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BAG - Entscheidung vom 28.05.2009

2 AZR 732/08

Normen:
KSchG § 4
KSchG § 5
KSchG § 4
KSchG § 5

Fundstellen:
AP KSchG 1969 § 5 Nr. 16
ArbRB 2009, 355
AuR 2009, 437
BAGE 131, 105
DB 2009, 2388
MDR 2010, 158
NZA 2009, 1229

BAG, Urteil vom 28.05.2009 - Aktenzeichen 2 AZR 732/08

DRsp Nr. 2009/22675

Voraussetzungen für die Entscheidung über den hilfsweise gestellten Antrag auf nachträgliche Klagezulassung

Das Gericht darf über den Hilfsantrag auf nachträgliche Klagezulassung nur entscheiden, wenn es zu der Ansicht gelangt ist, der Kläger habe gegen eine ihm zugegangene und dem Arbeitgeber zurechenbare schriftliche Kündigungserklärung verspätet Klage erhoben. Orientierungssätze: 1. Die zum 1. April 2008 in Kraft getretene Neuregelung des § 5 KSchG hat das sog. Verbundverfahren als Regelfall eingeführt. 2. Eine Vorabentscheidung über den Antrag auf nachträgliche Klagezulassung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 KSchG setzt voraus, dass die Klagefrist tatsächlich versäumt ist. Sind Zugang oder Zugangszeitpunkt der Kündigung streitig, darf das Gericht über einen hilfsweise gestellten Antrag auf nachträgliche Klagezulassung vorab nur entscheiden, wenn es die Überzeugung gewonnen hat, die Klagefrist sei versäumt. 3. Zu den im eigenen Interesse bestehenden Obliegenheiten des Inhabers eines Hausbriefkastens gehört es, Vorsorge dafür zu treffen, dass er von den für ihn bestimmten, eingeworfenen Sendungen auch Kenntnis nehmen kann. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass eingeworfene Sendungen dem Inhaber eines Briefkastens ohne sein Verschulden ausnahmsweise nicht zur Kenntnis gelangen.

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg - Kammern Mannheim - vom 7. Mai 2008 - 12 Sa 63/08 - aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

Normenkette:

KSchG § 4 ; KSchG § 5 ;

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die nachträgliche Zulassung einer Kündigungsschutzklage.

Der verheiratete und drei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 20. September 1993 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Produktionsmitarbeiter beschäftigt. Er erlitt am 26. April 2005 einen Arbeitsunfall. Seit Herbst 2006 ist er wegen Schulterschmerzen arbeitsunfähig krank. In der Zeit vom 14. März 2007 bis zum 19. März 2007 befand sich der Kläger im Krankenhaus und wurde am 15. März 2007 operiert.

Am 14. Februar 2007 teilte ein Betriebsratsmitglied dem Kläger telefonisch mit, die Beklagte beabsichtige, ihm zu kündigen.

Mit der am 10. April 2007 beim Arbeitsgericht eingegangen Klage hat sich der Kläger gegen eine Kündigung der Beklagten vom 15. Februar 2007 gewandt und einen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage gestellt.

Der Kläger hat den Zugang eines Kündigungsschreibens der Beklagten bestritten. Unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung hat er weiter ausgeführt: Er habe erst am 10. April 2007 von einem Mitarbeiter der Personalabteilung der Beklagten von der Kündigung erfahren. Den Hausbriefkosten leere er selbst, seine Ehefrau oder seine 17-jährige Tochter. Den beiden anderen Familienmitgliedern habe er ausdrücklich aufgetragen, ihm jeden Brief der Firma unverzüglich vorzulegen. Ein Kündigungsschreiben hätten weder er noch seine Ehefrau oder seine Tochter im Briefkasten vorgefunden. Sollte das Kündigungsschreiben in seinen Hausbriefkasten eingeworfen worden sein, so sei die Klagefrist unverschuldet versäumt worden. Er habe von dem Kündigungsschreiben keine Kenntnis nehmen können.

Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - beantragt,

die verspätet erhobene Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung vom 15. Februar 2007 nachträglich zuzulassen.

