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BGH - Entscheidung vom 30.04.2009

Xa ZR 156/04

Normen:
PatG § 21 Abs. 1
PatG § 22 Abs. 1
IntPatÜbkG Art. 2
EPÜ Art. 138 Abs. 1

Fundstellen:
BGHReport 2009, 841
GRUR 2009, 749
GRURInt 2009, 934

BGH, Urteil vom 30.04.2009 - Aktenzeichen Xa ZR 156/04

DRsp Nr. 2009/13025

Anwendbarkeit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Notwendigkeit der eindeutigen Identifizierbarkeit einer Erfindung auf den Nichtigkeitsgrund des Fehlens einer ausführbaren Offenbarung nach geltendem Recht

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Notwendigkeit einer eindeutigen Identifizierbarkeit der Erfindung (BGHZ 57, 1, 3 - Trioxan; fortgeführt in BGHZ 92, 129, 134 - Acrylfasern und in dem Beschluss vom 11.10.1983 - X ZB 16/82, BlPMZ 1984, 211, 213 - optische Wellenleiter) ist auf den Nichtigkeitsgrund des Fehlens einer ausführbaren Offenbarung nach geltendem Recht nicht ohne Weiteres anwendbar.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 11. August 2004 verkündete Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Das europäische Patent 482 015 wird mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland insoweit für nichtig erklärt, als sein Patentanspruch 1 über die nachfolgende Fassung hinausgeht, auf die sich die Patentansprüche 2 bis 15 beziehen:

"Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge, insbesondere Rückhaltesystem, wie Airbag, Gurtstraffer usw., mit mindestens einem eine Ansprechzeit aufweisenden Auslösesensor (1), einer Recheneinheit (2) und einer Zündendstufe (5) zur Aktivierung des Sicherheitssystems, gekennzeichnet durch eine von der Recheneinheit (2) steuerbare Sperrschaltung (21), die erst nach Ablauf einer Verriegelungs-Freigabezeit (tv) die Zündendstufe entriegelt, wobei die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) kleiner als die Ansprechzeit (ta) des Auslösesensors (1) ist und wobei sich die Verriegelungs-Freigabezeit an die Ansprechzeit anschließt."

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Von Rechts wegen

Normenkette:

PatG § 21 Abs. 1 ; PatG § 22 Abs. 1 ; IntPatÜbkG Art. 2; EPÜ Art. 138 Abs. 1;

Tatbestand:

Die Beklagte ist Inhaberin des am 20. Juni 1990 unter Inanspruchnahme der Priorität einer deutschen Patentanmeldung vom 8. Juli 1989 angemeldeten, auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 482 015 (Streitpatents), das ein "Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge" betrifft und 15 Patentansprüche umfasst. Patentanspruch 1 des Streitpatents hat folgenden Wortlaut:

"1.

Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge, insbesondere Rückhaltesystem, wie Airbag, Gurtstraffer usw., mit mindestens einem eine Ansprechzeit aufweisenden Auslösesensor (1), einer Recheneinheit (2) und einer Zündendstufe (5) zur Aktivierung des Sicherheitssystems, gekennzeichnet durch eine von der Recheneinheit (2) steuerbare Sperrschaltung (21), die erst nach Ablauf einer Verriegelungs-Freigabezeit (tv) die Zündendstufe entriegelt, wobei die Verriegelungs-Freigabezeit (tv) kleiner als die Ansprechzeit (ta) des Auslösesensors (1) ist."

Wegen der abhängigen Patentansprüche 2 bis 15 des Streitpatents wird auf die Patentschrift verwiesen.

Die Klägerin hat geltend gemacht, die Erfindung sei in dem Streitpatent nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen könne. Außerdem sei der Gegenstand des Streitpatents gegenüber dem Stand der Technik, wie ihn insbesondere die deutschen Offenlegungsschriften 22 22 038 (D5), 22 25 709 (D4), 24 54 424 (D7), 26 12 215 (D6), 28 08 872 (D3), 30 01 780 (D8), die nachveröffentlichte, aber zeitrangältere deutsche Patentschrift 39 19 376 (D2), die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 11 680 (D1), die US-Patentschrift 4 586 179 (D11), die Veröffentlichung der britischen Patentanmeldung 2 187 909 (D10) sowie die Literaturstellen U. Tietze/Ch. Schenk, Halbleiter-Schaltungstechnik, 5. Aufl. S. 526 f. (D9), und 8. Aufl. S. 630 ff. (D12), und Arnolds (Hrsg.), Elektronische Messtechnik, 1976, S. 36 f. und S. 54 ff., bildeten, nicht patentfähig.

