit in Anspruch nehmen, bis die Angeklagte begreife, dass sie an sich arbeiten müsse und Regeln einzuhalten habe. Erst wenn sie dazu bereit sei, könne mit der eigentlichen Aufarbeitung ihrer Defizite begonnen werden. Auch müsse ein langfristiger Schulbesuch gewährleistet werden.

c)

Der Senat entnimmt diesen Darlegungen eine noch ausreichende, den Anforderungen des § 54 JGG entsprechende Gesamtwürdigung der Angeklagten (vgl. BGH StV 1993, 531 [3 StR 591/92]; Schoreit in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG 5. Aufl. § 54 Rdn. 25; Brunner/Dölling, JGG 11. Aufl. § 18 Rdn. 7a).

Der Senat besorgt ferner nicht, dass in dem hier vorliegenden Fall der sogar zunächst nicht gegebenen Erziehungsfähigkeit der Angeklagten die festgesetzte hohe Jugendstrafe den Zeitraum sinnvoll anzuwendender pädagogischer Mittel des Jugendstrafvollzugs überschreiten könnte (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 258 , 259).

d)

Die in der Tat deutlich gewordene Fehlentwicklung der Persönlichkeit der Angeklagten begründet offensichtlich hohen Therapie- und damit einhergehend hohen Erziehungsbedarf. Der Jugendstrafvollzug wird gefordert sein, wirksame therapeutische Maßnahmen zur Beeinflussung der Persönlichkeit der Angeklagten zu finden und anzuwenden, um möglichst zeitnah die Voraussetzungen für eine Aussetzung nach § 88 Abs. 1 JGG zu schaffen.

Von Rechts wegen

Fundstellen
NStZ-RR 2010, 290