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BVerfG - Entscheidung vom 23.09.2008

2 BvR 936/08

Normen:
StGB § 67d Abs. 2
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2
StPO § 463 Abs. 3 § 454 Abs. 2

BVerfG, Beschluss vom 23.09.2008 - Aktenzeichen 2 BvR 936/08

DRsp Nr. 2008/19163

Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung bei der Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung

Bei der Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung besteht in der Regel die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen, wenn es um eine Prognoseentscheidung geht, bei der geistige und seelische Anomalien infrage stehen. Insbesondere muss der Richter der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken.

Normenkette:

StGB § 67d Abs. 2 ; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2 ; StPO § 463 Abs. 3 § 454 Abs. 2 ;

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Ablehnung der Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung gemäß § 67d Abs. 2 StGB .

I. Der Beschwerdeführer befand sich vom 6. November 1998 bis zum 10. Dezember 1999 in Untersuchungshaft, im Anschluss daran bis zum 15. Januar 2004 in Strafhaft. Seither befindet er sich in Sicherungsverwahrung.

Das Landgericht Düsseldorf hatte den - einschlägig vorbestraften - Beschwerdeführer am 8. Januar 1999 wegen sexueller Nötigung in drei Fällen, Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dabei stützte es sich auf ein in der Hauptverhandlung mündlich erstattetes Gutachten des Sachverständigen O., der beim Beschwerdeführer eine dissoziale Persönlichkeitsstörung diagnostizierte. Der Sachverständige O. hatte in früheren Strafverfahren am 10. Februar 1995 und 9. Februar 1996 schriftliche Gutachten zur Frage der Voraussetzungen des § 66 StGB sowie der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers erstattet.

Am 7. Juni 1999 verurteilte das Landgericht Krefeld den Beschwerdeführer wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und ordnete die Sicherungsverwahrung an. Dabei stützte es sich auf ein mündliches Gutachten des Sachverständigen O., der beim Beschwerdeführer weiterhin eine dissoziale Persönlichkeitsstörung diagnostizierte. In der Folgezeit wurden keine weiteren Sachverständigengutachten eingeholt.

Mit Beschluss des Landgerichts Krefeld vom 14. Juni 2000 wurde aus der Gesamtfreiheitsstrafe und einer weiteren Freiheitsstrafe unter Aufrechterhaltung der Sicherungsverwahrung eine neue Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten gebildet.

Mit Beschluss vom 30. Januar 2008 lehnte das Landgericht Aachen die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung ab. Es sei gegenwärtig nicht zu erwarten, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. In seiner Behandlung seien weder durchgreifende Entwicklungen eingetreten noch neue Erkenntnisse gewonnen worden, die Anlass für eine deutlich günstigere Bewertung der Legalprognose geben könnten. Sein Vollzugsverhalten habe zu Beanstandungen in disziplinarischer Hinsicht geführt. Er sei daher in der geschlossenen Abteilung untergebracht. Er gehe keiner Beschäftigung nach und habe Außenkontakte lediglich zu seiner Mutter. Nur durch eine konsequente Kontrolle gelinge es den Abteilungsbediensteten, eine völlige Verwahrlosung zu verhindern. Der Beschwerdeführer leide nach wie vor an einer dissozialen Persönlichkeitsstruktur. Er sei für externe Anregungen, Kritik an seinem Verhalten oder ein Eingestehen von Fehlern nicht offen. Er scheine ausschließlich seine eigene Position zu sehen und Rechte für sich zu fordern, ohne darüber nachzudenken, ob ihm Rechte zustünden oder welche Leistungen er dafür vorher zu erbringen habe. Diese Grundeinstellung sei auch in den jeweiligen Anlasstaten zum Ausdruck gekommen. Bei ihm habe sich die Vorstellung gefestigt, allein die Justizvollzugsanstalt sei für seine persönlichen Defizite verantwortlich. Das Landgericht stützte sich bei seiner Entscheidung maßgeblich auf Stellungnahmen von Anstaltsmitarbeitern. Ein vom Beschwerdeführer vorgelegtes Sachverständigengutachten vom 6. November 2007 aus einem sozialgerichtlichen Verfahren, wonach er offensichtlich kein Aggressionspotenzial aufweise, ändere nichts an der fortbestehenden dissozialen Persönlichkeitsstörung. Eine dissoziale Persönlichkeitsstörung stehe nicht zwingend in einem Zusammenhang mit einem Aggressionspotential. Zudem sei das Gutachten zu einer anderen Fragestellung in einem anderen Verfahren eingeholt worden. Es gebe keine Veranlassung zur Einholung eines Sachverständigengutachtens für die Frage der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung. Angesichts der Schwere der begangenen Straftaten und der damit vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefährlichkeit im Falle eines erneuten Rückfalls sei die weitere Sicherungsverwahrung auch verhältnismäßig.

