Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BAG - Entscheidung vom 07.07.2010

4 AZR 537/08

Normen:
GG Art. 9 Abs. 3
ArbGG § 45 Abs. 3
ArbGG § 45 Abs. 4
BGB § 613a Abs. 1 S. 2
BetrVG § 87 Abs. 1 Einleitungssatz
TVG § 1 Abs. 1 S. 1
TVG § 3 Abs. 1
TVG § 3 Abs. 2
TVG § 4 Abs. 1
Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) § 47 Abs. 2 Unterabschn. 1
Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst in der für den Bereich der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände geltenden Fassung (TVöD-VKA) § 21 Abs. 1 S. 2
GG Art. 9 Abs. 3
ArbGG § 45 Abs. 3
ArbGG § 45 Abs. 4
BGB § 613a Abs. 1 S. 2
BetrVG § 87 Abs. 1 Einleitungssatz
TVG § 1 Abs. 1 S. 1
TVG § 3 Abs. 1
TVG § 3 Abs. 2
TVG § 4 Abs. 1
Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) § 47 Abs. 2 Unterabschn. 1
Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst in der für den Bereich der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände geltenden Fassung (TVöD-VKA) § 21 Abs. 1 S. 2

BAG, Urteil vom 07.07.2010 - Aktenzeichen 4 AZR 537/08

DRsp Nr. 2010/14343

Aufgabe der Rechtsprechung [BAGE 67, 330] in Bezug auf den Grundsatz der Tarifeinheit zu Gunsten einer Tarifpluralität wegen fehlender Rechtsgrundlage [Gewohnheitsrecht, Koalitionsfreiheit, einfachgesetzliche Regelungen]; Unmittelbare Geltung von Tarifnormen im Arbeitsverhältnis; Keine Verdrängung anderer tarifrechtlicher Regelungen; Keine Auflösung der Tarifkonkurrenz durch individualvertragliche Bezugnahme eines Tarifvertrages; Anwendung des Günstigkeitsprinzips; E-Mail als Erfüllung des Schriftlichkeitsgebots i.S. von § 70 Abs. 1 BAT [§ 126 BGB]

