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BVerwG - Entscheidung vom 21.04.2009

10 C 2.08

Normen:
AsylVfG § 73
GG Art. 3
VwGO § 137 Abs. 1
VwGO § 144 Abs. 3

BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - Aktenzeichen 10 C 2.08

DRsp Nr. 2009/14630

Verstoß gegen Bundesrecht durch die Bejahung des Wegfalls der ursprünglichen Anerkennungsvoraussetzungen einer Gewährung von Abschiebungsschutz infolge der grundlegenden politischen Veränderungen im Irak; Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts für die Gruppenverfolgung i.R.e. Prüfung und Feststellung einer politischen Verfolgung von Ausländern

Tenor:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. November 2007 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Normenkette:

AsylVfG § 73 ; GG Art. 3 ; VwGO § 137 Abs. 1 ; VwGO § 144 Abs. 3 ;

Gründe:

I

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.

Der 1978 in Bagdad geborene Kläger ist arabischer Volkszugehöriger sunnitisch-islamischen Glaubens. Er reiste im April 2000 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Zur Begründung berief er sich auf eine tätliche Auseinandersetzung mit Leibwächtern eines Sohnes von Saddam Hussein. Er sei aus Furcht vor Verhaftung, Folter und einer langjährigen Freiheitsstrafe aus dem Irak geflohen. Mit Bescheid vom 24. Mai 2000 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - den Asylantrag ab, stellte aber fest, dass trotz des aus Sicht des Bundesamts unglaubhaften Sachvortrags des Klägers allein wegen der Asylantragstellung die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG ) vorliegen. Mit Bescheid vom 10. Februar 2005 widerrief das Bundesamt wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak die Flüchtlingsanerkennung (Nr. 1 des Bescheides) und stellte zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2 des Bescheides) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3 des Bescheides).

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 18. April 2007 den Widerrufsbescheid des Bundesamts aufgehoben. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 14. November 2007 die Berufung der Beklagten gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Der Widerrufsbescheid des Bundesamts sei rechtswidrig. Der Kläger habe zwar wegen seines Asylantrages und seiner illegalen Ausreise keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr im Irak zu befürchten. Ihm drohe aber wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure. Der irakische Staat oder nichtstaatliche Herrschaftsorganisationen seien nicht in der Lage, dagegen Schutz zu gewähren. Die Sicherheitslage im Irak sei hochgradig instabil und durch Tausende terroristische Anschläge und fortgesetzte offene Kampfhandlungen geprägt. Auch wenn nach wie vor Soldaten der Koalitionsstreitkräfte, irakische Sicherheitskräfte, Politiker, Offizielle und Ausländer das Hauptanschlagsziel der Terroristen seien, trage die weitgehend ungeschützte irakische Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast. Die allgemeine Kriminalität sei stark angestiegen. Überfälle und Entführungen seien an der Tagesordnung. Im Irak marodierende Todesschwadronen, sowohl schiitischer als auch sunnitischer Extremisten, entführten Angehörige der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe und erschössen sie. Landesweit ereigneten sich konfessionell motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folterungen und Entführungen der jeweils anderen Glaubensrichtung. Staatlicher Schutz gegen derartige Übergriffe könne nicht erlangt werden. Im Laufe des Jahres 2006 habe die Gewalt im Irak einen deutlicher konfessionell ausgerichteten Zug angenommen. Wiederholt hätten sunnitische und schiitische Moscheen gebrannt. Straßenzüge in Bagdad und in weiteren größeren Städten wie Mosul, Tikrit und Kerkuk würden von Milizen kontrolliert. Im Oktober 2006 seien 90 sunnitische Araber in Balad umgebracht und Hunderte von Sunniten aus der Stadt gejagt worden.

