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BVerfG - Entscheidung vom 26.08.2008

2 BvR 1942/07

Normen:
GG Art. 6 Abs. 1, 2
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1

BVerfG, Beschluss vom 26.08.2008 - Aktenzeichen 2 BvR 1942/07

DRsp Nr. 2008/19185

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegen Grundrechtsverletzungen im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren

Wendet der Beschwerdeführer sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren, die seinen Anspruch als geduldeter Ausländer auf Verlegung seines Wohnsitzes in ein anderes Bundesland zur Herstellung der Familieneinheit abgelehnt haben, so ist er vor Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gehalten, seinen behaupteten Anspruch auf Erteilung von Duldungen zunächst in der Hauptsache zu verfolgen, da der Familie bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache keine dauerhafte Trennung droht und über die Erteilung von nach § 12 Abs. 5 S. 1, 2 AufenthG ein vorläufig Art. 6 Abs. 1 und 2 GG genügender Kontakt unter den Familienmitgliedern sichergestellt werden kann.

Normenkette:

GG Art. 6 Abs. 1 , 2 ; BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1 ;

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den in einem verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren geltend gemachten Anspruch geduldeter Ausländer auf Verlegung ihres Wohnsitzes in ein anderes Land zur Herstellung der Familieneinheit.

I. 1. Die 22 Jahre alte Beschwerdeführerin zu 1., eine libanesische Staatsangehörige, ist mit dem 28 Jahre alten Beschwerdeführer zu 3., der nach den mit der Verfassungsbeschwerde in Zweifel gezogenen Feststellungen der Verwaltungsgerichte türkischer Staatsangehöriger ist, verheiratet. Der Beschwerdeführer zu 2. ist der fünf Jahre alte gemeinsame Sohn der Eheleute. Diese sind in den achtziger Jahren gemeinsam mit ihren Familien in das Bundesgebiet eingereist. Sie durchliefen erfolglos ein Asylverfahren und werden seit dessen Abschluss geduldet. Einer Abschiebung steht jedenfalls auch entgegen, dass die Beschwerdeführer nicht über Heimreisepapiere verfügen. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. leben in Nordrhein-Westfalen, der Beschwerdeführer zu 3. lebt in Niedersachsen. Seine Wohnsitzgemeinde hat dem Antrag der Beschwerdeführer zu 1. und zu 2. auf Erteilung einer Duldung nicht zugestimmt.

2. Die Beschwerdeführer stellten beim Verwaltungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Wohnsitzgemeinde des Beschwerdeführers zu 3., mit dem sie die Erteilung von Duldungen für die Beschwerdeführer zu 1. und 2. zum Zweck des Aufenthalts im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin begehrten.

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 25. Juni 2007 ab: Aus den Bestimmungen des § 61 Abs. 1 AufenthG und § 51 Abs. 6 AufenthG folge die Beschränkung des Aufenthalts der Beschwerdeführer zu 1. und 2. auf das Land Nordrhein-Westfalen. Es spreche einiges dafür, dass sie ohne die Aufhebung der räumlichen Beschränkung rechtlich gehindert seien, an einem anderen Ort einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen, so dass die Antragsgegnerin in Anwendung von § 1 NVwVfG in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 3a NVwVfG gar nicht zuständig sein dürfte. Es sei aber nicht zu verkennen, dass die Regelung in § 51 Abs. 6 AufenthG für die Betroffenen zu einem Dilemma führe, wenn sie länderübergreifend ihren Aufenthaltsort wechseln wollten. Das Aufenthaltsgesetz kenne keine Regelung, die § 51 AsylVfG entspreche. Die Verwaltungspraxis sei dem damit begegnet, dass die Möglichkeit der Erteilung einer Zweitduldung eingeräumt worden sei. Eine andere Ansicht bestimme den gewöhnlichen Aufenthalt nach dem geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruch. Gegen beide Vorgehensweisen bestünden aber erhebliche Bedenken. Es spreche viel dafür, dass ein Aufenthaltswechsel allein durch Aufhebung der räumlichen Beschränkung ermöglicht werden könne. Diese habe die Ausländerbehörde vorzunehmen, welche die Beschränkung verfügt habe. Bei dem Verfahren sei die Ausländerbehörde des gewünschten Zuzugsortes in entsprechender Anwendung von § 72 Abs. 1 AufenthG zu beteiligen. Auch in der Sache bestehe für die Beschwerdeführer der behauptete Anspruch nicht. Dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfielen diese jedenfalls dann nicht, wenn anzunehmen sei, dass die Ehe und das Familienleben im Libanon oder in der Türkei geführt werden könne und es ihnen freistünde, dorthin auszureisen. Diese Annahme bewirke keinen unzulässigen Druck auf die Ausländer, die ihrer Ausreisepflicht nicht nachkämen. Soweit die Beschwerdeführer einwendeten, der türkischen Sprache nicht mächtig zu sein, spreche alles dafür, dass die Familie nach der Eheschließung im Libanon auch berechtigt sei, dort zu leben. Sie hätten jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, dass dies nicht möglich wäre.

3. Mit der Beschwerde machten die Beschwerdeführer unter anderem geltend, die Auffassung, dass Art. 6 GG keine Anwendung finde, wenn die Ehe im Heimatstaat gelebt werden könne, sei offenkundig falsch. Es bleibe auch offen, welchen Zeitrahmen das Verwaltungsgericht für einen Umzug der Familie in die Türkei ins Auge gefasst habe. Der Staat dürfe die Verbindung zwischen Eltern und Kindern allenfalls untersagen, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten sei. Wenn eine Trennung hier dazu dienen solle, die Ausreisewilligkeit der Beschwerdeführer herbeizuführen, dann sei dies grob rechtswidrig.

