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BSG - Entscheidung vom 26.06.2008

B 13 R 9/08 S

Normen:
ALG § 23 Abs. 8 S. 1 Nr. 1
RRErwerbG
SGB VI § 253a
SGB VI § 43
SGB VI § 59 Abs. 2 S. 2
SGB VI § 63 Abs. 5
SGB VI § 77 Abs. 1
SGB VI § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
SGB VI § 77 Abs. 2 S. 2
SGB VI § 77 Abs. 2 S. 3

BSG, Beschluss vom 26.06.2008 - Aktenzeichen B 13 R 9/08 S

DRsp Nr. 2010/10850

Anspruch auf Erwerbsminderungsrente; Herabsetzung des Zugangsfaktors bei Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr

Der 13. Senat hält nicht an der Rechtsauffassung fest, dass der Zugangsfaktor bei Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten beginnen, nicht nach § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI in der ab 1.1.2001 geltenden Fassung herabgesetzt werden darf. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Der 13. Senat hält nicht an der Rechtsauffassung fest, dass der Zugangsfaktor bei Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten beginnen, nicht nach § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung herabgesetzt werden darf.

Normenkette:

ALG § 23 Abs. 8 S. 1 Nr. 1 ; RRErwerbG; SGB VI § 253a; SGB VI § 43 ; SGB VI § 59 Abs. 2 S. 2; SGB VI § 63 Abs. 5 ; SGB VI § 77 Abs. 1 ; SGB VI § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ; SGB VI § 77 Abs. 2 S. 2; SGB VI § 77 Abs. 2 S. 3;

Gründe:

I. Die Anfrage des 5a. Senats an den 13. Senat ist zulässig. Zwar hat sich der 13. Senat mit dieser Rechtsfrage bislang noch nicht befasst. Vielmehr hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R - BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3) entschieden, dass der Zugangsfaktor bei Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten beginnen, nicht nach § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch ( SGB VI ) herabgesetzt werden darf. Der 4. Senat kann sich jedoch wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans mit Wirkung zum 1.1.2008 mit dieser Rechtsfrage nicht mehr befassen, sodass der nach dem Geschäftsverteilungsplan - gemeinsam mit dem 5a. Senat - an die Stelle des 4. Senats getretene 13. Senat über die Anfrage des 5a. Senats zu entscheiden hat (§ 41 Abs 3 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).

II. Der 13. Senat hält nicht an der genannten Rechtsauffassung fest.

Im Mittelpunkt der Anfrage des 5a. Senats steht die Auslegung des § 77 SGB VI - und hier insbesondere Abs 2 Satz 1 Nr 3, Satz 2 und 3 - in der ab 1.1.2001 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (RRErwerbG) vom 20.12.2000 (BGBl I 1827).

1. Diese Norm hat folgenden Wortlaut:

§ 77 Zugangsfaktor

(1) Der Zugangsfaktor richtet sich nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind.

(2) Der Zugangsfaktor ist für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren,

1. bei Renten wegen Alters, die mit Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres oder eines für den Versicherten maßgebenden niedrigeren Rentenalters beginnen, 1,0,

2. bei Renten wegen Alters, die

a) vorzeitig in Anspruch genommen werden, für jeden Kalendermonat um 0,003 niedriger als 1,0 und

b) nach Vollendung des 65. Lebensjahres trotz erfüllter Wartezeit nicht in Anspruch genommen werden, für jeden Kalendermonat um 0,005 höher als 1,0,

3. bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0,

4. bei Hinterbliebenenrenten für jeden Kalendermonat,

a) der sich vom Ablauf des Monats, in dem der Versicherte verstorben ist, bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres des Versicher- ten ergibt, um 0,003 niedriger als 1,0 und

b) für den Versicherte trotz erfüllter Wartezeit eine Rente wegen Alters nach Voll- endung des 65. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,005 höher als 1,0.

Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres oder ist bei Hinterbliebenenrenten der Versicherte vor Vollendung des 60. Lebensjahres verstorben, ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend. 3Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten gilt nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme.