Die Klägerin hat beantragt,

das Streitpatent mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.

Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent wegen Fehlens einer ausführbaren Offenbarung in vollem Umfang für nichtig erklärt; ob die Erfindung patentfähig ist, hat es nicht geprüft.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Sie beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage mit der Maßgabe abzuweisen, dass Patentanspruch 1 des Streitpatents die im Tenor wiedergegebene Fassung erhält und sich die nachgeordneten Patentansprüche auf den so gefassten Patentanspruch 1 beziehen.

Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen. Sie stützt sich im Berufungsverfahren weiter auf die deutsche Offenlegungsschrift 36 39 065 (BB13).

Im Auftrag des Senats hat Professor Dr.-Ing. W. M. , , ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten führt unter Abänderung des angefochtenen Urteils zur Abweisung der Nichtigkeitsklage, soweit sich diese gegen das Streitpatent in seinem zuletzt noch verteidigten Umfang richtet.

I.

Das Streitpatent betrifft ein Insassensicherheitssystem für Fahrzeuge, und zwar insbesondere ein Rückhaltesystem wie Prallkissen (Airbag) oder Gurtstraffer.

1.

Bei solchen Systemen sind gefahrträchtige und mit Kosten für eine Wiederherstellung des Systems verbundene Fehlauslösungen unerwünscht. Solche Fehlauslösungen können durch nicht definierte Hardware-Zustände während des Ein- und Ausschaltens oder durch Störungen in der Recheneinheit verursacht werden, die eine Zündendstufe des Sicherheitssystems ansteuert.

2.

Durch die im Streitpatent unter Schutz gestellte Lehre sollen derartige Fehlauslösungen vermieden werden.

3.

Hierzu stellt Patentanspruch 1 des Streitpatents in seiner verteidigten Fassung ein Insassen-Sicherheitssystem für Fahrzeuge mit folgenden Merkmalen unter Schutz:

(1) Das System weist mindestens auf (1.1) einen Auslösesensor mit einer Ansprechzeit, (1.2) eine Recheneinheit, (1.3) eine Zündendstufe und (1.4) eine Sperrschaltung. (2) Die Recheneinheit steuert die Sperrschaltung. (3) Es ist eine Verriegelungs-Freigabezeit vorgesehen, (3.1) die sich an die Ansprechzeit anschließt, (3.2) kleiner als die Ansprechzeit des Auslösesensors ist und (3.3) nach deren Ablauf die Sperrschaltung die Zündendstufe entriegelt. (4) Die Zündendstufe aktiviert das Sicherheitssystem.

4.

Der Streit der Parteien und die Auffassung des Patentgerichts, die Erfindung sei nicht ausführbar offenbart, erfordern eine nähere Untersuchung des Sinngehalts dieser Merkmalskombination.

