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BVerwG - Entscheidung vom 29.05.2008

10 C 10.07

BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - Aktenzeichen 10 C 10.07

DRsp Nr. 2008/18109

Gründe:

I. Die Kläger begehren die Verpflichtung der Beklagten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Die nach ihren Angaben 1990 und 1994 in Baku geborenen Kläger, armenische Volkszugehörige aus Aserbaidschan, reisten im Juli 2002 zu ihren sich im Bundesgebiet aufhaltenden Eltern (Kläger im Verfahren BVerwG 10 C 11.07) ein und beantragten Asyl. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - (Bundesamt) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 9. April 2003 ab, stellte fest, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG vorliegen und drohte den Klägern die Abschiebung an.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen; es hat die Kläger auf die Möglichkeit einer Aufenthaltsnahme in Berg-Karabach als inländische Fluchtalternative verwiesen.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Kläger mit Beschluss vom 15. September 2005 zurückgewiesen. Er hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass dahinstehen könne, ob den geltend gemachten Asylansprüchen bereits die Einreise aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG ) entgegen stehe, denn mit Blick auf Berg-Karabach als inländische Fluchtalternative hätten die Kläger weder Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte noch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG . Für sie als armenische Volkszugehörige sei Berg-Karabach über Armenien erreichbar, auch wenn sie für die Einreise nach Armenien eine Einreiseerlaubnis benötigten, die erst nach langwieriger Prüfung der Lebensumstände erteilt werden dürfte. Staatsangehörige der Republik Armenien und in Armenien anerkannte Flüchtlinge sowie Asylberechtigte benötigten für die Einreise nach Berg-Karabach keine Visa. Einwanderungswillige Ausländer ohne Nationalpass könnten bei der ständigen Vertretung der Republik "Gebirgiges Karabach" in Eriwan einen Rückwanderungsantrag stellen, der an das Außenministerium in Stepanakert weitergeleitet werde. Nach Überprüfung der Person sowie der Motive für eine Einwanderung - die Bearbeitungszeit des Antrags könne über ein Jahr beanspruchen - erhielten die Betroffenen gegebenenfalls eine Einreise- bzw. Niederlassungserlaubnis für Berg-Karabach. Als armenischen Volkszugehörigen sei den Klägern ein Zwischenaufenthalt in Armenien zumutbar, da ihr Vater dort einer Arbeit nachgehen könne. In Berg-Karabach würden sie auch nicht anderen existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein, die so am Herkunftsort nicht bestünden. Den Klägern stehe schließlich auch kein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG zu; auch die Abschiebungsandrohung sei rechtmäßig.

Mit der vom Senat hinsichtlich der Verpflichtung zur Asylanerkennung und Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zugelassenen Revision machen die Kläger geltend, dass keine inländische Fluchtalternative bestehe; denn Berg-Karabach sei für sie nicht unter zumutbaren Bedingungen erreichbar. Weder der Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit noch die Beantragung von Asyl in Armenien könnten ihnen unter Beachtung von Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG zugemutet werden. Gleiches gelte für einen über ein Jahr andauernden Zwischenaufenthalt in Armenien zur Beantragung der Einreiseerlaubnis nach Berg-Karabach. Darüber hinaus habe das Berufungsgericht nicht aufgeklärt, ob Berg-Karabach sechzehn Jahre nach der Sezession von Aserbaidschan als Region internen Schutzes noch in Frage komme. Unter Verletzung von Verfahrensrecht sei es ebenfalls nicht der Frage nachgegangen, ob die Kläger tatsächlich eine Einreiseerlaubnis für Armenien erhielten und ihr Vater dort einer Arbeit nachgehen könne. Zudem habe es die Lebensbedingungen in Berg-Karabach auf der Grundlage eines überholten rechtlichen Maßstabs bewertet: Der Ansatz, dass die Kläger am Ort der Fluchtalternative keinen anderen existentiellen Gefährdungen ausgesetzt seien, die so am Herkunftsort nicht bestünden, werde den konkret-individuellen Zumutbarkeitsmaßstäben des Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht gerecht.

Die Beklagte verteidigt die Berufungsentscheidung. Eine vom Ausland aus erreichbare inländische Fluchtalternative könne den Betroffenen auch dann entgegengehalten werden, wenn der Zugang vorübergehend nicht möglich sei, etwa wegen gewisser zeitlicher Verzögerungen und Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisedokumenten und Transitvisa. Die Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling sei erst dann gerechtfertigt, wenn feststehe, dass die Rückkehr in verfolgungsfreie Gebiete des Herkunftsstaates dauerhaft nicht zumutbar möglich sei. Von den Klägern werde auch nicht verlangt, sich auf den Schutz eines anderen Staates (Armenien) verweisen zu lassen, sondern nur, über Armenien in einen verfolgungsfreien Teil ihres Herkunftsstaates zu gelangen.

Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren nicht beteiligt.

II. Die Revision ist begründet. Die auf den getroffenen Feststellungen beruhende Annahme des Berufungsgerichts, Berg-Karabach sei für die Kläger als Gebiet einer inländischen Fluchtalternative tatsächlich in zumutbarer Weise erreichbar, verletzt sowohl Art. 16a Abs. 1 GG als auch § 60 Abs. 1 AufenthG . Zudem erweist sich die Auffassung des Berufungsgerichts, nicht verfolgungsbedingte Gefahren und Nachteile seien bei der Prüfung des § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EG Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EG vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) - sog. Qualifikationsrichtlinie - unberücksichtigt zu lassen, mit revisiblem Recht als nicht vereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ). Da der Senat über die geltend gemachten Asylansprüche sowie die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden kann, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO ).

Wegen der Einzelheiten der Begründung der vorliegenden Entscheidung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf das die Eltern der Kläger betreffende Urteil des Senats vom gleichen Tag in der gemeinsam verhandelten Sache BVerwG 10 C 11.07 Bezug genommen (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen); die dort gemachten Ausführungen gelten für die Kläger entsprechend.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 RVG .

Vorinstanz: VGH Hessen - 3 UE 2379/04.A - 15.9.2005,