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BSG - Entscheidung vom 27.08.2009

B 13 R 177/09 B

Normen:
SGG § 103
SGG § 118 Abs. 1
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3
SGG § 160a Abs. 5
ZPO § 412 Abs. 1

BSG, Beschluss vom 27.08.2009 - Aktenzeichen B 13 R 177/09 B

DRsp Nr. 2009/26801

Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung des Verfahrensmangels; Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch das LSG

Folgt das LSG einem Beweisantrag auf Durchführung einer weiteren Begutachtung nicht, obwohl Diskrepanzen in den Ergebnissen eines vorhandenen Gutachtens und der Aussage eines sachverständigen Zeugen auf der Zugrundelegung einander widersprechender Tatsachen beruhen, und entscheidet sich das Gericht weder für eine Sachverhaltsvariante noch stellt es fest, dass es auf die Unterschiede nicht ankam, so liegt ein Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht) vor. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Der Klägerin wird für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. März 2009 Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt S., ..., beigeordnet. Raten sind nicht zu entrichten.

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. März 2009 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Normenkette:

SGG § 103 ; SGG § 118 Abs. 1 ; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ; SGG § 160a Abs. 5 ; ZPO § 412 Abs. 1 ;

Gründe:

I

Die Klägerin begehrt Rente wegen Erwerbsminderung. Sie macht geltend, dem Landessozialgericht (LSG) sei bei seiner Entscheidung über ihre Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Mannheim ( SG ) ein Verfahrensfehler unterlaufen.

Die 1958 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war zuletzt von 1990 bis 2004 als Küchenhilfe in der Metzgereiküche ihrer Schwester beschäftigt; seit November 2004 ist sie arbeitsunfähig erkrankt und bezog zuletzt Arbeitslosengeld II.

Ihren Rentenantrag vom Februar 2006 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.5.2006 und Widerspruchsbescheid vom 11.8.2006 ab. Im erstinstanzlichen Verfahren holte das SG ein internistisches Gutachten sowie das Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapeutische Medizin Dr. W. ein. Eine schriftliche Vernehmung des Neurologen und Psychiaters Dr. G., bei dem die Klägerin unterdessen in Behandlung stand, als sachverständiger Zeuge erbrachte die Auskunft, es liege eine posttraumatische Belastungsstörung bzw eine andauernde Persönlichkeitsänderung vor. Die lebensgeschichtlichen Hintergründe lägen in einer fortgesetzten Missbrauchserfahrung durch eine nahestehende Person, die sich über Jahre hingezogen habe und in mindestens einem Schwangerschaftsabbruch geendet habe. Daraufhin zog das SG das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. H. (Chefarzt einer Klinik für Suchttherapie) vom 29.2.2008 bei. Dieser gab an, nach Mitteilung der Klägerin sei diese in der Jugend immer wieder von einem Fremden vergewaltigt worden. Das erfolgte Auftreten des (unterstellten) sexuellen Missbrauchs erfülle die Kriterien für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Klägerin könne jedoch täglich noch acht Stunden zumutbare Arbeiten (wegen einer nur niedrig ausgeprägten Intelligenz lediglich geistig anspruchslose Tätigkeiten) verrichten. Er stimme Dr. G. hinsichtlich der Diagnose zu, nicht jedoch des von ihm angenommenen Ausmaßes der sich aus der vorliegenden Erkrankung ergebenden Einschränkungen. Im klagabweisenden Urteil vom 25.4.2008 lehnte das SG den Hilfsantrag der Klägerin auf Veranlassung einer psychosomatischen Fachbegutachtung ab, nachdem zwei erfahrene Gerichtsgutachter auf nervenärztlichem Fachgebiet befragt worden seien, die auch in der Lage seien, psychosomatische Beschwerden zu beurteilen.

Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihren Hilfsantrag - auf Einholung eines psychosomatischen Fachgutachtens von Amts wegen zum Beweis der Tatsache, dass sie nicht mehr in der Lage sei, einer sechsstündigen beruflichen Tätigkeit im Bereich des allgemeinen Arbeitsmarkts nachzugehen - wiederholt. Nur erfahrene und in der spezifischen psychosomatischen Interviewtechnik bewanderte Sachverständige seien in der Lage, den krankheitsbedingt bei ihr fast unknackbaren psychischen "Panzer" zu lösen. Sie hat ferner darauf hingewiesen, dass es sich entgegen der Annahme des Sachverständigen Dr. H. nicht lediglich um fortgesetzte Vergewaltigung durch einen Fremden gehandelt habe, sondern, wie aus der "gutachterlichen Stellungnahme" von Dr. G. hervorgehe, eine der Klägerin äußerst nahestehende Person der Täter sei. Dies stelle eine besonders schwerwiegende Entwicklung dar, da bei derartigen Übergriffen den Opfern keine Möglichkeit bleibe, sich in einen heimischen und familiären, intimen persönlichen Schutzbereich zurückzuziehen, was eine völlige Hilf- und Machtlosigkeit zur Folge habe. Das LSG hörte Dr. G. erneut schriftlich als sachverständigen Zeugen ("nervenärztlich-psychosomatische, gutachterliche Stellungnahme" vom 9.9.2008). Mit Urteil vom 27.3.2009 hat das LSG die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Der Senat habe sich nicht davon überzeugen können, dass - wie von Dr. G. unter dem 9.9.2008 angenommen - eine depressive Somatisierung mit Angst und Asthenie kombiniert sowie eine depressive Anpassungsstörung bei Multimorbidität bzw ein atypischer Autismus im Rahmen einer schweren neurotischen Störung vorliege. Denn Dr. H. habe in seinem Gutachten von 29.2.2008 nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass die Kriterien für das Vorliegen einer eigenständigen depressiven Erkrankung oder einer (auch leichten) depressiven Episode ebenso wenig erfüllt würden wie die für das Vorliegen einer eigenständigen Angsterkrankung oder einer somatoformen Störung im Sinne des Klassifikationssystems ICD-10. Dr. H. sei bei seiner Untersuchung "die von der Klägerin behauptete Vergewaltigung" bekannt gewesen, da dies anlässlich der Untersuchung angesprochen worden sei. Gegen das Vorliegen der genannten Erkrankungen spreche auch, dass nach Auskunft von Dr. G. vom 9.9.2008 konkrete Behandlungsmaßnahmen nicht durchgeführt würden.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]), weil das LSG dem Beweisantrag nicht gefolgt sei, zum Beweis der Tatsache, dass sie nicht mehr in der Lage sei, einer sechsstündigen beruflichen Tätigkeit im Bereich des allgemeinen Arbeitsmarkts nachzugehen, eine psychosomatische Fachbegutachtung durch einen Facharzt für psychosomatische Medizin und Therapie mit ausreichender klinischer Erfahrung der Behandlung psychosomatischer Erkrankungen anzuordnen.

II

Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung ( ZPO ) war der Klägerin angesichts ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und wegen hinreichender Erfolgsaussicht ihres Rechtsmittels (Nichtzulassungsbeschwerde) Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt S. beizuordnen.

III

Die zulässige, insbesondere formgerechte Beschwerde ist auch begründet.

Zu Recht rügt die Klägerin, dass das LSG ihrem hilfsweise gestellten Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 , letzter Teilsatz SGG ).

Dem LSG ist insoweit ein Verstoß gegen § 103 SGG (Amtsermittlungspflicht) unterlaufen. Entgegen der Argumentation des Berufungsurteils durfte über das Rechtsmittel der Klägerin ohne weitere Ermittlungen in dem von ihr beantragten Sinne nicht entschieden werden.

Soweit sich das LSG auf das Gutachten Dr. H. mit der Begründung stützt, dass diesem "die von der Klägerin behauptete Vergewaltigung bekannt (gewesen sei), da dies anlässlich der Untersuchung angesprochen wurde", ändert dies nichts an dem Befund, dass das Gutachten Dr. H. iS des § 412 Abs 1 ZPO ungenügend ist. Denn Dr. H. hat zum Vergewaltigungsgeschehen lediglich über die Angaben der Klägerin berichtet, sie sei über lange Zeit in ihrer Jugend immer wieder vergewaltigt worden: "Sie sei von einem Fremden vergewaltigt worden. Dieser sei immer da gewesen, wo sie auch gewesen sei. Mehr wolle sie nicht darüber reden." In seiner Beurteilung wiederholt Dr. H. diese Angaben zusammengefasst und fügt hinzu: "Einzelheiten gab sie dazu nicht an, was die Beurteilung etwas erschwert." Sein Gutachten enthält, weil danach nicht gefragt wurde, keine Äußerung hinsichtlich der Notwendigkeit eines weiteren, zB psychosomatischen, Gutachtens. Eine zusätzliche Äußerung wurde von Dr. H. auch im Berufungsverfahren nicht erbeten.

Damit aber bestand zu den Äußerungen des Dr. G. eine deutliche Diskrepanz nicht nur, wie vom LSG dargestellt, hinsichtlich der Leistungsbeurteilung auf der Grundlage einer einheitlichen Diagnose ("posttraumatisches Belastungssyndrom"), sondern bereits hinsichtlich der Ausprägung der von Dr. G. sowie Dr. H. einheitlich als "posttraumatische Belastungsstörung" bezeichneten Erkrankung. Denn Dr. G. ist sowohl in seinen Berichten (schriftlichen sachverständigen Zeugenaussagen) gegenüber dem SG wie gegenüber dem LSG davon ausgegangen, dass die Klägerin nicht (nur) in ihrer Jugend von einem Fremden wiederholt vergewaltigt worden ist, sondern von einer ihr "nahestehenden Person", der die Klägerin unter Androhung schlimmster Folgen versprechen musste, nie etwas zu "verraten". Plastisch schildert Dr. G., dass die Klägerin, wenn es um den Punkt der Lüftung der Geheimnisse der Person gehe, "sofort in eine affektive Alarmsituation gerät und entweder den Raum verlässt oder in einem Zustand des völligen Außersichseins darum bittet, die Befragung nicht weiterzuführen". Damit aber ergibt sich nachvollziehbar nicht nur eine durchaus andere Ausgangssituation als die vom LSG angeführte "von der Klägerin behauptete Vergewaltigung" (Einzahl), sondern auch ein schwerer wiegendes Geschehen als die von Dr. H. unterstellte wiederholte Vergewaltigung "von einem Fremden". Dies gilt umso mehr, als nicht auszuschließen ist, dass - anders als gegenüber einem "Fremden" - nach wie vor noch Beziehungen zu der "nahestehenden Person" bestehen, die weiterhin die Belastungsstörung aufrechterhalten. Das LSG hat weder entschieden, welche Sachverhaltsvariante vorlag, noch, dass es auf die Unterschiede nicht ankam.