Nach der Beschreibung des Streitpatents soll der Auslösesensor bestimmte Fahrzeugzustandsgrößen erfassen und bei Erfüllung vorgebbarer Kriterien zu einer Auslösung des Sicherheitssystems führen. Insbesondere kann der Auslösesensor die Fahrzeugbeschleunigung erfassen und diese in einer oder mehreren digitalen oder analogen Rechenschaltungen verarbeiten, insbesondere eine Aufintegrierung vornehmen (Beschr. Sp. 2 Z. 17-25). Daraus ergibt sich, wie auch der gerichtliche Sachverständige ausgeführt hat, dass der Auslösesensor im Sinn des Merkmals (1.1) nicht nur aus dem elektromechanischen Beschleunigungswandler besteht, sondern auch das Beschleunigungssignal verarbeitet, insbesondere integriert. Nach der Beschreibung ist hieraus ersichtlich, dass auf Grund des Integrationsvorgangs keine sofortige Auslösung des Systems erfolgt, sondern diese erst "nach der genannten Ansprechzeit erfolgt" (Sp. 2 Z. 26-30). Jedenfalls eine patentgemäß in Betracht kommende Ansprechzeit ist somit die Zeitdifferenz zwischen dem Beginn der Integration (vgl. Beschr. Sp. 10 Z. 25/26) nach der Erfassung bestimmter, d.h. möglicherweise kritisch werdender Fahrzustandsgrößen (vgl. Sp. 2 Z. 16-20) - und nicht schon ab dem Einschalten des Motors - und dem Erreichen des Schwellwerts, der "die Auslösung" zur Folge haben soll. Dabei ist dem Fachmann, einem mit der Entwicklung von Insassensicherheitssystemen befassten und vertrauten Diplomingenieur der Fachrichtung Elektrotechnik, geläufig, dass die Integration typischerweise erst dann beginnt, wenn eine "Rauschschwelle" überschritten ist, die etwa einer Verzögerung von 4g, d.h. dem Vierfachen der Erdbeschleunigung von 9,81 m/s, entspricht; der gerichtliche Sachverständige hat dieses Verständnis bestätigt (Gutachten S. 9).

Nach dem Streitpatent soll die "Auslösung des Systems" aber noch keine Aktivierung des Sicherheitssystems zur Folge haben. Das Sicherheitssystem wird vielmehr von der Zündendstufe erst dann aktiviert (Merkmal 4), wenn die Zündendstufe von der (ganz allgemein zu verstehenden und in Patentanspruch 1 auch durch die Zufügung eines Bezugszeichens nicht näher definierten) Sperrschaltung entriegelt worden ist (Merkmal 3.3). Dies wiederum geschieht, gesteuert von der Recheneinheit (Merkmal 2), wenn die - nicht im Sinn eines Fachbegriffs zu verstehende - Verriegelungs-Freigabezeit (tv) abgelaufen ist (Merkmale 3; 3.3). Dies ermöglicht es, während der Verriegelungs-Freigabezeit das Sicherheitssystem auf seinen korrekten Betriebszustand zu überprüfen (Sp. 2 Z. 41-44); tritt ein Störfall ein, der zu einer unzulässigen Ansteuerung der Zündendstufe führen müsste, ist durch die zeitverzögerte Freigabe noch für eine gewisse Zeitspanne ein "rettendes Eingreifen" möglich, etwa durch das Eingreifen einer weiteren, nicht gestörten Recheneinheit (Sp. 2 Z. 56 - Sp. 3 Z. 11). Die Freigabe ist damit (ohne dass dies in Patentanspruch 1 explizit zum Ausdruck kommt, im Sinn einer logischen UND-Verknüpfung und damit einer zweifachen Aktivierungsbedingung) für ein "rettendes Eingreifen" zeitverzögert (vgl. Sp. 3 Z. 1-3), bis sowohl das Auslösesignal nach Überschreiten des Schwellwerts und Ablauf der Ansprechzeit als auch die Verriegelungs-Freigabezeit verstrichen sind.

Für eine sichere Schutzfunktion darf die Verriegelungs-Freigabezeit eine "bestimmte Zeitspanne nicht überschreiten" (Sp. 2 Z. 30-35); nach Merkmal (3.2) hat sie kleiner als die Ansprechzeit (ta) des Auslösesensors (Merkmal 1.1) zu sein. Da die Dauer der Ansprechzeit nicht definiert ist, sondern diese einerseits insbesondere zu laufen beginnen kann, sobald mit der Integration begonnen wird, sie andererseits mit dem Erreichen des Schwellwerts für die Auslösung endet, die wiederum crash- und fahrzeugspezifisch zu bestimmen ist, ist dem gerichtlichen Sachverständigen zwar darin beizutreten, dass eine eindeutige und vollständige Charakterisierung der zeitlichen Abläufe im Rückhaltesystem fehlt; dies steht der Ausführbarkeit jedoch nicht entgegen. Das Merkmal (3.2) ist nämlich dahin zu verstehen, dass die Verriegelungs-Freigabezeit kleiner als alle in Betracht kommenden Ansprechzeiten zu sein hat (vgl. die Formulierung in Sp. 2 Z. 13-17 und Sp. 10 Z. 10-14, wonach die Verriegelungs-Freigabezeit kleiner als "eine" Ansprechzeit des Auslösesensors ist). Der Fachmann wird die Verriegelungs-Freigabezeit jedenfalls möglichst klein und gerade so groß wählen, dass sie ihre Funktion erfüllen kann, mithin ein "rettendes Eingreifen" erlaubt.