(3) Für diejenigen Entgeltpunkte, die bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren, bleibt der frühere Zugangsfaktor maßgebend. Dies gilt nicht für die Hälfte der Entgeltpunkte, die Grundlage einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung waren. Der Zugangsfaktor wird für Entgeltpunkte, die Versicherte bei

1. einer Rente wegen Alters nicht mehr vorzeitig in Anspruch genommen haben, um 0,003 oder

2. einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder einer Erziehungsrente mit einem Zugangsfaktor kleiner als 1,0 nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum Ende des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,003,

3. einer Rente nach Vollendung des 65. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,005 je Kalendermonat erhöht.

2. Aus dem Wortlaut des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI (in seiner hier maßgeblichen bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) hat der 4. Senat im Urteil vom 16.5.2006 (aaO RdNr 21) für Renten wegen Erwerbsminderung gefolgert, es gebe "drei Gruppen von Erwerbsminderungsrentnern:

(a) Erstens die 63- bis 65-Jährigen, die keine Kürzung ihrer Vorleistung (gemeint Summe der Entgeltpunkte) hinnehmen müssen...

(b) Zweitens ältere Rentner, bei denen der Versicherungsfall der 'Erwerbsminderung' zwar vor Vollendung des 63. Lebensjahres, aber erst eingetreten ist, als sie älter als 35 Jahre und zwei Monate waren. Diese müssen für jeden Monat der 'vorzeitigen Renteninanspruchnahme' eine Minderung des Zugangsfaktors ('Rentenabschlag') um 0,003 hinnehmen.

(c) Drittens die Versicherten, die im Alter von 35 Jahren und zwei Monaten oder früher nach Erfüllung der Wartezeit einen der Versicherungsfälle der Sparte der Erwerbsminderungsversicherung erleiden; sie erhalten keine Rente. Denn bei ihnen ist gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI ... der gesamte Zugangsfaktor abgeschmolzen und deshalb überhaupt keine Vorleistung mehr anzurechnen (Zugangsfaktor 0,0) mit der Folge, dass dieses Recht (als nudum ius) keinen Geldwert mehr hat."

Dieses von ihm gefundene Auslegungsergebnis hat der 4. Senat für "in sich schlechthin objektiv willkürlich" gehalten (aaO RdNr 22).

3. Dieser Argumentation kann der 13. Senat bereits hinsichtlich der Prämissen in Bezug auf die beiden zuletzt genannten Versichertengruppen (2. [b] und [c]) nicht zustimmen.

Zu 2. (a): Insoweit schließt sich der 13. Senat dem og Auslegungsergebnis an; dies ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 (iVm Abs 1 ) SGB VI . Denn bei dieser Versichertengruppe liegt das Alter bei Rentenbeginn erst nach Vollendung des 63. Lebensjahres; eine Minderung des Zugangsfaktors um 0,003 kommt aber nur in Betracht für Kalendermonate vor diesem Zeitpunkt.

Zu 2. (b) und (c): In beiderlei Hinsicht beruhen die Ausführungen des 4. Senats auf der Auffassung, aus § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI ergebe sich die Möglichkeit, dass ein Versicherter, der bei Eintritt der Erwerbsminderung jünger sei als 60 Jahre, wegen der sich kumulierenden Minderung des Zugangsfaktors von 0,003 je Kalendermonat ganz erhebliche Einbußen hinsichtlich der Höhe seiner Rente wegen Erwerbsminderung hinnehmen müsse, bis hin zu einer "Nullrente" im Alter von 35 Jahren und zwei Monaten und darunter. Wäre dem so, läge in der Tat der vom 4. Senat festgestellte Befund nahe, es handele sich um eine "schlechthin objektiv willkürlich(e)" Regelung (aaO RdNr 22).

Das einschlägige Auslegungsergebnis des 4. Senats trifft jedoch nicht zu. Selbst wenn es - rein rechnerisch bei isolierter Textauslegung - aus § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI hergeleitet werden könnte, kann diese Regelung zur Vermeidung eines ansonsten widersinnigen Ergebnisses nur zusammen mit dem nächsten Satz der Vorschrift angewandt werden. Nach § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI (in seiner hier maßgeblichen bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) nämlich "ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend", wenn "eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ... vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt". § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI regelt in notwendiger Ergänzung zu Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI , bis zu welchem Zeitpunkt die Monate zählen, die für die Bestimmung (Berechnung) des Zugangsfaktors maßgeblich sind. Eine Reduzierung des Zugangsfaktors ist ausgeschlossen für die Monate der Inanspruchnahme der Erwerbsminderungsrente, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres liegen ("Vollendung des 60. Lebensjahres" als Ende des Berechnungszeitraums, der nach § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI mit der "Vollendung des 63. Lebensjahres" beginnt).