Bei dieser Ausgangslage können die Ablehnung des Beweisantrags und das Berufungsurteil auch nicht darauf gestützt werden, dass Dr. G. in seinen Berichten "keine präzise Leistungsbeurteilung abgegeben hat" und dem Senat ferner "weder nachvollziehbar noch begründet" sei, dass Dr. G. davon ausgehe, es sei notwendig, die Klägerin mindestens fünf Jahre vom Druck, arbeiten gehen zu müssen, zu entlasten. Denn Dr. G. ist gerade nicht als Sachverständiger gehört worden, sondern lediglich als sachverständiger Zeuge (auch wenn Dr. G. vom SG gefragt wurde, ob er ua hinsichtlich der Bewertung der beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin den in den beigelegten Aktenauszügen enthaltenen Feststellungen und Beurteilungen zustimme). Ebenso wenig kann der Beurteilung von Dr. G. entgegengehalten werden, dass nach seiner Auskunft vom 9.9.2008 derzeit keine Behandlung der Klägerin stattfinde. Dies verkennt dessen Ausführungen, wonach es sich bei seinen Kontakten mit der Klägerin in erster Linie um Exploration und Erörterungen diagnostischer Art gehandelt habe, und therapeutische Interventionen einer viel umfassenderen Einsicht und Aufdeckungsbereitschaft bedürften, als sie die Klägerin vorweisen könne. Deshalb sei es zur Zeit unmöglich, die Patientin zur Einsicht zu bringen, dass Therapie notwendig sei.

Soweit sich das LSG für seine Vorgehensweise auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.11.2007 (B 5a/5 R 382/06 B, SozR 4-1500 § 160a Nr 21) bezieht, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Dies gilt schon deshalb, weil die genannte Entscheidung ausdrücklich ausführt (aaO RdNr 9), es gehe dort nicht um Gutachten, die auf einander widersprechenden Tatsachen beruhten. Ebenso wenig kann sich das LSG im vorliegenden Zusammenhang auf den Senatsbeschluss vom 12.12.2003 (SozR 4-1500 § 160a Nr 3) stützen. Der insoweit gebildete Leitsatz ("Bei einer Verfahrensfehlerrüge wegen Verletzung der Sachaufklärungspflicht muss zur Bezeichnung eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags auch dargelegt werden, welche neuen entscheidungserheblichen Tatsachen festgestellt werden sollten; zielt der Beweisantrag nur auf eine andere Diagnosebezeichnung oder eine andere Beurteilung der Auswirkungen von bereits festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen, genügt dies den Anforderungen nicht.") ist hinsichtlich der "andere(n) Beurteilung der Auswirkungen von bereits festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen" missverständlich. Denn hiermit kann nicht gemeint sein, dass eine solche andere Beurteilung (schlechthin) nicht entscheidungserheblich sein könne (wie der Beschluss aaO, RdNr 8 nahelegt). Diese Ausführungen sind vielmehr dahin zu verstehen, dass eine derartige "andere Beurteilung" im Streit um eine Erwerbsminderungsrente nur dann entscheidungserheblich ist, wenn sie die sozialmedizinische Leistungsbewertung im rentenrelevanten Ausmaß beeinflusst. In diesem Sinne aber geht es in Streitverfahren über Erwerbsminderungsrenten typischerweise entscheidungserheblich gerade darum, welche Auswirkungen bereits diagnostizierte Gesundheitsstörungen im Erwerbsleben haben, ob etwa eine "posttraumatische Belastungsstörung" zu einer Leistungseinschränkung dahingehend führt, dass ein sechsstündiger Arbeitstag nicht mehr bewältigt werden kann - oder aber nicht.

Auch wenn die Würdigung unterschiedlicher Gutachten wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst gehört, und damit entsprechende Fehler im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein unerheblich sind (§ 160 Abs 2 Nr 3 , letzter Teilsatz SGG ), wird das BSG hierdurch nicht von der in der genannten Vorschrift für Sachaufklärungsrügen (§ 103 SGG ) vorgeschriebenen Prüfung entbunden, ob das LSG einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (BSG vom 19.4.1983, SozR 1500 § 160 Nr 49 unter teilweiser Aufgabe entgegenstehender Rechtsprechung).

Schließlich kann die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen.

Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, vom 27.03.2009 - Vorinstanzaktenzeichen 4 R 2651/08
Vorinstanz: SG Mannheim, vom 25.04.2008 - Vorinstanzaktenzeichen 6 R 2703/06