1. Die Rechtsnormen eines Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten nach § 3 Abs. 1 , § 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen eines Betriebes unmittelbar. Diese durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehene Geltung wird nicht dadurch verdrängt, dass für den Betrieb kraft Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 TVG mehr als ein Tarifvertrag gilt, für die jeweiligen Arbeitsverhältnisse derselben Art im Falle der Tarifbindung eines oder mehrerer Arbeitnehmer allerdings jeweils nur ein Tarifvertrag - sogenannte Tarifpluralität. 2. Der Grundsatz der Tarifeinheit, der nach der bisherigen Rechtsprechung in Fällen der Tarifpluralität dazu führte, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Geltung beanspruchen konnte, kann weder auf eine gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsgrundlage noch auf übergeordnete Prinzipien der Rechtssicherheit oder der Rechtsklarheit gestützt werden. 3. Die Verdrängung bestehender Tarifverträge im Falle einer Tarifpluralität, an die die Arbeitsvertragsparteien nach § 3 Abs. 1 , § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar gebunden sind, kann mangels einer planwidrigen Gesetzeslücke nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung durch einen Grundsatz der Tarifeinheit begründet werden. Auch liegen die Voraussetzungen einer gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung nicht vor. 4. Einschränkungen der verfassungsrechtlich garantierten Betätigungsfreiheit der Koalitionen sind nur dann mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar, wenn sie entweder dem Schutz des jeweiligen Koalitionspartners und damit gerade der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie oder dem Schutz der Grundrechte Dritter dienen oder sie durch die Rücksicht auf andere Rechte mit Verfassungsrang gerechtfertigt sind. Nach diesen Maßstäben ist eine Verdrängung von nach den gesetzlichen Regelungen des Tarifvertragsgesetzes unmittelbar und zwingend geltenden Regelungen ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die individuelle und die kollektive Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG . 5. Weder dem Tarifvertragsgesetz noch dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG kann eine rechtlich verbindliche Vorgabe der betriebseinheitlichen Geltung von Tarifnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, entnommen werden. Die Ordnungsfunktion von Tarifverträgen ist entsprechend der von Verfassungs wegen vorgegebenen mitgliedschaftlichen Struktur der Koalitionen nach § 3 Abs. 1 , § 4 Abs. 1 TVG auf die unmittelbar Tarifgebundenen beschränkt. 6. Der Grundsatz einer betrieblichen Tarifeinheit ist kein verfassungsrechtliches Element der grundgesetzlich geschützten Tarifautonomie, welcher die Verdrängung von nach der bestehenden Gesetzeslage geltenden Rechtsnormen eines Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, begründen kann. Einer solchen Annahme steht entgegen, dass die Koalitionsfreiheit in erster Linie als Freiheitsgrundrecht strukturiert und auf einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Koalitionen angelegt ist. 7. Die individualvertragliche Bezugnahme eines Tarifvertrages begründet nicht dessen tarifrechtliche Geltung und kann daher nicht zu einer Tarifkonkurrenz führen. Die Bestimmungen eines vertraglich in Bezug genommenen Tarifvertrages können deshalb nicht im Wege der Auflösung einer Tarifkonkurrenz nach dem tarifrechtlichen Spezialitätsgrundsatz verdrängt werden. Dieses Verhältnis ist nach Maßgabe des Günstigkeitsprinzips des § 4 Abs. 3 TVG zu lösen. 8. Zur Wahrung des Schriftlichkeitsgebotes des § 70 Satz 1 BAT bedarf es nicht der Schriftform des § 126 Abs. 1 BGB . Die Geltendmachung eines Anspruchs zur Wahrung dieser tariflichen Ausschlussfrist ist kein Rechtsgeschäft, sondern rechtsgeschäftsähnliche Handlung, auf die § 126 Abs. 1 BGB auch nicht analog anzuwenden ist. 9. Für eine schriftliche Geltendmachung nach § 70 Satz 1 BAT ist die Einhaltung der Textform nach § 126b BGB ausreichend, aber auch erforderlich. Deshalb kann eine Geltendmachung zur Wahrung der tariflichen Ausschlussfrist auch durch eine E-Mail erfolgen, die den Aussteller zu erkennen gibt und durch eine Grußformel mit Namensangabe das Textende kenntlich macht.

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 26. Februar 2008 - 14 Sa 91/07 - wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

Normenkette:

GG Art. 9 Abs. 3 ; ArbGG § 45 Abs. 3 ; ArbGG § 45 Abs. 4 ; BGB § 613a Abs. 1 S. 2; BetrVG § 87 Abs. 1 Einleitungssatz; TVG § 1 Abs. 1 S. 1; TVG § 3 Abs. 1 ; TVG § 3 Abs. 2 ; TVG § 4 Abs. 1 ; Bundes-Angestelltentarifvertrag ( BAT ) § 47 Abs. 2 Unterabschn. 1; Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst in der für den Bereich der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände geltenden Fassung (TVöD-VKA) § 21 Abs. 1 S. 2;

Tatbestand:

Die Parteien streiten über einen tariflichen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Zahlung eines Aufschlags zur Urlaubsvergütung.

Die Klägerin, Mitglied des Marburger Bundes, war vom 1. Februar 2005 bis zum 30. September 2007 als Assistenzärztin bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte ist Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband (KAV). Dem Arbeitsverhältnis liegt der am 21. Januar 2005 geschlossene Arbeitsvertrag zugrunde, in dessen § 2 es heißt:

"Das Arbeitsverhältnis bemisst sich nach den Vorschriften des Bundesangestelltentarifvertrages vom 23. Februar 1961 ( BAT ) und den zur Ergänzung sowie Änderung abgeschlossenen bzw. künftig abzuschließenden Tarifverträgen. ... Außerdem finden die für den Bereich des Arbeitgebers jeweils geltenden sonstigen Tarifverträge Anwendung. ..."