II.

Das Streitpatent offenbart die Erfindung so eindeutig und vollständig, dass ein Fachmann sie ausführen kann.

1.

Das Patentgericht hat seine abweichende Auffassung damit begründet, dass die Parteien zentrale Beschreibungsstellen der Streitpatentschrift jeweils gegensätzlich auslegten. Nach der Beschreibung (Sp. 2 Z. 35-41) sei es erforderlich, dass der vom Auslösesensor kommende Auslöseimpuls der entriegelten Zündendstufe zugeleitet werde, damit eine Systemaktivierung erfolgen könne; es müsse mithin bis zu diesem Zeitpunkt die erfindungsgemäße Verriegelungsfreigabezeit abgelaufen sein. Dieser Angabe könne, wie die Klägerin meine, ohne weiteres entnommen werden, dass die Ansprechzeit und die Verriegelungsfreigabezeit parallel abliefen, wobei durch die Zeitbedingung im Patentanspruch 1 die Verriegelungs-Freigabezeit vor der Ansprechzeit ende, um den Auslöseimpuls auf eine zuvor entriegelte Zündendstufe zu leiten. Die Angabe könne aber auch mit der Beklagten in dem Sinn interpretiert werden, dass die durch einen Crash eingeleitete Ansprechzeit mit einem Auslöseimpuls ende und erst zu diesem Zeitpunkt die Verriegelungsfreigabezeit zu laufen beginne, nach deren Ende der Auslöseimpuls auf eine entriegelte Zündendstufe treffe und das Sicherheitssystem auslöse. Auch zwei weitere Beschreibungsstellen (Sp. 12 Z. 5-8: "Nach Ablauf der Ansprechzeit des Auslösesensors muss die Freigabe der Endstufen für die Zündung erfolgt sein."; Sp. 2 Z. 48-56: "Im Normalbetrieb ist somit aufgrund der Sperrschaltung eine dauernde Verriegelung der Zündendstufe gegeben, die erst dann, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt eine gewollte Auslösung des Insassen-Sicherheitssystems erfolgen soll, so frühzeitig aufgehoben wird, dass bis zum eigentlichen Zündzeitpunkt die Zeitverzögerung (Verriegelungs-Freigabezeit) abgelaufen ist.") interpretierten die Parteien unterschiedlich. Im Ergebnis habe die mündliche Verhandlung ergeben, dass beide sich widersprechenden Interpretationen der zur Entscheidung vorliegenden Erfindung technisch nachvollziehbar und in ihrer jeweiligen Lesart auch Gegenstand der Offenbarung der Erfindung seien. Die weitere Offenbarung des Streitpatents enthalte keine Hinweise, dass eine der beiden Interpretationen ausgeschlossen sei. Da sich beide Interpretationen auf dieselben Offenbarungsstellen beriefen, könne es sich nicht um zwei alternative Ausführungsbeispiele derselben Erfindung handeln. Mithin gebe das Streitpatent in seiner Gesamtheit dem Durchschnittsfachmann keine so deutliche und vollständige Offenbarung, dass er sie eindeutig identifizieren (ausführen) könne.

2.

Das hält der Nachprüfung nicht stand.

Zunächst hat das Patentgericht der in ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 171, 120 Tz. 18 - Kettenradanordnung; BGHZ 172, 108 Tz. 13 - Informationsübermittlungsverfahren I; BGHZ 172, 298 Tz. 22 - Zerfallszeitmessgerät; BGH, Urt. v. 31.3.2009 - X ZR 95/05 - Straßenbaumaschine, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen) formulierten Anforderung nicht genügt, dass das Gericht ein Patent selbstständig ohne Bindung an die Auffassung der Parteien oder eines Sachverständigen auszulegen hat. Insbesondere genügt das Urteil, beide Lesarten seien "technisch nachvollziehbar", nicht der Forderung, unter Berücksichtigung der Funktion der einzelnen Merkmale und ihrer Stellung im Zusammenhang des Patentanspruchs zu ermitteln, welche technische Lehre das Streitpatent zur Lösung des ihm zugrunde liegenden technischen Problems gibt, und hierbei den gesamten Inhalt der Beschreibung auszuschöpfen.