Mit Beschluss vom 4. April 2008 verwarf das Oberlandesgericht Köln die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet. Der Beschwerdeführer lasse unverändert keinerlei Ansätze zu einer Tatverarbeitung erkennen; die bereits mit der Einweisungsentschließung gestellte Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung scheine nach den Angaben des zuständigen Anstaltspsychologen Bestand zu haben. Im Übrigen trete der Senat den Gründen der angefochtenen Entscheidung bei. Dies gelte insbesondere für die Frage der Verhältnismäßigkeit des weiteren Vollzugs der Sicherungsverwahrung, die angesichts der fehlenden Nachreifung einerseits und des Ranges der im Falle erneuter Tatbegehung bedrohten Rechtsgüter andererseits bedenkenfrei zu bejahen sei.

II. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG . Die Fachgerichte hätten verkannt, dass mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzugs die Anforderungen an die Sachaufklärung stiegen. Zwischen der letzten Begutachtung und dem Anhörungstermin seien über neun Jahre vergangen. Daher hätte ein externes Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen. Es könne nicht angenommen werden, dass seither überhaupt keine Veränderungen eingetreten seien. Soweit § 463 Abs. 3 , § 454 Abs. 2 StPO dahingehend ausgelegt würden, dass ein externes Gutachten nur dann einzuholen sei, wenn das Gericht die Aussetzung der Maßregel erwäge, sei dies mit dem Freiheitsgrundrecht der Betroffenen nicht zu vereinbaren. Ein Sachverständigengutachten sei vielmehr grundsätzlich einzuholen; andernfalls stelle sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschriften.

Für das Verfassungsbeschwerdeverfahren hat der Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten beantragt.

III. 1. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es hat von einer Stellungnahme abgesehen.

2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die staatsanwaltlichen Akten und Vollstreckungshefte vorgelegen.

IV. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG ), und gibt ihr statt, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 BVerfGG ).

1. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG . Sie tragen der Wirkkraft des Freiheitsgrundrechts für die Sachverhaltsaufklärung nicht hinreichend Rechnung.

a) Auf eine Verfassungsbeschwerde kann eine gerichtliche Entscheidung nur in engen Grenzen nachgeprüft werden. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen der Gerichte in jeder Hinsicht auf die Richtigkeit der getroffenen tatsächlichen Feststellungen, der Interpretation der Gesetze und der Anwendung des Rechts auf den konkreten Fall zu kontrollieren. Vielmehr ist im Verfassungsbeschwerdeverfahren nur zu prüfen, ob das Gericht Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzt hat (vgl. BVerfGE 11, 343 [349]; 79, 372 [376]). Ein Verfassungsverstoß, der zur Beanstandung von Entscheidungen führt, liegt vor, wenn übersehen worden ist, dass bei Auslegung und Anwendung der jeweils in Rede stehenden Vorschriften Grundrechte zu beachten waren, wenn der Schutzbereich der zu beachtenden Grundrechte unrichtig oder unvollkommen bestimmt oder wenn ihr Gewicht unrichtig eingeschätzt worden ist (vgl. BVerfGE 106, 28 [45]). Dabei ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Würdigung der Beweisaufnahme und die tatsächlichen Feststellungen zu überprüfen, soweit hierbei keine Willkür erkennbar ist (vgl. BVerfGE 4, 294 [297]; 34, 384 [397]).

b) Die Freiheit einer Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden (Art. 2 Abs. 2 , Art. 104 Abs. 1 GG ). Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie solche des Straf- und Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit; zugleich haben diese gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung bestimmen (vgl. BVerfGE 70, 297 [307]).

