Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BVerwG - Entscheidung vom 24.06.2008

10 C 42.07

BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - Aktenzeichen 10 C 42.07

DRsp Nr. 2008/18111

Gründe:

I. Die Kläger erstreben europarechtlichen Abschiebungsschutz wegen Gefahren aufgrund eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG). Hilfsweise erstreben sie nationalen Abschiebungsschutz wegen ihnen drohender Gefahren für Leib und Leben nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG .

Die 1965 in Khanaqin (Zentralirak) geborene Klägerin zu 1 und ihre 1995 und 1998 in Bagdad geborenen Kinder, die Kläger zu 2 und 3, sind irakische Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit und muslimisch-schiitischen Glaubens. Nach ihrer Einreise nach Deutschland stellten sie im November 2001 beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - einen Asylantrag. Zur Begründung gab die Klägerin zu 1 an, nachdem ihr Ehemann nach mehrfachen Verhaftungen 1999 aus dem Irak geflohen sei, sei sie von den Sicherheitskräften wegen seines Verbleibs verhört und unter Druck gesetzt worden. Das Bundesamt stellte daraufhin mit Bescheid vom 2. August 2002 fest, dass bei den Klägern die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 vorliegen.

Mit Bescheid vom 29. Mai 2006 widerrief das Bundesamt die Flüchtlingsanerkennungen wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen.

Die hiergegen erhobenen Klagen hatten vor dem Verwaltungsgericht und vor dem Verwaltungsgerichtshof keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 15. Februar 2007 zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Widerruf sei rechtmäßig, weil die Kläger nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 keine Verfolgung im Irak mehr zu befürchten hätten, die ihre Anerkennung als Flüchtlinge rechtfertige. Die Kläger könnten auch nicht die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG beanspruchen. Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 5 AufenthG lägen nicht vor. Auch bestehe kein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG . Denn die Kläger wären im Fall ihrer Rückkehr in den Irak keiner individuellen erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt. Soweit sie sich auf die allgemeine Situation im Irak beriefen, zu der auch die Gefahr zu rechnen sei, als Rückkehrer aus dem Ausland Opfer von kriminellen Übergriffen zu werden, müssten sie sich auf den ihnen durch den Erlass des Bayerischen Staatsministeriums des Innern gewährten Schutz vor einer Abschiebung in den Irak verweisen lassen. Die Kläger hätten keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004. Die hierfür zumindest erforderliche Konfliktsituation von gewisser Dauer und Intensität, die wohl einer Bürgerkriegssituation vergleichbar sein müsse, liege nicht vor. Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismaterialien sei nicht ableitbar, dass im Irak landesweit eine Bürgerkriegssituation gegeben wäre. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass in Bagdad und anderen Städten, vor allem im zentralirakischen sogenannten "Sunnitischen Dreieck", zumindest bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, könne dies nicht zu einem durch die unmittelbare Anwendung von Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c der Richtlinie vermittelten Schutzanspruch führen. Denn ein innerirakisches Ausweichen in andere Landesteile erscheine möglich, damit sei ein interner Schutz im Sinne von Art. 8 der Richtlinie gewährleistet. Hiervon abgesehen stehe wohl auch die bei allgemeinen Gefahren vergleichbaren Abschiebungsschutz bietende Erlasslage des Bayerischen Staatsministeriums des Innern der Gewährung richtliniengemäßen subsidiären Schutzes entgegen.

Mit der vom Verwaltungsgerichtshof unbeschränkt zugelassenen Revision wenden sich die Kläger - nach Rücknahme der Revision hinsichtlich des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennungen in der mündlichen Verhandlung - vorrangig dagegen, dass das Berufungsgericht die Voraussetzungen des inzwischen durch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in nationales Recht umgesetzten subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG verneint hat. Sie bemängeln insbesondere, dass das Gericht die Voraussetzungen dieser Schutzgewährung verkannt habe, insbesondere auch die Möglichkeit der Erlangung internen Schutzes im Irak.

Die Beklagte tritt der Revision entgegen.

II. Das Revisionsverfahren war nach entsprechender Rücknahme der Revision durch die Kläger insoweit einzustellen, als es sich auf den Widerruf der Flüchtlingsanerkennungen (Nr. 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 29. Mai 2006) bezogen hat (§ 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO ).

Die nunmehr nur noch gegen die Versagung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gerichtete Revision ist begründet. Das Berufungsurteil beruht insoweit auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ). Denn es hat einen Anspruch der Kläger auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG mit einer Begründung verneint, die einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhält. Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil über das Vorliegen eines solchen Abschiebungsverbots selbst nicht abschließend entscheiden kann, ist das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO ).

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung, ob den Klägern der begehrte Abschiebungsschutz zusteht, ist die neue, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I 2007, 1970) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltende Rechtslage. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Rechtsänderungen, die nach der Berufungsentscheidung eintreten, vom Revisionsgericht dann zu berücksichtigen, wenn sie das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte. Da es sich vorliegend um eine asylverfahrensrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 AsylVfG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es, wenn es jetzt entschiede, die neue Rechtslage zugrunde legen (vgl. Urteil vom 11. September 2007 - BVerwG 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 [257 f.] Rn. 19).