Der Marburger Bund hatte 1994 mit der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) eine Vereinbarung über eine tarifliche Zusammenarbeit geschlossen, in der diese ua. zum Abschluss von Tarifverträgen bevollmächtigt wurde. Auf dieser Grundlage erfolgten auch Tarifabschlüsse durch die Rechtsnachfolgerin der DAG, die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di). Im Verlauf der Tarifvertragsverhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) im Jahre 2005 widerrief der Marburger Bund gegenüber der Gewerkschaft ver.di die zum Abschluss von Tarifverträgen erteilte Vollmacht und forderte zugleich die Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) zu Tarifvertragsverhandlungen über einen Tarifvertrag für Ärzte auf. Der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst in der für den Bereich der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände geltenden Fassung (TVöD/VKA) wurde ua. von der Gewerkschaft ver.di und der VKA nach Zugang des Widerrufs der Vollmacht am 13. September 2005 unterzeichnet und trat am 1. Oktober 2005 in Kraft. Der Marburger Bund kündigte den BAT zum 31. Dezember 2005. Der später zwischen dem Marburger Bund und der VKA geschlossene Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TV-Ärzte/VKA) trat nach § 40 Abs. 1 TV-Ärzte/VKA am 1. August 2006 in Kraft.

Im Zeitraum vom 10. bis zum 28. Oktober 2005, am 11. November 2005 sowie vom 24. bis zum 25. November 2005 hatte die Klägerin Erholungsurlaub in Anspruch genommen. Die Beklagte zahlte ihr für den Monat Oktober 2005 einen Urlaubsaufschlag nach § 47 Abs. 2 BAT auf der Basis von täglich 60,79 Euro brutto iHv. insgesamt 911,85 Euro brutto und für den Monat November 2005 in Höhe von 182,37 Euro brutto. Mit der Abrechnung für den Monat Februar 2006 brachte sie diese Beträge wieder in Abzug. In einem Informationsschreiben vom 22. Februar 2006 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass seit dem 1. Oktober 2005 der TVöD für das Arbeitsverhältnis maßgebend und daher die Entgeltabrechnungen hinsichtlich der Urlaubsentgelte zu korrigieren gewesen seien. Auf die von der Klägerin mit Schreiben vom 14. März 2006 und vom 28. März 2006 begehrte Zahlung der einbehaltenen Beträge reagierte die Beklagte nicht.

Mit ihrer Klage verfolgt die Klägerin ihr Zahlungsbegehren weiter. Ihr Anspruch ergebe sich aufgrund ihrer Mitgliedschaft im Marburger Bund kraft unmittelbarer beiderseitiger Tarifgebundenheit an den BAT aus dessen § 47 Abs. 2. Selbst bei Anwendung des TVöD bestehe der Entgeltfortzahlungsanspruch.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.094,22 Euro brutto zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 22. April 2006 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Nach dem Grundsatz der Tarifeinheit sei allein von der Anwendbarkeit des spezielleren TVöD auszugehen. Die Voraussetzungen der Nachfolgeregelung des § 47 Abs. 2 BAT in § 21 TVöD seien nicht erfüllt. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin habe im Oktober 2005 noch keinen vollen Kalendermonat bestanden. Arbeitsverhältnisse iSd. § 21 TVöD seien nur solche unter der Geltung des betreffenden Tarifvertrages. Beschäftigungszeiträume vor dem 1. Oktober 2005 blieben daher unberücksichtigt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision beantragt die Beklagte, nachdem ihr der Senat wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist durch Zwischenurteil Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat, die Klage abzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Der Senat hat mit Beschluss vom 27. Januar 2010 an den Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts eine Divergenzanfrage gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG gerichtet. Der Zehnte Senat hat mit Beschluss vom 23. Juni 2010 (- 10 AS 2/10 -) über die Anfrage des erkennenden Senats entschieden.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klägerin den Aufschlag zum Urlaubsentgelt nach § 47 Abs. 2 BAT zu Recht zugesprochen. Der zwischen den Parteien im Streitzeitraum unmittelbar und zwingend geltende BAT wird nicht durch den TVöD nach dem Grundsatz der Tarifeinheit aufgrund einer bei der Beklagten bestehenden Tarifpluralität verdrängt.

