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BVerwG - Entscheidung vom 15.05.2008

5 C 17.07

Normen:
AusglLeistG § 1 Abs. 4

BVerwG, Urteil vom 15.05.2008 - Aktenzeichen 5 C 17.07

DRsp Nr. 2008/14998

NS-Entschädigungssrecht: Begriff des "schwerwiegenden Missbrauchs einer Stellung"

»Eine Unterschreitung des in Anknüpfung an den Einheitswert geschätzten Verkehrswertes um mehr als 25 v.H. begründet dann keinen schwerwiegenden Missbrauch einer Stellung im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG bzw. § 7a Abs. 3b Satz 2 VermG, wenn der Kaufpreis besonderen Umständen des Einzelfalles Rechnung trägt (hier: vom Käufer in seiner früheren Funktion als Mieter vorgenommene werterhöhende Investitionen; Fortführung des Urteils vom 29. März 2007 - BVerwG 5 C 22.06 - BVerwGE 128, 257 ).«

Normenkette:

AusglLeistG § 1 Abs. 4 ;

Gründe:

I. Das Verfahren betrifft im Anschluss an die Urteile des Senats vom 29. März 2007 (- BVerwG 5 C 22.06 -, BVerwGE 128, 257 und - BVerwG 5 C 24.06 -) die Frage, unter welchen Umständen der Erwerb eines in jüdischem Eigentum stehenden Grundstücks zu einem unter dem Verkehrswert bzw. Einheitswert liegenden Kaufpreis einen schwerwiegenden Missbrauch einer Stellung im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG begründet.

Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin ihres Großvaters J. S. eine Ausgleichsleistung für den Verlust einer Möbelfabrik in Berlin-F. einschließlich Betriebsgrundstück. Der Großvater der Klägerin war seit 1919 Gesellschafter des Unternehmens, welches das Betriebsgrundstück gemietet hatte. Das Grundstück gehörte dem Juden Felix S. und nach dessen Tod seiner Ehefrau. Der Einheitswert betrug in den Jahren 1935 bis 1939 400 100 RM. Im Dezember 1938 kaufte das Unternehmen das Grundstück zu einem Kaufpreis von 325 000 RM und wurde 1940 als Eigentümer im Grundbuch eingetragen. Der Großvater der Klägerin war Mitglied der NSDAP und Mitglied verschiedener NS-Organisationen (Deutsche Arbeitsfront, NS-Volkswohlfahrt).

Im Dezember 1945 wurde das Grundstück aufgrund SMAD-Befehls beschlagnahmt. Das Unternehmen wurde auf der Grundlage des Gesetzes zur Entziehung von Vermögenswerten der Kriegsverbrecher und Naziaktivisten vom 8. Februar 1949 durch die am 11. Februar 1949 bekannt gemachte Liste 1 (VOBl Großberlin 1949, Teil I, Nr. 8), Nr. 295, enteignet. In dem vorangegangenen Enteignungsvorschlag der Deutschen Treuhandverwaltung hieß es, dass mit dem Einverständnis von J. S. ausländische Arbeiter bei der Gestapo denunziert worden seien; er sei ein "Hauptverbrecher bzw. Verbrecher" und Hauptschuldiger im Sinne der Direktive 38 des Kontrollrats bzw. zumindest Belasteter. 1950 wurde das Grundstück in Volkseigentum überschrieben.

Die Rückübertragung des Unternehmens wurde 1993 vom Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen abgelehnt, die hiergegen gerichtete Klage vom Verwaltungsgericht abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 15. August 1994). Das Grundstück wurde an die Erben des früheren jüdischen Eigentümers zurückübertragen.

Mit Bescheid vom 27. Mai 2002 stellte das Landesamt fest, dass sowohl hinsichtlich des Grundstücks wie des Unternehmens eine entschädigungslose Enteignung vorliege; den Antrag auf Ausgleichsleistung lehnte es unter Hinweis auf § 1 Abs. 4 AusglLeistG ab. Ein Vorschubleisten ergebe sich daraus, dass Herr S. den genannten NS-Organisationen angehört habe.