c) Das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Je länger die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Die Grenzen der Zumutbarkeit müssen gewahrt bleiben. Dabei gilt es, das Freiheitsgrundrecht der Betroffenen sowohl materiell als auch auf der Ebene des Verfahrensrechts abzusichern (vgl. BVerfGE 70, 297 [310]; 109, 133 [159]).

aa) Materiell fordert das Übermaßverbot, die Sicherungsbelange und den Freiheitsanspruch des Untergebrachten im Einzelfall abzuwägen (vgl. BVerfGE 70, 297 [311]). Der Richter hat im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Je länger die Unterbringung andauert, umso strenger sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Der Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs stößt dort an Grenzen, wo es nach Art und Maß der von dem Untergebrachten drohenden Gefahren vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Untergebrachten in Freiheit zu entlassen (vgl. BVerfGE 70, 297 [315]; 109, 133 [159 f.]).

bb) In verfahrensrechtlicher Hinsicht gebietet die Freiheitsgarantie, bei der Sachaufklärung und Handhabung der richterlichen Aufklärungspflicht stets das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untergebrachten im Auge zu behalten. Dieser wirkt in die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens bei der Bestimmung des Aufklärungs- und Prüfungsumfangs hinein, um sicherzustellen, dass der Richter seine Entscheidung auf einer der Sachbedeutung entsprechenden Tatsachengrundlage aufbaut (vgl. BVerfGE 70, 297 [310]). Je länger die Unterbringung dauert, desto strengere Anforderungen sind aufgrund der Wirkkraft des Freiheitsgrundrechts des Untergebrachten an die Sachverhaltsaufklärung zu stellen, um der Gefahr von Routinebeurteilungen möglichst vorzubeugen (vgl. BVerfGE 70, 297 [311]). Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297 [308]).

Der Gesetzgeber hat diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen unter anderem dadurch Rechnung getragen, dass nach Ablauf von zehn Jahren Sicherungsverwahrung das Gericht in Vorbereitung der Entscheidung nach § 67d Abs. 3 StGB über eine Erledigung oder eine Fortdauer des Maßregelvollzugs in jedem Fall ein Gutachten zu der Frage einzuholen hat, ob von dem Verurteilten infolge seines Hanges weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind (§ 463 Abs. 3 Satz 4 StPO ). Dies bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass vor Ablauf von zehn Jahren Maßregelvollzug zur Vorbereitung der Entscheidung nach § 67d Abs. 2 StGB über die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung kein Sachverständigengutachten einzuholen ist. Einfachgesetzlich ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens in diesem Fall gemäß § 463 Abs. 3 Satz 3 in Verbindung mit § 454 Abs. 2 StPO vorgeschrieben, wenn das Gericht erwägt, die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung gemäß § 67d Abs. 2 StGB auszusetzen. Von Verfassungs wegen kann darüber hinaus auch in anderen Fällen die Einholung eines Sachverständigengutachtens geboten sein. Zwar muss nicht bei jeder Überprüfung der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung von Verfassungs wegen ein Sachverständigengutachten eingeholt werden. Soweit keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften bestehen, hängt es vielmehr von dem sich nach den Umständen des einzelnen Falles bestimmenden pflichtgemäßen Ermessen des Richters ab, in welcher Weise er die Aussetzungsreife prüft (vgl. BVerfGE 70, 297 [309 f.]). In der Regel besteht jedoch die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen zuzuziehen, wenn es um eine Prognoseentscheidung geht, bei der geistige und seelische Anomalien in Frage stehen (vgl. BVerfGE 70, 297 [309]). Der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen muss der Richter durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken. So wird es von Zeit zu Zeit geraten sein, einen anstaltsfremden Sachverständigen mit der Begutachtung zu beauftragen, um auszuschließen, dass anstaltsinterne Belange oder die Beziehung zwischen Therapeuten und Untergebrachtem das Gutachten beeinflussen (vgl. BVerfGE 70, 297 [310 f.]; 109, 133 [164]).

d) Diesen Maßstäben halten die angegriffenen Beschlüsse nicht stand. Angesichts der Gesamtlänge des Freiheitsentzugs, der lange Zeit zurück liegenden schriftlichen Sachverständigengutachten aus anderen Erkenntnisverfahren, der ebenfalls lange Zeit zurück liegenden letzten mündlichen Begutachtung des Beschwerdeführers, der beim Beschwerdeführer im Erkenntnisverfahren diagnostizierten Anomalien und in Anbetracht des auf Veranlassung des Landessozialgerichts erstellten neuro-psychiatrischen Gutachtens vom 6. November 2007 war vor einer Entscheidung über die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung von Verfassungs wegen die Einholung eines anstaltsfremden Sachverständigengutachtens geboten.