Die Beklagte hat zur Begründung ihres Zurückweisungsantrags ua. ausgeführt: Dem nachträglichen Zulassungsantrag fehle es am notwendigen Rechtsschutzinteresse. Nach seinem eigenen Vortrag könne die Klage überhaupt nicht verspätet erhoben worden sein, weil der Kläger stets behauptet habe, keine Kündigung erhalten zu haben. Sie hat weiter vorgetragen: Sie habe mit Schreiben vom 15. Februar 2007 das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 31. Juli 2007 aus krankheitsbedingten Gründen rechtswirksam gekündigt. Die schriftliche Kündigungserklärung sei noch am gleichen Tag (gegen 15:00 Uhr) durch einen Boten in den Briefkasten des Klägers eingeworfen worden. Als Inhaber des Hausbriefkastens sei seine Behauptung, er habe das Kündigungsschreiben nicht erhalten, nicht ausreichend. Sein Vortrag schließe beispielsweise eine unzureichende Kontrolle des Briefkastens oder ein Wegwerfen des Kündigungsschreibens zusammen mit Werbeprospekten durch seine Angehörigen nicht aus.

Das Arbeitsgericht hat den nachträglichen Klagezulassungsantrag des Klägers zurückgewiesen. Erst danach hat es über den Zugang der Kündigung Beweis erhoben. In der (Haupt-)Sache hat es noch nicht entschieden.

Auf die Beschwerde des Klägers hat das Landesarbeitsgericht den Beschluss des Arbeitsgerichts ohne mündliche Verhandlung durch Urteil abgeändert und die Kündigungsschutzklage nachträglich zugelassen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 28. August 2008 (- 2 AZN 583/08 -) zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Abänderung des landesarbeitsgerichtlichen Urteils und die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet.

I. Entgegen der Auffassung der Beklagten durfte das Landesarbeitsgericht über die sofortige Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 5 Abs. 4 KSchG nF; § 128 Abs. 2 ZPO ).

1. Über die sofortige Beschwerde des Klägers konnte das Landesarbeitsgericht in Form des (Zwischen-)Urteils gem. § 5 Abs. 4 KSchG in der ab dem 1. April 2008 in Kraft getretenen Neufassung entscheiden (vgl. Senat 11. Dezember 2008 - 2 AZR 472/08 - mit weiteren Hinweisen auf die Literatur und die Rechtsprechung in B I der Entscheidungsgründe, NZA 2009, 692 ). Dies folgt aus den Grundsätzen zum intertemporalen Prozessrecht. Es sind im Entscheidungsfall auch keine Gründe ersichtlich, die ausnahmsweise ein Abweichen vom Grundsatz der Anwendbarkeit des neuen Prozessrechts auf schwebende Verfahren gebieten (vgl. insoweit bereits die Ausführungen des Senats in der bereits zitierten Entscheidung vom 11. Dezember 2008 - 2 AZR 472/08 - aaO.).

2. Das Landesarbeitsgericht konnte auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Da § 64 Abs. 7 ArbGG die Regelung des § 46 Abs. 2 Satz 2 ArbGG nicht in Bezug nimmt, kann in einem Berufungsverfahren die Kammer des Landesarbeitsgerichts mit Zustimmung der Prozessparteien eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 128 Abs. 2 Satz 1 ZPO treffen (Germelmann in Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge ArbGG 6. Aufl. § 64 Rn. 129; Hauck in Hauck/Helml ArbGG 3. Aufl. § 64 Rn. 13a; Schwab/Weth/Schwab ArbGG 2. Aufl. § 64 Rn. 236; GK-ArbGG/Vossen Stand Dezember 2005 § 64 Rn. 131).

Die Zustimmungserklärungen der Parteien lagen hier vor. Nachdem das Landesarbeitsgericht mit seinem Beschluss vom 16. April 2008 darauf hingewiesen hatte, dass aufgrund der Änderung des § 5 Abs. 4 KSchG beabsichtigt sei, über die Beschwerde durch Urteil - der Kammer - zu befinden und zugleich um die Mitteilung eines Einverständnisses, "im schriftlichen Verfahren gem. § 128 Abs. 2 ZPO " zu entscheiden, nachgesucht hatte, haben sowohl der Kläger mit Schriftsatz vom 21. April 2008 als auch die Beklagte mit Schriftsatz vom 24. April 2008 ihr Einverständnis erklärt.