Die Klage auf Gewährung einer Ausgleichsleistung hatte vor dem Verwaltungsgericht Erfolg (Urteil vom 7. April 2006). Das Verwaltungsgericht verneinte den Ausschlusstatbestand nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG im Wesentlichen mit der Begründung, die Variante des schwerwiegenden Missbrauchs einer Stellung zum eigenen Vorteil oder Nachteil anderer sei nicht schon deshalb zu bejahen, weil das Unternehmen sein Betriebsgrundstück von einem jüdischen Eigentümer unterhalb des Einheitswertes gekauft habe. Es sei nicht ersichtlich, dass der Rechtsvorgänger der Klägerin besondere Machtbefugnisse im NS-System gehabt habe, aufgrund deren er den Kaufvertrag über das Betriebsgrundstück mit den Erben des jüdischen Kaufmanns S. hätte abschließen können. Man könne ihm auch nicht vorwerfen, die politischen Verhältnisse mit dem Grundstückskauf zum eigenen Vorteil ausgenutzt zu haben. Um dies beurteilen zu können, müssten die Umstände des Kaufes näher bekannt sein. Allein die Tatsache, dass der Kaufpreis unterhalb des Einheitswertes gelegen habe, besage nicht, dass der Käufer die politischen Verhältnisse ausgenutzt und damit seine Stellung in schwerwiegender Weise missbraucht habe. Ein unter dem Einheitswert liegender Kaufpreis führe zu keinem Automatismus in der Weise, dass damit die Unwürdigkeit des Käufers - etwa wegen vorwerfbarer bewusster Ausnutzung der Zwangslage des Verkäufers - ohne weiteres zu bejahen wäre. Für einen niedrigen Kaufpreis gebe es auch andere Erklärungen. So sei denkbar, dass von dem Unternehmen als Mieter zuvor getätigte Investitionen bei der Höhe des Kaufpreises Berücksichtigung gefunden hätten. Auch die anderen Unwürdigkeitstatbestände seien nicht erfüllt.

Mit seiner Revision macht der Beklagte unter Bezugnahme auf das - zwischenzeitlich ergangene - Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. März 2007 - BVerwG 5 C 22.06 - aaO. geltend, bei einem Kaufpreis von 325 000 RM und einem Einheitswert von 400 100 RM liege ein schwerwiegender Missbrauch vor. Da der Kaufpreis sich auf 81,23 % des als Hilfsmaßstab anzusetzenden Einheitswertes belaufe und diesen somit um 18,77 % unterschreite, sei unter Berücksichtigung des Erfahrungssatzes, dass der Einheitswert in der Regel nur 90 % des Verkehrswertes erreiche, der Kaufpreis auf 73,11 % des Verkehrswertes anzusetzen mit der Folge, dass die Klage abzuweisen sei.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und macht geltend, auch nach der in den genannten Urteilen aufgestellten Leitlinie einer Unterschreitung des Verkehrswertes um 25 % zur Feststellung eines gravierenden Missverhältnisses von Kaufpreis zu Verkehrswert seien die konkreten Umstände des Einzelfalles, hier insbesondere des Kaufvorganges vom 14. Dezember 1938 sowie seiner Vorgeschichte und insbesondere der Umstand zu berücksichtigen, dass der Rechtsvorgänger der Klägerin als Mieter des Grundstücks durch seine Firma schon Anfang der 30er Jahre auf eigene Kosten erhebliche Investitionen in das damalige Mietobjekt getätigt habe, die sich auf den Einheitswert ausgewirkt hätten und bei dem Verkauf einer Mietsache vom Vermieter an den Mieter üblicherweise auch bei der Bemessung des Kaufpreises Berücksichtigung fänden. Jedenfalls liege in Anbetracht des Umstandes, dass bei einem in Höhe von 444 555 RM angesetzten Verkehrswert die 25 %-Grenze für einen schwerwiegenden Missbrauch bei einem Kaufpreis von 333 416 RM liege, welcher Betrag durch den tatsächlichen Kaufpreis lediglich um 8 416 RM unterschritten werde, ein "Grenzfall" im Sinne des Urteils vom 29. März 2007 vor, der einen besonderen Blick auf die feststellbaren Begleitumstände des Kaufes erforderlich mache.