Damit aber kann die vom 4. Senat (s oben unter 2. [b] und [c]) postulierte Situation nicht eintreten. Die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, die vor Vollendung des 63. Lebensjahres beginnen, belaufen sich hiernach höchstens auf diejenigen, die bei einem (fiktiven) Rentenbeginn mit Vollendung des 60. Lebensjahres anfallen, also auf maximal 10,8 vH (36 Monate x 0,3 vH [0,003 Abschlag von 1,0]). Auf diese Weise ist sichergestellt, dass der Abschlag auf den Zugangsfaktor - mit welchem Alter bei Rentenbeginn (bzw bei Eintritt der Erwerbsminderung) auch immer - niemals höher als 10,8 vH ausfällt, der Zugangsfaktor also höchstens auf den Wert von 0,892 (36 Monate x 0,003 = 0,108) abgesenkt werden kann; die Erwerbsminderungsrente kann mithin nicht auf "Null" schrumpfen. Dies bedeutet jedoch gleichzeitig, dass es der vom 4. Senat (aaO RdNr 22) als Abhilfe angebotenen "verfassungskonform[en]" Interpretation von vornherein nicht bedarf.

Nicht nachvollziehbar ist die Meinung des 4. Senats, die hier vertretene Auslegung finde "im Gesetz nicht einmal andeutungsweise eine Stütze", vielmehr schließe die Vorschrift des § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI "ausdrücklich einen verringerten Zugangsfaktor ('Rentenabschlag') für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus" (aaO RdNr 25). Im Gegenteil kann der herangezogenen Vorschrift eben dieser Inhalt nicht entnommen werden. Denn sie bezieht sich ausdrücklich auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die "vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt", und regelt näher, wie insoweit der Zugangsfaktor zu berechnen ist. Der 13. Senat schließt sich daher der unter Berufung auf Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des § 77 SGB VI entwickelten und ausführlich begründeten Auffassung des 5a. Senats (RdNr 16 bis 34 des Anfragebeschlusses) an, dass die Regelung des § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI (ggf iVm der Übergangsregelung des § 264c SGB VI idF des RRErwerbG) als "Berechnungsregel" (iS einer "Rentenabschlagsbegrenzungsregel") zu verstehen ist; er sieht deshalb von weiteren, ins Einzelne gehenden Ausführungen ab. Sie könnten am dargestellten Normverständnis nichts ändern.

4. Ergänzend weist der 13. Senat darauf hin, dass auch aus einem weiteren Grund nicht davon ausgegangen werden kann, der Gesetzgeber des RRErwerbG habe den abgesenkten Zugangsfaktor erst ab dem vollendeten 60. Lebensjahr bei Erwerbsminderungsrentnern einführen wollen.

Die Absicht, Erwerbsminderungsrenten (nach dem SGB VI ) mit Rentenbeginn vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht abschlagsfrei gewähren zu wollen, lässt sich nämlich auch aus den vom Gesetzgeber mit dem RRErwerbG parallel vorgenommenen Änderungen bei der Alterssicherung von Landwirten entnehmen. Auf dieses Rechtsgebiet sollten die Neuregelungen im Bereich der Rente wegen Erwerbsminderung des SGB VI nach der Gesetzesbegründung übertragen werden; dabei sollten die Besonderheiten dieses berufsspezifischen Alterssicherungssystems berücksichtigt werden (vgl BT-Drucks 14/4230 S 1 zu B. Nr 6 und S 24 zu 6.; BT-Drucks 14/4630 S 2). Daher wurden auch hier mit Wirkung vom 1.1.2001 - wie in der allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherung - für Erwerbsminderungsrenten Abschläge mit einer Begrenzung auf höchstens 10,8 vH eingeführt.