II. Das Landesarbeitsgericht durfte die Kündigungsschutzklage nicht nachträglich durch Urteil zulassen.

1. Das Landesarbeitsgericht durfte schon nicht offen lassen, ob und wann das Kündigungsschreiben der Beklagten dem Kläger überhaupt zugegangen ist. Einer Entscheidung über den Hilfsantrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage bedarf es nur, wenn der Kläger die Klagefrist überhaupt versäumt hat. Insoweit fehlt es an einer gerichtlichen Begründung und an tatsächlichen Feststellungen.

a) Voraussetzung für die Entscheidung über einen Hilfsantrag auf nachträgliche Zulassung einer Kündigungsschutzklage ist die Versäumung der Klagefrist. Der Senat hatte bereits zur alten Fassung des § 5 KSchG , die ein zwingendes Vorabentscheidungsverfahren vorsah, entschieden, dass das Gericht nur über einen nachträglichen Klagezulassungsantrag entscheiden kann, wenn nach seiner Auffassung die Klage verspätet erhoben worden ist (28. April 1983 - 2 AZR 438/81 - BAGE 42, 294; 5. April 1984 - 2 AZR 67/83 - BAGE 45, 298). Der Arbeitnehmer stelle nämlich den Antrag auf nachträgliche Klagezulassung grundsätzlich nur - wie hier - hilfsweise für den Fall, dass die Kündigungsschutzklage tatsächlich verspätet beim Gericht erhoben worden ist (Senat 28. April 1983 - 2 AZR 438/81 - aaO.; Stahlhacke/Vossen 9. Aufl. Rn. 1870; MünchKommBGB/Hergenröder 5. Aufl. §5 KSchG Rn. 26; BBDK/Kriebel Stand Juli 2008 § 5 Rn. 162). Daran hat die zum 1. April 2008 in Kraft getretene Neuregelung des § 5 KSchG nichts geändert. Sie verstärkt vielmehr durch einen Verzicht auf das früher obligatorische Zwischenverfahren und die Einführung des sog. Verbundverfahrens als Regelfall (vgl. BT-Drucks. 16/7716 S. 14; Francken/Natter/Rieker NZA 2008, 377, 380) die bisherige Rechtslage. Auch bei einer ausnahmsweisen Vorabentscheidung durch Zwischenurteil muss das Gericht weiterhin Feststellungen zur verspäteten Klageerhebung (ErfK/Kiel 9. Aufl. § 5 KSchG Rn. 29; KR/Friedrich 9. Aufl. § 5 KSchG Rn. 169c; BBDK/Kriebel § 5 Rn. 162) bzw. dazu treffen, ob überhaupt eine dem Arbeitgeber zurechenbare schriftliche Kündigung vorliegt, ob und wann die Kündigungserklärung dem Arbeitnehmer zugegangen und wann die Klage beim Arbeitsgericht eingegangen ist (HWK/Quecke 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 14). Über einen (Hilfs-)Antrag auf nachträgliche Zulassung einer verspätet erhobenen Kündigungsschutzklage kann deshalb nur entschieden werden, wenn das Tatsachengericht zu der Ansicht gelangt ist, dem Arbeitnehmer sei überhaupt eine Kündigungserklärung zugegangen (vgl. KR/Friedrich § 5 KSchG Rn. 200 mwN). Das Gericht darf deshalb nicht von einer Prüfung der Voraussetzungen bzgl. der Einhaltung bzw. Versäumung der Klagefrist absehen (MünchKommBGB/Hergenröder § 5 KSchG Rn. 27; ErfK/Kiel § 5 KSchG Rn. 29). Für dieses Verständnis der Norm spricht neben deren Wortlaut, der die Verspätung der Klage zur Antragsvoraussetzung macht, auch der Umstand, dass eine "Verfristung" für den Kündigungsschutzantrag präjudizielle Bindungswirkung hat (Senat 28. April 1983 - 2 AZR 438/81 - aaO.; 5. April 1984 - 2 AZR 67/83 - aaO.; MünchKommBGB/Hergenröder § 5 KSchG Rn. 27; APS/Ascheid/Hesse 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 129; Stahlhacke/Vossen Rn. 1871; Schwab FA 2008, 135; aA: LAG Köln 30. Mai 2007 - 9 Ta 51/07 - NZA-RR 2007, 521 ; LAG Sachsen-Anhalt 22. Oktober 1997 - 5 Ta 229/97 - LAGE KSchG § 5 Nr. 92; DFL/Bröhl 2. Aufl. § 5 KSchG Rn. 14; HWK/Quecke § 5 KSchG Rn. 14 und 19; HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 Rn. 83). Hinzu kommen nach dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung, nach der der Gesetzgeber eine Beschleunigung des Kündigungsrechtsstreits intendiert hat (vgl. hierzu BT-Drucks. 16/7716 S. 33 f.; Francken/Natter/Rieker NZA 2008, 377, 380), noch prozessökonomische Gründe. Entscheidet sich das Gericht abweichend vom Regelfall für eine Entscheidung im sog. Zwischenverfahren, lässt es sich nicht rechtfertigen, einen Streit über eine nachträgliche Klagezulassung über drei Instanzen zu führen, ohne dass dessen Basis, nämlich ob überhaupt die Klage verspätet erhoben wurde, geklärt ist. Ansonsten könnte das - isolierte - nachträgliche Klagezulassungsverfahren ins Leere laufen, wenn bspw. nach einer späteren rechtskräftigen Zurückweisung des Antrags auf nachträgliche Klagezulassung nicht nur im Einzelnen (erstmals) geprüft und festgestellt wird, dass die Klagefrist gar nicht versäumt wurde (vgl. MünchKommBGB/Hergenröder § 5 KSchG Rn. 30; APS/Ascheid/Hesse § 5 KSchG Rn. 129).