Aus dem Streitpatent in seiner erteilten Fassung ergab sich allerdings, wie das Patentgericht insoweit zutreffend angenommen hat, keine Festlegung darauf, dass die Verriegelungs-Freigabezeit im Anschluss an die Ansprechzeit laufen musste. Vielmehr erfasste das Streitpatent in seiner erteilten Fassung auch den Fall, dass Ansprechzeit und Verriegelungs-Freigabezeit teilweise oder in vollem Umfang parallel liefen. Darin lag aber entgegen der Auffassung des Patentgerichts kein Mangel der ausführbaren Offenbarung.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Notwendigkeit einer eindeutigen Identifizierbarkeit der Erfindung, auf die sich das Patentgericht in der Sache gestützt hat (BGHZ 57, 1, 3 - Trioxan; fortgeführt in BGHZ 92, 129, 134 - Acrylfasern und in dem Beschluss vom 11.10.1983 - X ZB 16/82, BlPMZ 1984, 211, 213 - optische Wellenleiter), ist durchwegs zum nationalen Patentrecht vor 1978 und zudem nicht zur Prüfung im Patentnichtigkeitsverfahren, sondern in dem nicht vollständig übereinstimmenden Grundsätzen unterliegenden Erteilungsverfahren ergangen und zu dem seither geltenden nationalen Recht vom Bundesgerichtshof nicht übernommen worden. Dies gilt erst recht für das hier maßgebliche Europäische Patentübereinkommen und für dessen nationale Umsetzung (Art. 138 Abs. 1 Buchst. b EPÜ; Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜG). Sie ist im Hinblick auf die Neuregelung der Nichtigkeitsgründe im Rahmen der europäischen Harmonisierung auch nicht unbesehen auf das geltende Recht übertragbar (vgl. Melullis in Benkard, EPÜ, 2002, Rdn. 97 zu Art. 52 EPÜ; Keukenschrijver in Busse, PatG , 6. Aufl. 2003, Rdn. 14 zu § 1 PatG ; Bacher/Melullis in Benkard, PatG GebrMG , 10. Aufl. 2006, Rdn. 74b zu § 1 PatG ). Die Identifizierbarkeit kann im Patentnichtigkeitsverfahren dann von Bedeutung sein, wenn ihr Fehlen der ausführbaren Offenbarung der Erfindung entgegensteht. Dies ist aber nicht bereits dann der Fall, wenn für den Aussagegehalt der geschützten Lehre verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bleiben. In einem solchen Fall muss zunächst geklärt werden, welche Auslegung die zutreffende ist (vgl. BGHZ 156, 179 , 186 - blasenfreie Gummibahn I). In dieser Auslegung ist der Patentanspruch sodann der Beurteilung auf Patentfähigkeit zugrunde zu legen. Ob das Patent in dieser Auslegung die Erfindung ausführbar offenbart, bedarf sodann der Prüfung im Einzelfall. Soweit die Unklarheit lediglich einen Verstoß gegen Art. 84 Satz 2 EPÜ begründet, ohne dadurch zugleich der Ausführbarkeit entgegenzustehen, füllt dies für sich keinen der gesetzlich vorgesehenen Nichtigkeitsgründe aus.

3.

Mit der im Berufungsverfahren vorgenommenen Einfügung in Patentanspruch 1 beschränkt die Beklagte das Patent nunmehr auf die Alternative, nach der sich die Verriegelungs-Freigabezeit an die Ansprechzeit anschließt. Hiergegen bestehen keine Bedenken, denn diese Alternative ist im Streitpatent mit hinreichender Deutlichkeit offenbart (Sp. 4 Z. 10-21; Sp. 6 Z. 25-50; Sp. 11 Z. 36-46). Diese Offenbarung findet sich übereinstimmend auch bereits in den ursprünglichen Unterlagen (Beschr. S. 5; S. 9/10).