1. Die während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderung hat zur Folge, dass sich in Asylverfahren von Gesetzes wegen der Streitgegenstand bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geändert hat und im Ausgangsverfahren hinsichtlich der von den Klägern im Falle einer Rückkehr in den Irak geltend gemachten Gefahren die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 , 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen eigenständigen, vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren Streitgegenstandsteil bilden. Hierauf haben die Kläger im Revisionsverfahren auf Hinweis des Senats zulässigerweise reagiert und in Anpassung an die neue Rechtslage ihre Anträge dahin präzisiert, dass sie in erster Linie die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 , 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EG L 304 vom 30. September 2004 S. 12; ber. ABl EG L 204 vom 5. August 2005 S. 24 - sogenannte Qualifikationsrichtlinie -) und für den Fall, dass ihre Klagen insoweit keinen Erfolg haben, hilfsweise die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den Irak begehren. Diese Abstufung berücksichtigt die mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes eingetretene Änderung des Streitgegenstands bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG und entspricht nunmehr der typischen Interessenlage eines - wie im Ausgangsverfahren - nach rechtskräftigem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung in Bezug auf sein Heimatland ausländerrechtlichen Abschiebungsschutz begehrenden Klägers. Die hierfür maßgeblichen Erwägungen hat der Senat im Einzelnen in seinem Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 43.07 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) ausgeführt. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

2. Entsprechend dem abgestuften Klageantrag der Kläger ist zunächst über den Hauptantrag auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots in Bezug auf den Irak nach § 60 Abs. 2 , 3 und 7 Satz 2 AufenthG zu entscheiden. Hinsichtlich der vom Verwaltungsgerichtshof verneinten Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG hat die Revision keine Einwände erhoben, so dass nur der auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gestützte Anspruch zu prüfen bleibt. Der Verwaltungsgerichtshof hat mehrere Voraussetzungen für die Gewährung dieses europarechtlich vorgegebenen Abschiebungsschutzes rechtsfehlerhaft ausgelegt.

Soweit der Verwaltungsgerichtshof das Vorliegen der Voraussetzungen des jetzt in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG geregelten Abschiebungsverbots in erster Linie mit der Begründung verneint hat, dass im Irak kein landesweiter bewaffneter Konflikt im Sinne dieser Vorschrift bestehe (UA S. 17), hat er zu hohe Anforderungen an das Vorliegen eines solchen Konflikt gestellt. Soweit er ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch deshalb verneint hat, weil die Kläger bei Unterstellung eines bewaffneten Konflikts in Teilen des Irak jedenfalls internen Schutz in anderen Landesteilen des Irak finden könnten (UA S. 17), ist diese Begründung ebenfalls nicht mit Bundesrecht vereinbar, weil sie auf zu schmaler Tatsachengrundlage getroffen worden ist. Schließlich steht das angefochtene Urteil auch insoweit nicht in Einklang mit revisiblem Recht, als der Verwaltungsgerichtshof seine Entscheidung ergänzend darauf gestützt hat, dass "wohl auch die bei allgemeinen mit einem bewaffneten Konflikt in Zusammenhang stehenden Gefahren vergleichbaren Schutz bietende oben dargestellte Erlasslage" der Gewährung richtliniengemäßen subsidiären Schutzes entgegenstehe (UA S. 17). Denn die nunmehr in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG getroffene Regelung, die Abschiebungsschutz suchende Ausländer im Falle allgemeiner Gefahren auf die Aussetzung von Abschiebungen durch ausländerbehördliche Erlasse verweist, ist richtlinienkonform dahin auszulegen, dass sie nicht die Fälle erfasst, in denen die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt sind. Auch insoweit wird Bezug genommen auf das Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 43.07.

3. Da das Berufungsgericht zu den Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG , der Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG umsetzt, keine ausreichenden Feststellungen enthält, ist das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. In dem erneuten Berufungsverfahren wird der Verwaltungsgerichtshof die fehlenden Feststellungen zum Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts und zu den weiteren Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einschließlich der Möglichkeit der Erlangung internen Schutzes nach § 60 Abs. 11 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 der Richtlinie nachzuholen haben. Wegen der hierbei zu berücksichtigenden Gesichtspunkte wird ebenfalls auf das Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 43.07 verwiesen.

4. Da das Berufungsgericht in dem zurückverwiesenen Verfahren zu prüfen hat, ob die Kläger Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG haben, hatte der Senat über den hierzu hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 , § 155 Abs. 2 VwGO , da die Kläger ihre Revision betreffend den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung zurückgenommen haben und wegen der damit rechtskräftig gewordenen Abweisung ihrer Klagen durch das Berufungsgericht insoweit die Kosten erster und zweiter Instanz als Unterlegene zu tragen haben. Hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bleibt die Kostenentscheidung der Schlussentscheidung vorbehalten. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG .

Vorinstanz: VGH Bayern, vom 15.02.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 13a B 06.31013