I. Die Klägerin kann kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Parteien an den BAT gemäß § 3 Abs. 1 , § 4 Abs. 1 TVG für den in Anspruch genommen Erholungsurlaub einen Urlaubsaufschlag nach § 47 Abs. 2 BAT in der zwischen den Parteien für den Fall der Geltung des BAT nicht umstrittenen Höhe von insgesamt 1.094,22 Euro brutto verlangen. Für das Arbeitsverhältnis galt der BAT unmittelbar und zwingend nach § 3 Abs. 1 , § 4 Abs. 1 TVG , da die Klägerin im Streitzeitraum Mitglied des Marburger Bundes und die Beklagte Mitglied im KAV war.

II. Der für die Mitglieder des Marburger Bundes und der VKA bis zum 31. Dezember 2005 nach wie vor geltende BAT wird nicht nach dem sogenannten Grundsatz der Tarifeinheit durch den am 1. Oktober 2005 in Kraft getretenen TVöD und aufgrund der damit bei der Beklagten eingetretenen Tarifpluralität als speziellerer Tarifvertrag verdrängt.

1. Im streitgegenständlichen Zeitraum bestand bei der Beklagten eine Tarifpluralität.

a) Tarifpluralität liegt vor, wenn der Betrieb des Arbeitgebers vom Geltungsbereich zweier von verschiedenen Gewerkschaften geschlossenen Tarifverträge für Arbeitsverhältnisses derselben Art erfasst wird, an die der Arbeitgeber gebunden ist, während für den jeweiligen Arbeitnehmer je nach Tarifgebundenheit nur einer der beiden Tarifverträge Anwendung findet (etwa BAG 24. Januar 1990 - 4 AZR 561/89 - AP TVG § 1 Tarifverträge Bau: Nr. 126 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 6; 5. September 1990 - 4 AZR 59/90 - AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 19 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 5; 20. März 1991 - 4 AZR 455/90 - zu B II 2 a der Gründe, BAGE 67, 330; s. auch BAG 14. Juni 1989 - 4 AZR 200/89 - AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 16 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 4).

In einem solchen Fall ist nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers und die "potentielle Möglichkeit" ausreichend, dass ein der vertragsschließenden Gewerkschaft angehörender Arbeitnehmer im Betrieb beschäftigt ist (BAG 14. Juni 1989 - 4 AZR 200/89 - AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 16 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 4; 24. Januar 1990 - 4 AZR 561/89 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 126 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 6; s. auch BAG 24. September 1975 - 4 AZR 471/74 - AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 11; 29. November 1978 - 4 AZR 304/77 - AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 12 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 2).

b) Danach bestand bei der Beklagten für den streitgegenständlichen Zeitraum eine Tarifpluralität. Die Beklagte war aufgrund ihrer Mitgliedschaft im KAV nach § 3 Abs. 1 TVG sowohl unmittelbar an den zwischen der VKA und der Gewerkschaft ver.di geschlossenen TVöD/VKA gebunden als auch an den zwischen der VKA und dem Marburger Bund geschlossenen, im Streitzeitraum zwischen Oktober und Dezember 2005 im Verhältnis zwischen den Prozessparteien noch vollwirksamen BAT . Dass der persönliche Geltungsbereich des TV-Ärzte/VKA nicht alle Arbeitnehmer bei der Beklagten erfasst, ist für das Vorliegen einer Tarifpluralität unerheblich (vgl. etwa BAG 26. Januar 1994 - 10 AZR 611/92 - zu II 4 d der Gründe, BAGE 75, 298 ). Ob bei der Beklagten ein beschäftigter Arbeitnehmer aufgrund einer Mitgliedschaft in den Gewerkschaften, die den TVöD/VKA geschlossen haben, unmittelbar tarifgebunden ist, ist nach der dargestellten Rechtsprechung (unter a) ohne Bedeutung.

2. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats steht einer Tarifpluralität entgegen, dass nach dem Grundsatz der Tarifeinheit in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Anwendung finden soll. Deshalb sei eine Tarifpluralität im Falle einer unmittelbaren Tarifgebundenheit des Arbeitgebers an verschiedene Tarifverträge - sei es aufgrund Allgemeinverbindlichkeit, sei es kraft Organisationszugehörigkeit - in aller Regel dahin aufzulösen, dass nach dem Grundsatz der Spezialität der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten stehende und deshalb den Eigenarten und Erfordernissen des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung tragende Tarifvertrag den anderen Tarifvertrag verdrängt (ausf. BAG 20. März 1991 - 4 AZR 455/90 - zu B II 2 a der Gründe, BAGE 67, 330, 337; weiterhin BAG 14. Juni 1989 - 4 AZR 200/89 - AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 16 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 4; 5. September 1990 - 4 AZR 59/90 - AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 19 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 5; s. auch die Darstellung im Beschluss des Senats vom 27. Januar 2010 - 4 AZR 537/08 (A) - Rn. 18 ff.).

3. Diese Rechtsprechung ist in der Literatur überwiegend auf Ablehnung gestoßen (vgl. die Nachw. im Beschluss des Senats vom 27. Januar 2010 - 4 AZR 537/08 (A) - Rn. 21).

4. Der Senat gibt seine bisherige Rechtsprechung zur Auflösung einer Tarifpluralität nach dem Grundsatz der Tarifeinheit zugunsten des spezielleren Tarifvertrages im Falle einer unmittelbaren Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 TVG auf. Die Rechtsnormen eines Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen (§ 1 Abs. 1 TVG ), gelten nach § 3 Abs. 1 , § 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen von seinem Geltungsbereich erfassten Arbeitsverhältnissen eines Betriebes unmittelbar und zwingend. Diese durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehene, auf das einzelne Arbeitsverhältnis bezogene Bindung wird nicht dadurch verdrängt, dass für den Betrieb kraft Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 TVG mehr als ein Tarifvertrag für Arbeitsverhältnisse derselben Art gilt, für die jeweiligen Arbeitsverhältnisse im Falle einer Tarifgebundenheit eines oder mehrerer Arbeitnehmer allerdings jeweils nur ein Tarifvertrag. Eine solche aufgrund unmittelbarer Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 1 TVG eingetretene Tarifpluralität kann für die genannten Rechtsnormen nicht nach dem Grundsatz der Tarifeinheit dahingehend aufgelöst werden, dass hinsichtlich dieser Normen nur ein Tarifvertrag "für den Betrieb" gilt. Ein solcher Rechtsgrundsatz besteht nicht. Eine Verdrängung der nach § 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen geltenden tariflichen Normen ist weder aufgrund praktischer Schwierigkeiten noch wegen einer sonst erforderlichen Abgrenzung von Inhaltsund Betriebsnormen geboten. Die Voraussetzungen einer Rechtsfortbildung, die zur Verdrängung tariflicher Normen führt, sind vorliegend nicht gegeben. Die Verdrängung eines Tarifvertrages ist auch mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren. Ob es sich bei dem TVöD um einen gegenüber dem BAT spezielleren Tarifvertrag handelt, wie es die Beklagte meint, kann deshalb dahinstehen (zur Begründung ausführlich BAG 27. Januar 2010 - 4 AZR 537/08 (A) - Rn. 22 bis 77).

5. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die nach alledem auch weiterhin zugrunde zu legende Geltung des BAT kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit nicht aufgrund der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag der Parteien ausgeschlossen. Selbst wenn diese sich - wie die Revision meint - nach Inkrafttreten des TVöD auf diesen erstrecken sollte, bestünde bei der Klägerin keine Tarifkonkurrenz, die zur Verdrängung des BAT führen würde. Die individualvertragliche Inbezugnahme eines Tarifvertrages führt nicht zu dessen tarifrechtlicher Geltung mit der Folge, dass seine Bestimmungen infolge einer Tarifkonkurrenz nach dem Spezialitätsprinzip verdrängt werden könnten. Es handelt sich vielmehr um eine einzelvertragliche Regelung von Arbeitsbedingungen. Deshalb kann es auch nicht zu einer Konkurrenz kommen, weil nicht zwei Tarifverträge gleichzeitig für das Arbeitsverhältnis der Klägerin Geltung beanspruchen (BAG 29. August 2007 - 4 AZR 767/06 - Rn. 20, BAGE 124, 34 , unter Aufgabe von BAG 23. März 2005 - 4 AZR 203/04 - BAGE 114, 186 ). Ist der Arbeitnehmer an einen Tarifvertrag gebunden, gilt im Verhältnis zu den vertraglichen Regelungen, auch wenn sie tarifvertragliche Bestimmungen zum Gegenstand des Arbeitsvertrages machen, das tarifrechtliche Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG (s. auch BAG 22. Oktober 2008 - 4 AZR 784/07 - Rn. 34, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 66 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 39), im anderen Fall bleibt es bei der unmittelbaren und zwingenden Wirkung kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit.

III. Der Senat ist nicht an einer abschließenden Entscheidung gehindert, weil er nicht von der Rechtsprechung eines anderen Senats abweicht. Der Einleitung eines Vorlageverfahrens an den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts nach § 45 Abs. 4 ArbGG bedarf es nicht.

1. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat auf den Anfragebeschluss des Senats von 27. Januar 2010 (- 4 AZR 537/08 (A) -) mit Beschluss vom 23. Juni 2010 entschieden, dass er sich der Auffassung des Senats anschließt, wonach "die Rechtsnormen eines Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, nach § 3 Abs. 1 , § 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen eines Betriebes unmittelbar gelten und diese durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehene Geltung nicht dadurch verdrängt wird, dass für den Betrieb kraft Tarifbindung des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 TVG mehr als ein Tarifvertrag gilt, für Arbeitsverhältnisse derselben Art im Falle einer Tarifbindung eines oder mehrerer Arbeitnehmer allerdings jeweils nur ein Tarifvertrag ("Tarifpluralität")". Es bestehe "kein hinreichender Grund, die damit im Gesetz angelegte Möglichkeit auszuschließen, dass für verschiedene Arbeitnehmer im Betrieb unterschiedliche Tarifverträge gelten" (BAG 23. Juni 2010 - 10 AS 2/10 -).

2. Eine Anfrage an den Ersten Senat ist aus den im Beschluss des Senats vom 27. Januar 2010 genannten Gründen (- 4 AZR 537/08 (A) - Rn. 90 ff.) nicht erforderlich.

3. Ein Vorlageverfahren an den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts nach § 45 Abs. 4 ArbGG ist nicht geboten (dazu BAG 27. Januar 2010 - 4 AZR 537/08 (A) - Rn. 93 ff.).

IV. Die Kosten der erfolglosen Revision hat die Beklagte nach § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.

Hinweise des Senats:

BAG 7. Juli 2010 - 4 AZR 549/08 -

Vorinstanz: LAG Baden-Württemberg, vom 26.02.2008 - Vorinstanzaktenzeichen 14 Sa 91/07
Vorinstanz: ArbG Karlsruhe, vom 13.07.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 1 Ca 173/06