Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BVerwG - Entscheidung vom 31.03.2008

10 C 15.07

BVerwG, Beschluß vom 31.03.2008 - Aktenzeichen 10 C 15.07

DRsp Nr. 2008/9979

Gründe:

I. Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.

Der 1973 in Kerkuk geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger turkmenischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Er reiste im Februar 2000 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Zur Begründung gab er an, er habe aus Verzweiflung über die Inhaftierung seines Bruders ein Mitglied der Baath-Partei niedergestochen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - lehnte den Asylantrag ab. Im Klageverfahren verpflichtete das Verwaltungsgericht das Bundesamt mit Urteil vom 28. August 2000, den Kläger als Flüchtling nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG ) anzuerkennen, weil dieser im Irak schon wegen seiner Asylantragstellung politische Verfolgung zu befürchten habe. Dieser Verpflichtung kam das Bundesamt mit Bescheid vom 14. Juli 2004 nach. Im Oktober 2004 leitete es wegen der veränderten Verhältnisse im Irak ein Widerrufsverfahren ein und widerrief nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 11. Februar 2005 die Flüchtlingsanerkennung. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen.

Im Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 28. Juli 2005 den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung aufgehoben. Dem Kläger sei angesichts der äußerst instabilen Lage im Irak eine Rückkehr nicht zuzumuten. Auf die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 6. März 2006 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft infolge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Änderung der Verhältnisse im Irak keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG . Wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise drohten ihm keine Verfolgungsmaßnahmen mehr. Das bisherige Regime Saddam Husseins habe seine militärische und politische Herrschaft über den Irak endgültig verloren. Weder von den Koalitionstruppen noch von der irakischen Regierung hätten Exiliraker Gefährdungen zu erwarten. Trotz der schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im Irak bestehe für eine Änderung der Situation zum Nachteil des Klägers kein Anhalt. Zwar fänden vermehrt Anschläge statt, die aber an der grundsätzlichen Kontrolle des Staatsgebiets auch durch alliierte Kräfte nichts änderten. Allerdings seien im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Die allgemeine Sicherheitslage sei nach der Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 hochgradig instabil. Ziel der in ihrer Intensität zunehmenden Anschläge sei es, Furcht und Schrecken zu verbreiten, Gewalttätigkeiten verschiedener irakischer Bevölkerungsgruppen gegeneinander zu provozieren und das Land insgesamt zu destabilisieren. Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen durch nichtstaatliche Akteure seien die Übergriffe auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, etwa auf Rückkehrer, aber nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung begründen könnten. Auch die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

Mit der vom Senat beschränkt auf die Anfechtung des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Die Beklagte ist der Revision entgegengetreten. Der Vertreter des Bundesinteresses am Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren nicht beteiligt.

II. Der Senat hat über die Aussetzung des Verfahrens und die Einholung einer Vorabentscheidung in der gleichen Besetzung zu entscheiden, in der er die Entscheidung treffen müsste, für die die Vorlagefragen erheblich sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. April 2005 - 1 BvL 6/03 und 8/04 - NVwZ 2005, 801 zum Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG m.w.N.). Diese erginge in der Besetzung von fünf Richtern (§ 144 Abs. 2 und 3, §§ 141 , 125 Abs. 1 , §§ 107 , 10 Abs. 3 Halbs. 1 VwGO ). Wegen der Abhängigkeit des Vorabentscheidungsersuchens von der im ausgesetzten Verfahren zu treffenden Hauptsacheentscheidung findet § 10 Abs. 3 Halbs. 2 VwGO , wonach bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung drei Richter mitwirken, keine Anwendung.

Der Rechtsstreit ist auszusetzen und es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Auslegung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EG L 304 vom 30. September 2004, S. 12 ; ber. ABl EG L 204 vom 5. August 2005, S. 24) einzuholen (Art. 234 Abs. 1 und 3, Art. 68 Abs. 1 EG). Da es um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung der Richtlinie sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof. Insoweit wird zur weiteren Begründung auf den Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 im Verfahren BVerwG 10 C 33.07 verwiesen.