Das Oberverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Beschluss vom 14. August 2007 zurück: Die Antragsgegnerin sei zwar passivlegitimiert, da nur sie verbindlich über die Erteilung einer Duldung in ihrem Zuständigkeitsbereich entscheiden könne. Auf die Frage, ob die erstrebte zweite Duldung neben die bereits bestehende Duldung trete oder ob die bereits bestehende Duldung mit der Erteilung der weiteren Duldung erlösche, komme es nicht an, da ein Anspruch auf die begehrte Duldung nicht bestehe. Zwar sei eine Abschiebung der Beschwerdeführer derzeit unmöglich, weil sie nicht über Heimreisepapiere verfügten. Dies sei jedoch von ihnen zu vertreten. Es reiche aus, wenn den Beschwerdeführern von ihren bisherigen Wohnsitzgemeinden Duldungen erteilt würden. Nicht die Ausländerbehörden verhinderten ein familiäres Zusammenleben, sondern die Beschwerdeführer selbst, indem sie sich beharrlich weigerten, sich um Passersatzpapiere zu kümmern und eine gemeinsame Ausreise entweder in die Türkei oder den Libanon vorzubereiten.

4. Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 6 GG . Aufenthaltsrechtlichen Belangen würde in den angegriffen Entscheidungen Vorrang vor essentiellen Grundrechtspositionen eingeräumt. Der besondere Schutz der Kinder auch durch die noch junge Reform des Kindschaftsrechts schließe den zeitlich uneingeschränkten Kontakt des Kindes zu beiden Elternteilen mit ein.

II. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt; die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 [25 f.]).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Ihr steht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen, der § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zugrunde liegt. Danach ist eine Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn für den Beschwerdeführer die zumutbare Möglichkeit besteht oder bestand, den behaupteten Verfassungsverstoß anderweitig zu beseitigen oder außerhalb des verfassungsgerichtlichen Verfahrens im praktischen Ergebnis dasselbe zu erreichen (vgl. BVerfGE 76, 1 [39]). Unter diesem Gesichtspunkt hat das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes einschränkend beurteilt. Danach kann ein Beschwerdeführer gehalten sein, vor der Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts den jeweiligen Hauptsacherechtsweg zu beschreiten (vgl. BVerfGE 51, 130 [138 ff.]; 53, 30 [52 ff.]; 70, 180 [187 f.]; 76, 1 [39 f.]). Ein Verweis auf den Hauptsacherechtsweg kommt hingegen insbesondere dann nicht in Betracht, wenn bereits die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes zu einer Verletzung verfassungsmäßiger Rechte führt (vgl. BVerfGE 35, 382 [397 f.]; 59, 63 [83 f.]). Bedarf es für die Beurteilung der mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen keiner weiteren Klärung tatsächlicher Umstände des Einzelfalls im verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren, ist die Rechtslage umfassend geprüft und die in den angegriffenen Entscheidungen vertretene Rechtsansicht durch das Bundesverwaltungsgericht als oberstes Fachgericht im Wesentlichen gebilligt, so ist ein Beschwerdeführer regelmäßig nicht gehalten, aus Gründen der Subsidiarität den Rechtsweg in der Hauptsache zu beschreiten (vgl. BVerfGE 76, 1 [40]).

2. Nach diesen Grundsätzen sind die Beschwerdeführer gehalten, ihren behaupteten Anspruch auf Erteilung von Duldungen zunächst in der Hauptsache zu verfolgen.

a) Der Familie droht bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache keine dauerhafte Trennung, so dass eine Verletzung der Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG gerade durch die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes nicht im Raum steht. Über die Erteilung von Verlassenserlaubnissen nach § 12 Abs. 5 Sätze 1 und 2 AufenthG kann ein vorläufig Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG genügender Kontakt unter den Familienmitgliedern sichergestellt werden, bis über einen Anspruch auf Zuzug entschieden worden ist. Sowohl bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unbilligen Härte in § 12 Abs. 5 Satz 2 AufenthG als auch bei der Entscheidung über die Häufigkeit und die sonstigen Einzelheiten der Verlassenserlaubnisse ist die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, maßgeblich zu berücksichtigen (vgl. Wenger, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2008, § 12 AufenthG Rn. 10). Daher können in Anwendung dieser Vorschrift enge Kontakte zwischen den Familienmitgliedern bis zur Grenze der faktisch dauerhaften Verlassenserlaubnis, die nicht überschritten werden darf (vgl. dazu OVG Hamburg, Beschluss vom 26. April 2006 - 4 Bs 66/06 -, InfAuslR 2006, S. 369 [372]), ermöglicht werden.

b) Die Rechtsfragen, die im Zusammenhang mit geltend gemachten Ansprüchen auf die Verlegung des Wohnsitzes eines geduldeten Ausländers in ein anderes Bundesland aufgeworfen sind, werden bisher nicht einheitlich beantwortet (zum Streitstand Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum AufenthG , Stand: Februar 2008, § 61 AufenthG Rn. 18 ff.). Eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu der in Ermangelung eines Verfahrens entsprechend § 51 Abs. 1 AsylVfG grundsätzlich klärungsbedürftigen rechtlichen Konstruktion einer solchen "Umzugsentscheidung" steht aus.

c) Schließlich sind hier ausweislich des Vorbringens der Beschwerdeführer in der Verfassungsbeschwerde noch nicht alle Fragen hinsichtlich der möglichen türkischen Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers zu 3. abschließend geklärt. Diese Klärung kann in dem Hauptsacheverfahren erfolgen.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: OVG Niedersachsen, vom 14.08.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 11 ME 292/07
Vorinstanz: VG Göttingen, vom 25.06.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 2 B 81/07