Nach § 23 Abs 8 Satz 1 Nr 1 des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte ( ALG ) in seiner bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung des RRErwerbG vermindert sich der allgemeine Rentenwert um 0,3 vH (Abschlag) für jeden Kalendermonat, für den eine Rente wegen Erwerbsminderung vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird. Nach § 23 Abs 8 Satz 2 Halbsatz 1 ALG in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung beträgt der Abschlag jedoch (grundsätzlich) höchstens 10,8 vH. Diese Bestimmungen entsprechen von ihrem Regelungsgehalt § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 und Satz 2 SGB VI .

Allerdings war es dem Gesetzgeber nicht möglich, den Abschlag für Erwerbsminderungsrenten im ALG - wie im SGB VI - über eine Minderung des "Zugangsfaktors" zu regeln, da das Recht der Alterssicherung der Landwirte einen solchen nicht kennt. Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich hier aus einer Multiplikation der sog Steigerungszahl mit dem Rentenartfaktor und dem allgemeinen Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn (§ 23 Abs 1 ALG ). Einen in der Steigerungszahl enthaltenen Zugangsfaktor, der bei Kürzung zu einer geringeren Rentenhöhe führen könnte, gibt es nicht.

Der Gesetzgeber hat daher im ALG einen gesonderten "Abschlag" von monatlich 0,3 vH geregelt. Im vorliegenden Fall ist bedeutsam, dass er ihn im Gesetzestext auf "höchstens 10,8 vH" beschränkt hat; er hat dabei nicht unterschieden zwischen Rentenbezugszeiten vor und nach Vollendung des 60. Lebensjahres. Ebenso wie auch in der allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherung ist auch hier als Ausgleich für die eingeführten Rentenabschläge die Zurechnungszeit verbessert worden: Sie ist auf die Zeit bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres ausgedehnt worden und wird voll angerechnet (vgl § 92a ALG idF des RRErwerbG; vgl hierzu BT-Drucks 14/4230 S 34 zu Nr 22 und S 37 f zu II. 2.1.).

Wenn aber die Regelungen in beiden Alterssicherungssystemen nach den in den Gesetzesmaterialien zum RRErwerbG (vgl BT-Drucks 14/4230 S 1 zu B. Nr 6, S 24 zu 6. und S 33 zu Buchst f) deutlich zum Ausdruck kommenden "Willen des Gesetzgebers" bezogen auf die Rentenabschläge bei Erwerbsminderungsrenten wirkungsgleich sein sollen, dann kann die Auslegung des § 77 SGB VI zu keinem abweichenden Ergebnis führen.

5. Wie vom 5a. Senat des Näheren ausgeführt (RdNr 35 bis 53), hält das Auslegungsergebnis auch einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Der 13. Senat schließt sich diesem Prüfungsergebnis an. Dies gilt insbesondere deshalb, weil sich die finanziellen Einbußen der Erwerbsminderungsrentner durch die Neuregelung des § 77 SGB VI wegen der gleichzeitig eingeführten vollen - statt wie zuvor nur zu einem Drittel erfolgten - Berücksichtigung der Zurechnungszeiten zwischen dem 55. und 60. Lebensjahr (vgl § 59 Abs 2 Satz 2 SGB VI ggf iVm der Übergangsregelung des § 253a SGB VI idF des RRErwerbG) im Rahmen des (noch) Zumutbaren halten.

Dies gilt insbesondere auch für diejenigen Versicherten, bei denen die Erwerbsminderung bereits viele Jahre vor Vollendung des 60. Lebensjahres eintritt und bei denen ein Zusammenhang mit einer vorzeitigen Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente mit einem Abschlag von bis zu 18 vH und der Gefahr von entsprechenden "Ausweichreaktionen" in die Renten wegen Erwerbsminderung (vgl zu diesen Motiven des Gesetzgebers BT-Drucks 14/4230 S 23 zu II. 3. und S 26 zu Nr 22) nicht hergestellt werden kann. In diesen Fällen erweist sich die in § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 , Satz 2 und 3 SGB VI normierte Absenkung des Zugangsfaktors ebenfalls als verfassungsgemäßer Eingriff in deren durch Art 14 Abs 1 des Grundgesetzes geschützte Rentenanwartschaften.