Ergänzend ist zur Entscheidungserheblichkeit darauf hinzuweisen, dass das Berufungsgericht auch im vorliegenden Verfahren davon ausgegangen ist, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die begründete Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung, aufgrund derer die Anerkennung erfolgte, entfallen ist und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor Verfolgung haben muss. Dabei ist unerheblich, dass das Bundesamt der gerichtlichen Verpflichtung zur Anerkennung des Klägers als Flüchtling aus dem Jahr 2000 formell erst im Juli 2004 nachgekommen ist. Denn maßgeblich für die Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs einer Flüchtlingsanerkennung, die in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ausgesprochen wird, ist nicht der Zeitpunkt des Ergehens des Anerkennungsbescheids, sondern des rechtskräftig gewordenen Verpflichtungsurteils (vgl. Urteil vom 8. Mai 2003 - BVerwG 1 C 15.02 - BVerwGE 118, 174 [177 f.]). Bei Bejahung der Frage 1 wäre das Berufungsurteil daher nicht zu beanstanden. Im Gegensatz zu der dem Verfahren BVerwG 10 C 33.07 zugrunde liegenden Entscheidung hat das Berufungsgericht vorliegend das Bestehen einer staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt im Sinne einer prinzipiell schutzmächtigen Ordnung aber nicht offen gelassen, sondern ist trotz der schwierigen Sicherheitslage von einer "grundsätzlichen Kontrolle des Staatsgebiets auch durch alliierte Kräfte" ausgegangen. Damit kommt es auch im vorliegenden Fall in Bezug auf Frage 2 Buchst. a darauf an, ob es - unter der Voraussetzung, dass es für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft des Vorhandenseins eines Schutz bietenden Akteurs im Sinne des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie bedarf - ausreicht, dass die Schutzgewährung - wie vom Berufungsgericht festgestellt - nur mit Hilfe multinationaler Truppen möglich ist. Bei Bejahung von Frage 2 Buchst. b wäre das Berufungsurteil auch im vorliegenden Verfahren aufzuheben und der Rechtsstreit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuweisen, da bislang noch nicht geprüft worden ist, ob dem Kläger ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie droht. Gleiches gilt bei Bejahung der Frage 2 Buchst. c, da das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, dass es für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nicht auf stabile Verhältnisse im Sinne eines effektiven Schutzes durch Polizei und Justiz sowie auf eine ausreichende Infrastruktur und ein Recht auf eine Existenzgrundlage im Herkunftsland ankomme, und folgerichtig in dieser Hinsicht keine weiteren Feststellungen getroffen hat. Im Übrigen stellt sich auch im vorliegenden Verfahren die Frage, ob nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer der Betreffende als Flüchtling anerkannt worden ist, für neue andersartige verfolgungsbegründende Umstände zugunsten des Betreffenden ein anderer Maßstab gilt und ob in dieser Situation, nachdem die Umsetzungsfrist der Richtlinie zwischenzeitlich abgelaufen ist, die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie Anwendung findet.

Der Senat weist darauf hin, dass die vorgelegten Fragen Gegenstand mehrerer gleichlautender Vorabentscheidungsersuchen sind. Da sich in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Widerrufsfällen während des sich anschließenden Gerichtsverfahrens (durch Rückkehr, Einbürgerung etc.) erledigt haben, eine Klärung der vorgelegten Fragen aber für eine Vielzahl weiterer Fälle von Bedeutung ist, soll durch diese Vorgehensweise sichergestellt werden, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs nicht durch die eher zufällige Erledigung in einem einzelnen Verfahren hinausgezögert wird.

Vorinstanz: VGH Bayern, - Vorinstanzaktenzeichen 13a B 05.30858