4.

Dass das Streitpatent die Bemessung der Ansprechzeit nicht festlegt, steht der Ausführbarkeit im Sinn des angezogenen Nichtigkeitsgrunds des Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜG ebenfalls nicht entgegen. Eine Möglichkeit zur Bestimmung der Ansprechzeit besteht, wie bereits ausgeführt, darin, diese vom Beginn der Integration bis zum Erreichen des Schwellwerts zu bemessen. Geht man hiervon aus, so konnte der Fachmann auch die maximale Länge der Verriegelungs-Freigabezeit in Abhängigkeit von der so definierten Ansprechzeit bestimmen. Das reicht für die Ausführbarkeit der unter Schutz gestellten Erfindung jedenfalls aus, denn insoweit kann lediglich verlangt werden, dass ein nacharbeitbarer Weg offenbart ist, mit dem das der Erfindung zugrunde liegende Problem tatsächlich gelöst wird (BGHZ 147, 306 , 317 - Taxol; vgl. Meier-Beck, Der zu breite Patentanspruch, Festschrift für Eike Ullmann (2006), 495, 502). Dass eine allgemeingültige Definition der Ansprechzeit zur Verfügung gestellt wird, kann für die ausführbare Offenbarung dagegen nicht verlangt werden. Das Streitpatent offenbart zudem einen Weg, die Verriegelungs-Freigabezeit darzustellen, nämlich durch die für die Wiederaufladung eines Kondensators C bis zu einem Punkt, an dem ein Komparator K umschaltet, benötigte Zeit (Beschr. Sp. 10 Z. 5-10; vgl. Beschr. Sp. 5 Z. 45-47).

III.

Im Berufungsverfahren haben sich keine Erkenntnisse ergeben, die das Ergebnis tragen können, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents nicht neu sei (Art. 54 EPÜ) oder die Wertung zuließen, dass er sich in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergebe (Art. 56 EPÜ).

1.

Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents ist neu.

a)

Die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 11 680 (Robert Bosch GmbH; D1) beschreibt eine Prüfschaltung für die Auslösevorrichtung einer dem Schutz der Insassen während eines Unfalls dienenden Sicherheitseinrichtung, bei der ein Auslösesignal durch das Prüfprogramm simuliert wird.

Bei Einschalten der Versorgungsspannung (U15) für die Auslösevorrichtung (10) läuft ein zweistufiges Prüfprogramm zur Überprüfung der Auswerteelektronik (13) und des Endstufentransistors (14) ab. Damit es während des Ablaufs des Prüfprogramms nicht zu einer Aktivierung der Sicherheitseinrichtung kommen kann, ist in Reihe zum Endstufentransistor und zur Sicherheitseinrichtung ein zusätzlicher Transistor (16) geschaltet, der gesperrt bleibt, bis das Prüfprogramm abgelaufen ist. In einem ersten Schritt des Prüfprogramms wird mit Einschalten der Versorgungsspannung zum Zeitpunkt t0 bis zum Zeitpunkt t1 überprüft, ob der Endstufentransistor und der weitere Transistor 16 gesperrt sind. In einem zweiten Schritt wird sodann die Funktionsfähigkeit der Auswerteelektronik und des Endstufentransistors überprüft. Dazu wird der Auswerteelektronik zum Zeitpunkt t1 (Überschreiten der Schwellwertstufe 35) ein simuliertes Auslösesignal zugeführt. Wenn Auswerteelektronik und Endstufentransistor fehlerfrei arbeiten, wird der bisher gesperrte Endstufentransistor nach einer gewissen Verzögerungszeit in den leitenden Zustand überführt. Nachdem zum Zeitpunkt t2 das simulierte Auslösesignal zurückgenommen worden ist, wird der Endstufentransistor wieder gesperrt (S. 7 a.E.). Erst zum Zeitpunkt t3 wird der Transistor 16 in einen leitenden Zustand versetzt. Wenn bei einem Crashvorgang die Auswerteelektronik anspricht und den Endstufentransistor leitend schaltet, fließt bei leitendem Transistor 16 ein Zündstrom durch die Sicherheitseinrichtung, der in der Lage ist, diese auszulösen.