Eine detaillierte Feststellung von Anzahl und Intensität aller solcher Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Sunniten (17 bis 22% der irakischen Bevölkerung) sei ebenso wenig möglich wie eine Inbeziehungsetzung zur Größe der betroffenen Gruppe. Weder sei die genaue Zahl der derzeit noch im Irak lebenden sunnitischen Bevölkerung ermittelbar, noch sei es möglich, exakte Erkenntnisse über das zahlenmäßige Ausmaß der asylrelevanten Übergriffe zu gewinnen. Weitere Aufklärung komme nicht in Betracht, weil das Auswärtige Amt aufgrund der desolaten Sicherheitslage im Irak nicht in der Lage sei, Amtshilfeersuchen der Verwaltungsgerichte zu bearbeiten. Die vorhandenen Berichte über zahlreiche einzelne Vorfälle ließen jedoch darauf schließen, dass Sunniten allein wegen ihres Glaubens häufig Ziel von Übergriffen und Anschlägen würden. Die genaue Anzahl der seit dem Jahr 2003 im Irak getöteten Sunniten sei ebenso wenig feststellbar wie die Gesamtanzahl der im Irak getöteten Zivilisten. Nach Angaben der Vereinten Nationen seien im Laufe des Jahres 2006 34 452 Zivilisten eines gewaltsamen Todes gestorben, weitere 36 685 seien verwundet worden. Auch im ersten Halbjahr des Jahres 2007 seien monatlich Tausende von Zivilisten bei Feuergefechten, Bombenanschlägen, Selbstmordattentaten oder gezielten Morden ums Leben gekommen. Viele Entführte seien verschwunden. Immer wieder würden Leichen (auch von sunnitischen Gläubigen) gefunden. Die beigezogenen Erkenntnisquellen verdeutlichten eine zunehmende asylrelevante Verfolgung der Sunniten durch Schiiten, insbesondere in Anbetracht der Schwere der zu befürchtenden Übergriffe.

Dem Kläger sei auch keine innerstaatliche Fluchtalternative eröffnet. Ein Leben in den kurdisch verwalteten Provinzen im Nordirak sei zumutbar allenfalls Irakern möglich, die von dort stammten und deren Großfamilie/Sippe dort ansässig sei. Andere Personen aus dem Zentral- oder dem Südirak stießen dort auf erhebliche Schwierigkeiten bei der Erlangung physischen Schutzes, beim Zugang zu Wohnraum und Beschäftigung sowie anderen Dienstleistungen. Sie könnten dort kein normales Leben ohne unzumutbare Härten führen. Eine Fluchtalternative gebe es auch nicht innerhalb des Zentraliraks. Sunnitische Flüchtlinge liefen Gefahr, wenn sie sich in überwiegend sunnitischen Vierteln größerer Städte niederließen, mit dortigen sunnitischen Aufständischen in Konflikt zu geraten. Sunnitische Familien, die aus schiitischen Gebieten vertrieben worden seien, würden immer wieder verdächtigt, Spione zu sein und mit der irakischen Regierung oder den Koalitionstruppen zusammenzuarbeiten. Zudem fänden sie keine ausreichende Lebensgrundlage, wenn sie nicht über besondere Beziehungen zu den im Ausweichbereich lebenden Menschen verfügten.

Hiergegen richtet sich die vom Bundesverwaltungsgericht wegen Divergenz zugelassene Revision der Beklagten. Sie rügt im Wesentlichen, der Verwaltungsgerichtshof sei von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur Feststellung einer Gruppenverfolgung abgewichen und habe insbesondere nicht die erforderlichen Feststellungen zur Verfolgungsdichte getroffen.

Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt und unterstützt das Vorbringen der Revision.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsgericht hat die Aufhebung des Widerrufsbescheids durch das Verwaltungsgericht mit einer Begründung bestätigt, die mit Bundesrecht nicht vereinbar ist (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ). Da der Senat aufgrund der Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden kann, ob der angefochtene Widerrufsbescheid rechtmäßig ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO ).

1.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Widerrufsentscheidung ist § 73 Asylverfahrensgesetz ( AsylVfG ) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798). Die in dieser Bekanntmachung berücksichtigten Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz -, die am 28. August 2007 in Kraft getreten sind, hat der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu Recht der Berufungsentscheidung zugrunde gelegt. Nach § 73 Abs. 1 AsylVfG ist die Flüchtlingsanerkennung unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

2.