b) Die Beurteilung, ob der Kläger die Klagefrist versäumt hat, hängt hier davon ab, ob und wann das Kündigungsschreiben dem Kläger zugegangen ist. Ein entsprechender Zugang des Kündigungsschreibens und eine daraus resultierende verspätete Erhebung der Kündigungsschutzklage wird deshalb das Landesarbeitsgericht zunächst - ggf. durch eigene Ermittlungen - festzustellen haben.

2. Darüber hinaus kann aufgrund der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ein nachträglicher Zulassungsgrund noch nicht angenommen werden.

a) Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist eine Kündigungsschutzklage nachträglich zuzulassen, wenn der Arbeitnehmer nach erfolgter Kündigung trotz Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert war, die Klage rechtzeitig beim Arbeitsgericht zu erheben. Der Antrag auf nachträgliche Klagezulassung muss die Angabe der die nachträgliche Klagezulassung begründenden Tatsachen und der Mittel für deren Glaubhaftmachung enthalten (§ 5 Abs. 2 Satz 2 KSchG ).

b) Im Entscheidungsfall hat das Landesarbeitsgericht bisher keine ausreichenden, glaubhaft gemachten Tatsachen und Umstände festgestellt, die ein Verschulden des Klägers an der Einhaltung einer rechtzeitigen Klageerhebung ausschließen.