Diese Ausgestaltung entspricht nicht dem Merkmal (3.3) des Patentanspruchs 1 des Streitpatents, nach dem die Sperrschaltung nach Ablauf der Verriegelungs-Freigabezeit die Zündendstufe (d.h. hier den Endstufentransistor 14) entriegelt. Denn nach Ablauf des Zeitraums t1-t3, den die Klägerin als Verriegelungs-Freigabezeit ansehen will, entriegelt die Prüfschaltung den Endstufentransistor, der zuvor kurze Zeit nach dem Ende des Simulationssignals (t2) wieder gesperrt worden ist, nicht. Auch Merkmal (3.2) ist nicht verwirklicht, denn ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Zeitraum t1-t3 und einer Ansprechzeit des Auslösesensors, die, wie bereits ausgeführt, beim Streitpatent mit dem Beginn des Integrationsvorgangs beginnt und nicht mit dem Einschalten der Versorgungsspannung, wird in der Entgegenhaltung nicht hergestellt.

b)

Die deutsche Offenlegungsschrift 28 08 872 (Messerschmitt-Bölkow-Blohm GmbH; D3) betrifft eine Auslöseschaltung für eine Sicherheitseinrichtung mit einer Prüfschaltung. Dabei wird das Ausgangssignal eines Beschleunigungsaufnehmers in einer Auswerteschaltung mit einem Integrator ausgewertet, die Sicherheitseinrichtung wird bei Überschreiten eines Auslösewerts (Schwellwert) ausgelöst, und von einer Prüfschaltung werden Referenzimpulse ausgegeben und mit Prüfimpulsen verglichen, die in bestimmten Zeitintervallen (getaktet) abgegeben werden können. Auch hier ist das Prinzip des Entriegelns nicht verwirklicht (Merkmal 3.3), und auch die Zeitbedingung ta > tv (Merkmal 3.2) wird nicht gelehrt.

c)

Die deutsche Offenlegungsschrift 22 25 709 (Nissan Motor Co. Ltd.; D4) beschreibt ein elektronisches Kollisionsdetektorsystem für Kraftfahrzeuge, bei dem durch einen Kollisionsdetektor ein Kollisionssignal und durch einen Verzögerungsdetektor ein tiefpassgefiltertes Realverzögerungssignal erzeugt werden, und weiter in einem Vergleicher ein Treibersignal erzeugt wird, wenn das Realverzögerungssignal ein in einem Funktionsgenerator erzeugtes Bezugsverzögerungssignal übersteigt, und das Treibersignal die Sicherheitsvorrichtung betätigt. Während des Testbetriebs, bei dem das Sicherheitssystem auf seine ordnungsgemäße Funktion getestet wird, kommt es dabei zu einer Sperrung der Rückhaltemittel (S. 6 letzter Abs.). Auch hier wird ein Zusammenhang zwischen der Ansprechzeit und der Verriegelungs-Freigabezeit nicht hergestellt, insbesondere nicht in dem Sinn, dass die Verriegelungs-Freigabezeit kleiner als die Ansprechzeit sein soll (Merkmal 3.2).

d)

Die wie die zugehörige Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 402 622 (B3), die nicht für die Bundesrepublik Deutschland erfolgt und damit nach Art. 54 Abs. 3, 4 EPÜ in der bis zum 13. Dezember 2007 geltenden und auf das Streitpatent noch anzuwendenden Fassung (vgl. Moufang in Schulte, PatG , 8. Aufl. 2008, Rdn. 88 zu § 3) insgesamt nicht zu berücksichtigen ist, nachveröffentlichte, aber zeitrangältere deutsche Patentschrift 39 19 376 (Daimler-Benz AG; D2), die nur für die Neuheitsprüfung relevant ist (Art. 56 Satz 2 EPÜ), beschreibt eine Zündvorrichtung für eine Insassenschutzvorrichtung in einem Fahrzeug. Dabei ist der Schalter des elektronischen Schlosses erst dann ansteuerbar, wenn spätestens bei Beaufschlagung mit einem zur Aktivierung vorgesehenen Zündsignal auch ein Entriegelungssignal übertragen worden ist. Auch hierbei ist jedenfalls eine Verriegelungs-Freigabezeit nicht offenbart und damit auch nicht die Zeitbedingung (Merkmal 3.2).