Das Berufungsgericht hat zwar ohne Verstoß gegen Bundesrecht den Wegfall der ursprünglichen Anerkennungsvoraussetzungen infolge der grundlegenden politischen Veränderungen im Irak bejaht. Es hat aber ein dem Widerruf entgegenstehendes Drohen erneuter Verfolgung allein damit begründet, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seines sunnitischen Glaubens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wäre, gegen die weder der irakische Staat noch sonstige nichtstaatliche Herrschaftsorganisationen Schutz gewähren könnten. Dabei ist das Berufungsgericht von den Maßstäben abgewichen, die das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung und Feststellung einer solchen Verfolgung entwickelt hat. Denn es nimmt eine Gruppenverfolgung für Iraker islamisch-sunnitischen Glaubens an, ohne die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebotenen Feststellungen zur Verfolgungsdichte zu treffen. Außerdem ist seine Überzeugungsbildung sowie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht im vollen Umfang mit § 108 Abs. 1 VwGO vereinbar. Insbesondere enthält das angefochtene Urteil keine hinreichend nachvollziehbare Begründung für die Schlussfolgerung, dass sämtliche Übergriffe gegen Sunniten an deren Religionszugehörigkeit anknüpfen. Zur näheren Begründung, warum eine Abweichung von den für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben und Verstöße gegen § 108 Abs. 1 VwGO vorliegen, verweist der Senat auf sein Urteil vom gleichen Tage in dem Verfahren BVerwG 10 C 11.08, mit dem er ein Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben hat, dessen Gründe inhaltlich und weitgehend auch wörtlich mit den vorliegenden übereinstimmen, das allerdings nicht den Widerruf, sondern die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an einen Iraker sunnitisch-islamischen Glaubens betrifft.

Es kann offenbleiben, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach einer neueren, irakische Staatsangehörige betreffenden Erlasslage in anderen, ähnlich gelagerten Verfahren vom Widerruf der Flüchtlingsanerkennung absieht. Auch wenn dies der Fall sein sollte, kann der Kläger hieraus nichts zu seinen Gunsten herleiten. Bei dem mit der Klage angegriffenen Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG handelt es sich nämlich um eine gebundene Entscheidung, auf die die aus Art. 3 GG abgeleiteten Grundsätze der Selbstbindung der Verwaltung bei Ermessensentscheidungen nicht übertragbar sind.

3.

Das Berufungsurteil muss hiernach aufgehoben werden. Die Sache muss an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen werden, da der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil keine abschließende Entscheidung darüber treffen kann, ob der angefochtene Widerrufsbescheid rechtmäßig ist. Bei der erneut vorzunehmenden Prüfung einer Gruppenverfolgung der Sunniten im Irak wird der Verwaltungsgerichtshof zusätzlich die inzwischen vorliegenden neuen Erkenntnismittel berücksichtigen und die erforderlichen Feststellungen über das Verfolgungsgeschehen, insbesondere die Verfolgungsdichte sowie das Ausmaß und die Reichweite der Verfolgungshandlungen, treffen müssen. Sollte das Berufungsgericht eine Verfolgungsgefahr in Teilen des Irak bejahen, wird es erneut zu prüfen haben, ob der Kläger unter Berücksichtigung der aktuellen Verhältnisse im Nordirak oder in mehrheitlich von Sunniten bewohnten Gebieten des Zentralirak internen Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 finden kann. Dabei wird es sich auch mit der Einschätzung anderer Oberverwaltungsgerichte zur Eignung dieser Gebiete als innerstaatlicher Fluchtalternative auseinandersetzen müssen. Gegebenenfalls wird das Berufungsgericht auch noch prüfen müssen, ob der Kläger aufgrund seines individuellen Vorbringens bei einer Rückkehr in den Irak von Verfolgung bedroht ist. Sollte sich der Widerruf als rechtmäßig erweisen, wird das Berufungsgericht über die Gewährung subsidiären Schutzes nach der Richtlinie 2004/83/EG (§ 60 Abs. 2 , 3 und 7 Satz 2 AufenthG ), hilfsweise über die Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ) zu entscheiden haben.

Das Berufungsgericht wird die von dem Senat mit Beschluss vom 7. Februar 2008 (BVerwG 10 C 33.07 - Buchholz 451.902 Europäisches Ausländer- und Asylrecht Nr. 19) dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Vorabentscheidung nach Art. 234 Abs. 1 und 3, Art. 68 Abs. 1 EG vorgelegten Fragen zur Auslegung der in der Richtlinie 2004/83/EG getroffenen Regelungen über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - einschließlich des zu beachtenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabes - zu berücksichtigen haben. Insoweit kann eine Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO (vgl. etwa Beschluss vom 1. April 2008 - BVerwG 10 C 14.07 -) bis zur Entscheidung des Gerichtshofs in Betracht kommen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Vorinstanz: VGH, 23 B 30501/07 vom 14.11.2007,