aa) Gelangt ein Kündigungsschreiben in den Hausbriefkasten eines Arbeitnehmers, kann er als Empfänger dieser verkörperten Kündigungserklärung eine nachträgliche Klagezulassung nicht allein darauf stützen, dieses Schreiben sei aus ungeklärten Gründen nicht zu seiner Kenntnis gelangt (KR/Friedrich 9. Aufl. § 5 KSchG Rn. 79; LAG Rheinland-Pfalz 23. Mai 2008 - 10 Ta 64/08 -). Der Inhaber eines Hausbriefkastens muss grundsätzlich dafür Sorge tragen und Vorsorge treffen, dass er von für ihn bestimmte Sendungen Kenntnis nehmen kann. Dies entspricht den Gepflogenheiten des Verkehrs und wird von ihm erwartet (KR/Friedrich § 5 KSchG Rn. 79; LAG Hamm 11. April 1974 - 8 Ta 28/74 - DB 1974, 1072; LAG Berlin 4. Januar 1982 - 9 Ta 5/81 - AP KSchG 1969 § 5 Nr. 3 = EzA KSchG § 5 Nr. 13; 4. November 2004 - 6 Ta 1733/04 - LAGE KSchG § 5 Nr. 109; LAG Rheinland-Pfalz 27. Juli 2005 - 2 Ta 148/05 -; 12. März 2007 - 11 Ta 217/06 -; 23. Mai 2008 - 10 Ta 64/08 -). Allerdings hat der Empfänger einer Kündigungserklärung nur die üblichen, für den Zugang von Sendungen nötigen Vorkehrungen zu treffen (BGH 15. Juni 1994 - IV ZB 6/94 - NJW 1994, 2898 ). Allein eine Unaufklärbarkeit, ob und warum ein Schreiben abhanden gekommen sein kann, indiziert nicht stets eine mangelnde Sorgfalt und eine verschuldete Fristversäumnis des Empfängers. Es ist nicht gesichert, dass durch den Einwurf eines Schreibens in einen Hausbriefkasten eines Arbeitnehmers er stets von ihm Kenntnis hätte nehmen können (BGH 5. Oktober 2000 - X ZB 13/00 - NJW-RR 2001, 571 , 572). Solche Schreiben können auch bei einwandfreier Organisation des Empfangsbereichs - bspw. durch Fremdverschulden - verloren gehen oder zerstört werden, ohne dass der Empfänger davon Kenntnis erhält. Deshalb und im Hinblick auf die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes dürfen - auch wenn der Arbeitnehmer als Empfänger eines solchen Schreibens die Beweislast für eine unverschuldete Fristversäumnis trägt (vgl. ErfK/Kiel 9. Aufl. § 5 KSchG Rn. 22; KR/Friedrich § 5 KSchG Rn. 112) - an die Darlegungslast des Antragstellers bei der nachträglichen Klagezulassung zwar strenge (vgl. MünchKommBGB/Hergenröder 5. Aufl. § 5 KSchG Rn. 3 mwN), aber keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. Allerdings wird es regelmäßig zur Darlegung einer unverschuldeten Fristversäumnis nicht ausreichen, wenn sich ein Arbeitnehmer allein und pauschal darauf beruft, ein Kündigungsschreiben sei weder von ihm noch von seiner Ehefrau oder seiner Tochter im Hausbriefkasten vorgefunden worden (LAG Rheinland-Pfalz 27. Juli 2005 - 2 Ta 148/05 -; KR/Friedrich § 5 KSchG Rn. 79). Vielmehr muss, da es nach der gesetzlichen Formulierung auf die Anwendung "aller" dem Arbeitnehmer zuzumutenden Sorgfalt ankommt, grundsätzlich durch eine nähere Darstellung und Glaubhaftmachung auch ein naheliegender - und ggf. verschuldeter - Verlust des Kündigungsschreibens in der Sphäre des Kündigungsempfängers ausgeschlossen werden. Zu einem entsprechendem Vortrag gehört deshalb zumindest die Darlegung, wer von den in Betracht kommenden Personen im fraglichen Zeitraum den Briefkasten geleert hat, ob - und ggf. welche - andere Postsendungen oder Reklame sich im Briefkasten befanden und wie mit diesen verfahren wurde. Dies gilt um so mehr, wenn der Arbeitnehmer mit der Übermittlung und dem Zugang einer Kündigung rechnen musste. In einem solchen Fall kann von ihm ein gesteigertes Maß an Aufmerksamkeit, Sorgfalt und eine entsprechende Darlegung der Umstände im Prozess erwartet werden.

bb) An einem solchen konkreten und glaubhaft gemachten Sachvortrag fehlt es hier. Der Kläger hat bisher nicht angegeben, wann und von wem an den Tagen nach dem 14. Februar 2007 der Briefkasten geleert worden ist (vgl. zu diesem Aspekt LAG Rheinland-Pfalz 12. März 2007 - 11 Ta 217/06 -) und welche Sendungen die Personen dem Briefkasten entnommen und wohin sie die Sendungen verbracht haben.