II. Die Revision des Beklagten, über die der Senat gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts steht nicht im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO ). Es beruht - unter Berücksichtigung der Grundsätze des Urteils des Senats vom 29. März 2007 - BVerwG 5 C 22.06 - BVerwGE 128, 257 - auf einer fehlerhaften Anwendung von § 1 Abs. 4 Alt. 2 AusglLeistG. Zur abschließenden Entscheidung, ob der Rechtsvorgänger der Klägerin bei dem Kauf des Betriebsgrundstücks des Unternehmens seine Stellung im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG in schwerwiegendem Maße zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht hat, bedarf es noch tatsächlicher Feststellungen, die das Revisionsgericht nicht treffen kann. Die Sache muss daher an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen werden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO ).

1. Nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG werden Leistungen nach diesem Gesetz nicht gewährt, wenn der nach den Absätzen 1 und 2 Berechtigte oder derjenige, von dem er seine Rechte ableitet, oder das enteignete Unternehmen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen, in schwerwiegendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht oder dem nationalsozialistischen oder dem kommunistischen System in der sowjetisch besetzten Zone oder in der Deutschen Demokratischen Republik erheblichen Vorschub geleistet hat. Zu der Frage, wann ein schwerwiegender Missbrauch im Sinne der 2. Alternative dieser Bestimmung vorliegt, sind die Ausführungen in dem Urteil des Senats vom 29. März 2007 aaO. zur Auslegung der gleichlautenden Bestimmung in § 7a Abs. 3b Satz 2 VermG heranzuziehen. Danach genügt beim Erwerb von Eigentum verfolgter Personen als missbrauchsfähige Stellung die Stellung von nicht selbst Verfolgten (Rn. 19). Für einen "schwerwiegenden Missbrauch" reicht dabei ein lediglich unangemessener Kaufpreis nicht aus, erforderlich ist vielmehr, soweit nicht andere Missbrauchsumstände hinzutreten, "ein gravierendes Missverhältnis zum maßgeblichen Wert". Als Leitlinie hierfür gilt eine Unterschreitung des damaligen Verkehrswertes um mehr als 25 v.H.; "ist der Verkehrswert ... nicht bekannt, ist an festgestellte Einheitswerte anzuknüpfen" (Rn. 29). Mit Blick auf die Verwendbarkeit von Einheitswerten als Hilfsmaßstab heißt es weiter (Rn. 31):

"Bei Anknüpfung der Vergleichsbetrachtung an einen Einheitswert ist regelmäßig ein Abschlag bei dem Vom-Hundert-Satz geboten, der wegen eines gravierenden Missverhältnisses zum Kaufpreis einen schwerwiegenden Missbrauch indiziert; eine einzelfallbezogene Ermittlung des rechtlich maßgeblichen Verkehrswertes wird allenfalls dann in Betracht kommen, wenn nach den festgestellten tatsächlichen Umständen erheblich Zweifel an dem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebildeten Erfahrungssatz bestehen, dass der Einheitswert in der Regel höchstens 90 v.H. des Verkehrswertes erreicht."

Dass diese Grundsätze auch für die gleichlautende Regelung in § 1 Abs. 4 AusglLeistG zu gelten haben, hat der Senat bereits unter Rn. 23 des genannten Urteils festgestellt:

"... Für den gleichlautenden Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 4 AusglLeistG, an den § 7a Abs. 3b Satz 2 VermG in der Sache und auch entstehungsgeschichtlich ... anschließt, folgt aus dem zutreffenden Ansatz, dass diese beiden Normen systematisch aufeinander bezogen sind und daher im Kern identisch auszulegen sind, allein, dass die vorstehenden Erwägungen auch auf die Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG zu übertragen sind."

2. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen.

a) Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts kam dem Rechtsvorgänger der Klägerin als nicht Verfolgtem unter den Bedingungen des NS-Systems im Verhältnis zu dem jüdischen Eigentümer des Betriebsgrundstücks eine missbrauchsfähige "Stellung" im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG zu. Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen einer missbrauchsfähigen Stellung zu Unrecht unter Hinweis auf fehlende besondere Machtbefugnisse des Rechtsvorgängers der Klägerin im NS-System verneint. Soweit es ausgeführt hat, man könne ihm auch nicht vorwerfen, die politischen Verhältnisse mit dem Grundstückskauf zum eigenen Vorteil ausgenutzt zu haben, da es für einen niedrigen Kaufpreis auch andere Erklärungen gebe, und insoweit als "denkbar" auf eine Berücksichtigung vom Unternehmen als Mieter zuvor getätigter Investitionen hinweist, sind die von der Klägerin hierzu vorgetragenen Tatsachen in den Entscheidungsgründen des Urteils nicht festgestellt, sondern lediglich als möglich berücksichtigt. Dies reicht für den Ausschluss eines Missbrauchs nicht aus.

b) Die vom Beklagten nach den Grundsätzen des genannten Urteils zur Ermittlung eines gravierenden Missverhältnisses von Kaufpreis und maßgeblichem Verkehrswert des Betriebsgrundstücks durchgeführten Berechnungen ergeben, dass bei einem Ansatz des festgestellten Einheitswertes von 400 100 RM mit 90 % des Verkehrswertes dieser mit 444 555,56 RM anzusetzen wäre. Dann läge der Grenzwert für einen erheblichen Missbrauch (Unterschreitung des Verkehrswertes um 25 % nach den Grundsätzen des Urteils vom 29. März 2007 aaO.) bei 333 416,67 RM, so dass vorliegend an sich die Missbrauchsgrenze überschritten wäre. Der Kaufpreis von 325 000 RM liegt nach dieser Berechnung um 26,89 % unter dem Verkehrswert bzw. unterschreitet den Grenzwert um 8 416 RM.

c) Aus der Indizwirkung einer erheblichen Diskrepanz zwischen Kaufpreis und Einheitswert folgt jedoch nicht zwingend oder automatisch, dass mit jeder Überschreitung des vom Senat als "Leitlinie" aufgestellten Grenzwertes der Ausschlusstatbestand gegeben wäre.

Bei dem Prozentsatz von 25 % des Verkehrswertes als Missbrauchsgrenze nach dem genannten Urteil handelt es sich um eine "Leitlinie", welcher eine orientierende Bedeutung zukommt, aber nicht um eine starre Grenze, welche in Grenzfällen die Berücksichtigung von Besonderheiten grundsätzlich ausschlösse. Als zu berücksichtigende Besonderheit kommt der - von der Klägerin vorgetragene und in dem angefochtenen Urteil als möglich angesehene, aber nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts letztlich nicht entscheidungserhebliche und daher nicht geklärte - Umstand in Betracht, dass die als Käuferin auftretende Gesellschaft als Mieterin des Grundstücks den Einheitswert durch umfangreiche Investitionen in ihrem Wert gesteigert habe. Könnte dies festgestellt werden, wäre der Umstand, dass der Kaufpreis den rechnerisch vom Einheitswert abgeleiteten Verkehrswert um mehr als 25 % unterschreitet, für sich allein ausnahmsweise nicht als Indiz für einen schwerwiegenden Missbrauch einer Stellung zu werten.

Vorinstanz: VG Berlin, vom 07.04.2006 - Vorinstanzaktenzeichen 31 A 86.06