e)

Die deutsche Offenlegungsschrift 36 39 065 (Robert Bosch GmbH; BB13) betrifft ein Verfahren und eine Vorrichtung zur Überwachung rechnergesteuerter Stellglieder. Die Steuersignale werden am Ausgang eines Prozessrechners (10) einer Auswerteschaltung (18) zugeführt und während der Prüfzeit wird die Weitergabe des Steuersignals an den Eingang (28) des Stellglieds (12) zeitlich verzögert. Wird mittels der Auswerteschaltung festgestellt, dass das Steuersignal korrekt ist, wird der Zeitverzögerungsschaltung (30) über ein Freigabesignal am Eingang (36) signalisiert, dass das Steuersignal über den Ausgang (46) dem Eingang (28) des Stellglieds zuzuführen ist.

Damit fehlt es, worauf die Beklagte zutreffend hingewiesen hat, an einer Entriegelung der bis zum Ablauf der Verriegelungs-Freigabezeit verriegelten Zündendstufe im Sinn des Merkmals (3.3). Dem Stellglied (12) wird zwar - ordnungsgemäße Funktion der Zeitverzögerungsschaltung vorausgesetzt - nur dann ein die Zündendstufe durchschaltendes Steuersignal zugeführt, wenn das Freigabesignal am Eingang (36) anliegt. Darin ist jedoch mit dem gerichtlichen Sachverständigen keine die Zündendstufe (ver- und) entriegelnde Sperrschaltung zu sehen. Verriegelt ist die Zündendstufe vielmehr nur dann, wenn die Zündung trotz anliegenden Steuersignals nicht erfolgen kann. Vorkehrungen hierfür sieht die Veröffentlichung nicht vor. Zudem wird nur gelehrt, dass die Ansprechverzögerung durch die Prüfung gering gehalten werden muss und so zu bemessen ist, "dass die Funktionsweise einer mit einem Rechner gesteuerten Stellglied ausgerüsteten Anlage nicht beeinträchtigt wird" (Sp. 4 Z. 25-32); die Verzögerungsdauer kann "auf die jeweils kürzest mögliche Zeitdauer" beschränkt werden (Sp. 4 Z. 67 - Sp. 5 Z. 1). Damit ist die Beziehung ta > tv im Sinn des Merkmals (3.2) nicht offenbart.

2.

Die Ergebnisse der Verhandlung und Beweisaufnahme erlauben nicht die Würdigung, dass der Gegenstand des verteidigten Patentanspruchs 1 des Streitpatents dem Fachmann aus dem Stand der Technik nahegelegt war.

Die von der Klägerin zur Begründung des Naheliegens herangezogene deutsche Offenlegungsschrift 30 01 780 (Becker Autoradiowerk GmbH; D8) beschreibt, wie die Beklagte zutreffend darlegt, keine Sperrschaltung und somit weder eine Ver- noch eine Entriegelung der Zündendstufe. Der Senat vermag nicht zu erkennen und es wird auch von der Klägerin nicht dargelegt, inwiefern durch sie oder die bei der Neuheit erörterten Entgegenhaltungen eine nicht nur bei der Einschaltung des Systems, sondern auch während des normalen Fahrzeugbetriebs wirksame Sperrschaltung für die Zündendstufe mit einer an die Ansprechzeit des Auslösesensors anschließenden und zu dieser in zeitliche Beziehung gesetzten Verriegelungsfreigabezeit angeregt sein sollte. Erst recht ergeben hierfür die weiteren entgegengehaltenen Schriften nichts, auf die auch die Klägerin bei der Diskussion der erfinderischen Tätigkeit nicht zurückgekommen ist.

IV.

Die nachgeordneten Patentansprüche 2 bis 15 erweisen sich in ihrer Rückbeziehung auf den verteidigten Patentanspruch 1 als schutzfähig.

V.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG i.V.m. §§ 91 , 92 ZPO .

Hinweise:

Verkündet am: 30. April 2009

Vorinstanz: BPatG, 4 Ni 36/03 vom 11.08.2004,
Fundstellen
BGHReport 2009, 841
GRUR 2009, 749
GRURInt 2009, 934