Zweck der Einführung von Abschlägen im Rahmen der Reform der Erwerbsminderungsrenten war neben der Anpassung der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe von vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten zur Vermeidung von Ausweichreaktionen der Versicherten auch die Erzielung von Einsparungen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung, um deren Funktions- und Leistungsfähigkeit zu erhalten. Denn durch den verminderten Zugangsfaktor sollten die Vorteile eines längeren Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ausgeglichen werden (vgl § 63 Abs 5 SGB VI idF des RRErwerbG). Der Vorteil einer früheren Inanspruchnahme der Rente liegt (statistisch gesehen) darin, dass die Rentensumme desto höher ist, je länger die Rentenlaufzeit insgesamt ist. Ein früherer Renteneintritt bedeutet somit zwangsläufig eine finanzielle Mehrbelastung der Versichertengemeinschaft, die durch einen absenkten Zugangsfaktor - für die erwerbsgeminderten Versicherten gemildert durch die Verlängerung der Zurechnungszeit - begrenzt werden soll.

Bei derartigen finanziellen Erwägungen handelt es sich, worauf der 5a. Senat zutreffend hingewiesen hat (RdNr 42 mwN), um einen legitimen Grund für einen Eingriff in bestehende Rentenanwartschaften. Der Senat ist in Überstimmung mit dem 5a. Senat der Überzeugung, dass die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahres ein geeignetes und erforderliches Mittel ist, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Sie ist darüber hinaus für den betroffenen Versichertenkreis zumutbar. Den Interessen derjenigen Versicherten, die bereits in jüngerem Lebensalter aus gesundheitlichen Gründen eine Rente wegen Erwerbsminderung in Anspruch nehmen müssen und bei denen daher die Gefahr einer "Ausweichreaktion" nicht besteht, hat der Gesetzgeber durchaus Rechnung getragen. Denn er hat die nachteiligen finanziellen Folgen der Neuregelung durch die gleichzeitig eingeführte bessere Anrechnung der Zurechnungszeiten teilweise ausgeglichen. Damit führt der Rechtszustand ab 1.1.2001 bei Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres gegenüber dem vorherigen Rechtszustand bei den noch nicht "altersrentennahen" Versicherten (dh bei einem Eintritt der Erwerbsminderung bis zu einem Lebensalter von 56 Jahren und 8 Monaten) zu einer Minderung der Rentenhöhe von lediglich etwa 3,3 vH (vgl BT-Drucks 14/4230 S 24 zu II. 3.). Die höchste Kürzung von 10,8 vH ergibt sich mit Vollendung des 60. Lebensjahres, also zu jenem Zeitpunkt, zu dem es im Hinblick auf die gesetzlich normierten Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente am ehesten gilt, "Ausweichreaktionen" der Versicherten in die Erwerbsminderungsrenten entgegenzuwirken.

Dabei ging es dem Gesetzgeber des RRErwerbG, worauf der 5a. Senat zutreffend hingewiesen hat (RdNr 28), nur um eine "Anpassung" bzw "Angleichung" - und nicht um eine "Gleichstellung" - der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitigen Altersrenten (vgl BT-Drucks 14/4230 S 24 zu II. 3.). Denn zum einen beträgt die maximale Absenkung der Erwerbsminderungsrenten durch den Zugangsfaktor nur 10,8 vH, und zum anderen wird der erwerbsgeminderte Versicherte durch die Erhöhung der Zurechnungszeit bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres so gestellt, als ob er bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres weitergearbeitet hätte; dann aber hätte er bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente einen Abschlag von bis zu 18 vH hinnehmen müssen (vgl BT-Drucks 14/4230 S 24 zu II. 3.).

6. Aus den vorgenannten Gründen schließt sich der 13. Senat der Auffassung des 5a. Senats an, dass auch die Erwerbsminderungsrenten mit einem Abschlag (Minderung des Zugangsfaktors) zu versehen sind, die vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch genommen werden.

Vorinstanz: BSG, vom 29.01.2008 - Vorinstanzaktenzeichen 5a/5 R 32/07