Das Landesarbeitsgericht wird diesen Aspekt, der nach seiner bisherigen Beurteilung konsequenterweise keine Rolle gespielt hat, näher aufklären müssen. Dabei ist das Berufungsgericht durch die Regelung des § 5 Abs. 3 iVm. Abs. 2 Satz 2 KSchG an einer weiteren Sachaufklärung nicht gehindert. Zwar sind nach Ablauf der Frist des § 5 Abs. 3 KSchG vorgebrachte Gründe und Mittel der Glaubhaftmachung nicht mehr zu berücksichtigen (vgl. KR/Friedrich 9. Aufl. § 5 KSchG Rn. 115 mwN). Das Landesarbeitsgericht hat aber verspätet vorgetragene Tatsachen und beigebrachte Mittel der Glaubhaftmachung zu beachten, wenn sie nur einen fristgerecht geltend gemachten Grund ergänzen, vervollständigen oder konkretisieren und darüber hinaus - wie hier - eine Pflicht des Gerichts nach § 139 ZPO bestanden hat, durch eine gerichtliche Nachfrage Unklarheiten oder Ungenauigkeiten zu beseitigen (KR/Friedrich § 5 KSchG Rn. 116 mwN; MünchKommBGB/Hergenröder 5. Aufl. § 5 KSchG Rn. 15).

Durch diese notwendigen Darlegungen und Erläuterungen wird dem Kläger auch nicht die Wahrnehmung effektiven Rechtsschutzes erschwert. Er musste schon nach seinem Vortrag aufgrund des Gesprächs mit dem Betriebsratsmitglied vom 14. Februar 2007 mit dem baldigen Zugang eines Kündigungsschreibens der Beklagten rechnen. Ihm oblag deshalb ein gesteigertes Maß an Aufmerksamkeit. Dies gilt um so mehr, als die Beklagte zutreffend darauf hingewiesen hat, der Kläger müsse auch ausschließen, dass das Kündigungsschreiben von ihm oder einer Angehörigen versehentlich entsorgt oder mit anderen Schreiben und Postsendungen vermengt worden sei.

cc) Andere Besonderheiten, wie beispielsweise ein bewusstes Zurückhalten des Kündigungsschreibens durch ein Familienmitglied (vgl. LAG Hamm 11. April 1974 - 8 Ta 28/74 - DB 1974, 1072; LAG Berlin 4. Januar 1982 - 9 Ta 5/81 - AP KSchG 1969 § 5 Nr. 3 = EzA KSchG § 5 Nr. 13; LAG Rheinland-Pfalz 27. Juli 2005 - 2 Ta 148/05 - und 12. März 2007 - 11 Ta 217/06 -; v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 5 Rn. 13) oder eine vergessene Aushändigung des Kündigungsschreibens durch ein Familienmitglied (vgl. insbesondere LAG Frankfurt am Main 15. November 1988 - 7 Ta 347/88 - LAGE KSchG § 5 Nr. 41), sind vom Kläger nicht behauptet und glaubhaft gemacht worden. Ob solche möglichen Ausnahmeumstände im Allgemeinen, wie das Landesarbeitsgericht meint, geeignet sein können, einen Verschuldensausschluss und eine unverschuldete Fristversäumnis annehmen zu können, kann deshalb dahingestellt bleiben.

Vorinstanz: LAG Baden-Württemberg, vom 07.05.2008 - Vorinstanzaktenzeichen 12 Sa 63/08
Vorinstanz: ArbG Karlsruhe, vom 31.10.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 4 Ca 141/07
Fundstellen
AP KSchG 1969 § 5 Nr. 16
ArbRB 2009, 355
AuR 2009, 437
BAGE 131, 105
DB 2009, 2388
MDR 2010, 158
NZA 2009, 1229