Die Gesamtdauer des Freiheitsentzugs betrug im Zeitpunkt der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 30. Januar 2008 mehr als neun Jahre. Zwar wurde die Sicherungsverwahrung erst seit etwa vier Jahren vollstreckt. Der Beschwerdeführer war aber bereits seit dem 6. November 1998 in Haft, an die sich die Sicherungsverwahrung unmittelbar anschloss. In beiden dieser Freiheitsentziehung zugrunde liegenden Erkenntnisverfahren wurde kein schriftliches Sachverständigengutachten eingeholt. Es wurde jeweils mündlich ein Sachverständiger angehört, der den Beschwerdeführer 1995 und 1996 in früheren Strafverfahren untersucht und am 10. Februar 1995 und 9. Februar 1996 schriftliche Sachverständigengutachten verfasst hatte. Weitere Sachverständigengutachten wurden nicht erstellt. Die lange Zeit zurück liegenden Sachverständigengutachten berücksichtigen die Entwicklung des Beschwerdeführers während des Vollzugs nicht.

Das auf Veranlassung des Landessozialgerichts erstellte Sachverständigengutachten vom 6. November 2007 deutet auf Änderungen in der Persönlichkeitsstruktur seit den letzten Begutachtungen hin. Die Anlasstaten waren nach den zugrunde liegenden Strafurteilen durch brutale Gewalt geprägt. Im letzten schriftlichen Gutachten vom 9. Februar 1996 stellte der Sachverständige dementsprechend eine niedrige Schwelle für aggressives und gewalttätiges Verhalten fest. Nach dem vom Landessozialgericht veranlassten Gutachten vom 6. November 2007 hat eine psychodiagnostische Untersuchung demgegenüber einen 0-Wert in der Skala "Aggression" ergeben, der sogar unter dem unterdurchschnittlichen Ausprägungsgrad (1-3) liegt. Zudem ergab der psychische Befund keine affektiven Störungen. Zwar wurde das Gutachten vom 6. November 2007 zu einer anderen Fragestellung (Grad der Behinderung) eingeholt. Ob ein Aggressionspotential beim Beschwerdeführer vorliegt oder nicht, ist davon jedoch unabhängig. Da die Strafvollstreckungskammer selbst davon ausgeht, dass ein Aggressionspotential nicht zwingend mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung in Zusammenhang stehe, sie es anders gewendet also durchaus für möglich hält, dass ein solcher Zusammenhang bestehen kann, hätte sie, um dem Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung Rechnung zu tragen, im Strafvollstreckungsverfahren sachverständigen Rat einholen müssen, bevor sie diesbezüglich eine eigene Diagnose traf. Die anstaltsinternen Stellungnahmen, auf welchen die angegriffenen Entscheidungen maßgeblich beruhen, waren unter diesen Umständen keine hinreichende Prognosegrundlage. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung nach den Angaben des zuständigen Anstaltspsychologen lediglich Bestand zu haben "scheint".

V. Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG durch Landgericht und Oberlandesgericht festzustellen. Die angegriffenen Beschlüsse sind unter Zurückweisung der Sache zur erneuten Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aufzuheben (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG ).

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG .

Mit der Anordnung der Erstattung der notwendigen Auslagen erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das vorliegende Verfahren (vgl. BVerfGE 62, 392 [397]; 71, 122 [136 f.]).

Vorinstanz: OLG Köln, vom 04.04.2008 - Vorinstanzaktenzeichen 2 Ws 151/08
Vorinstanz: LG Aachen, vom 30.01.2008 - Vorinstanzaktenzeichen 33 StVK 985/07