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BVerwG - Entscheidung vom 05.04.2007

1 B 165.06

BVerwG, Beschluss vom 05.04.2007 - Aktenzeichen 1 B 165.06

DRsp Nr. 2007/9252

Gründe:

I

Die Klägerin zu 1 und ihr Sohn, der Kläger zu 2, stammen aus Aserbaidschan. Die Klägerin zu 1 reiste nach eigenen Angaben aus Furcht vor Verfolgung wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit gemeinsam mit ihrem Sohn aus Aserbaidschan aus. Beide halten sich seit Juli 2000 in Deutschland auf und beantragten hier Asyl. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte die Asylanträge ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG ) und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ) nicht vorliegen und drohte den Klägern die Abschiebung nach Aserbaidschan an.

Das Verwaltungsgericht hat der hiergegen gerichteten Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragten), die sich gegen die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG richtet, zurückgewiesen. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kläger wegen der Gefahr asylerheblicher Verfolgung aus Aserbaidschan ausgereist sind und auch heute in ihrer Heimat vor erneuter politischer Verfolgung insbesondere durch staatliche Stellen nicht hinreichend sicher sind. Sie könnten Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG beanspruchen, weil ihnen keine zumutbare Fluchtalternative offen stehe (UA S. 9 f., Ziffer 1). Ihnen müsse aber auch deshalb Abschiebungsschutz hinsichtlich Aserbaidschans gewährt werden, weil sie dort wegen ihrer armenischen Volksangehörigkeit ausgebürgert worden seien und ihnen die Wiedereinreise dorthin verwehrt werde. Wegen dieser Ausbürgerung und Einreiseverweigerung komme es nicht mehr darauf an, ob ihnen heute in Berg-Karabach eine zumutbare Fluchtalternative offen stehe (UA S. 10 ff., Ziffer 2). Abgesehen davon biete sich den Klägern in Berg-Karabach aber keine zumutbare Zufluchtsmöglichkeit. Denn die Einreise dorthin sei nur von Armenien aus möglich und setze dort zunächst den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit oder die Stellung eines Asylantrags voraus (UA S. 14). Gegen die Nichtzulassung der Revision wenden sich die Beklagte und der Bundesbeauftragte mit Grundsatz- und Divergenzrügen, der Bundesbeauftragte zusätzlich mit einer Verfahrensrüge.

II

Die Beschwerde der Beklagten, die sich auf Grundsatz- und Divergenzrügen beschränkt, ist unzulässig (s.u. 1). Hingegen hat die Beschwerde des beteiligten Bundesbeauftragten mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ) Erfolg. Er rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage der zumutbaren Erreichbarkeit Berg-Karabachs von Armenien aus sowie dessen Eignung als inländische Fluchtalternative im Übrigen nicht in der gebotenen Weise nachgekommen ist (s.u. 2). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

1. Die von der Beklagten erhobene Divergenz- und Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 VwGO ) entsprechen nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO .

a) Die Beklagte rügt, es widerspreche der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts zur inländischen Fluchtalternative, wenn es das Berufungsgericht als unerheblich erachte, ob die Kläger über Armenien nach Berg-Karabach gelangen könnten und dort eine zumutbare inländische Fluchtalternative hätten, weil es dem Asylbewerber freistehe, den Zielstaat seiner Flucht zu wählen, und die Möglichkeit, innerhalb des Heimatstaates eine Zuflucht zu finden, unwesentlich sei, wenn der Zentralstaat sie ausgebürgert habe und in das Kernterritorium nicht wiedereinreisen lasse (Beschwerdebegründung S. 4).

Mit diesem Vorbringen kann eine Zulassung der Revision wegen Divergenz nicht erreicht werden. Die Beschwerde zeigt nämlich nicht - wie erforderlich - die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage auf, für die sie eine Divergenz behauptet. Sie geht nicht darauf ein, dass das Berufungsgericht den Klägern Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG mit einer selbständig tragenden Begründung auch deshalb gewährt, weil sie in ihrer Heimat vor erneuter politischer Verfolgung insbesondere durch staatliche Stellen nicht hinreichend sicher seien und ihnen keine zumutbare inländische Fluchtalternative offen stehe (UA S. 9 f., Ziffer 1). Bei diesem Teil der Begründung, gegen den Revisionsrügen nicht erhoben werden, spielt die für die Divergenz als maßgeblich bezeichnete Frage keine Rolle, ob im Falle der asylerheblichen Ausbürgerung abweichende Maßstäbe für die inländische Fluchtalternative gelten. An der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit fehlt es aber auch für die auf Besonderheiten bei Ausbürgerungen abstellende Rechtsauffassung des Berufungsgerichts. Denn auch insoweit wird die Entscheidung - selbständig tragend - auf die von der Beklagten mit Verfahrensrügen nicht angegriffene Feststellung gestützt, dass Berg-Karabach - wie noch auszuführen ist (unter 1 b) - für die Kläger nicht zumutbar zu erreichen ist (UA S. 14).

Im Übrigen hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 22. März 2007 (BVerwG 1 B 97.06, Abschnitt 2 a) in einem ähnlich gelagerten Fall darauf hingewiesen, dass es mit den bisher in der Rechtsprechung zur inländischen Fluchtalternative entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar sei, wenn das Berufungsgericht die Rechtsauffassung vertreten sollte, dass ausgebürgerte Konventionsflüchtlinge wegen eines Wahlrechts bezüglich des Ziel- bzw. Schutzstaates von vornherein nicht auf die Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative in Berg-Karabach verwiesen werden könnten.

b) Die Beklagte wirft zwei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für den Fall auf, dass die unter "a" erörterte Divergenz nicht vorliegt (Beschwerdebegründung S. 4 f.):

(1) Lässt die Ausbürgerung durch den Zentralstaat die Klärung der Frage obsolet werden, ob der Ausländer in einem - zugänglichen -Teilbereich des Herkunftsstaats Aufnahme finden könnte?

(2) Kann eine eventuelle inländische Fluchtalternative einem Asylsuchenden auch dann entgegengehalten werden, wenn er den Ort der Zuflucht nur über einen Drittstaat - hier: Armenien - unter bestimmten Erschwernissen, u.a. (wegen) möglicher Wartezeiten und Beantragung etwa des Flüchtlingsstatus dort, erreichen kann?

Auch diese Rügen rechtfertigen die Zulassung der Revision nicht. Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass sie der Klärung in einem Revisionsverfahren bedürfen.

Die erste aufgeworfene Frage bezieht sich darauf, ob eine inländische Fluchtalternative bei bestimmten Arten von Verfolgungshandlungen nicht greifen kann mit der Folge, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG anzunehmen ist. Auf diese Frage kommt es deshalb nicht an, weil das Berufungsgericht festgestellt hat, dass die Einreise nach Berg-Karabach als Ort einer möglichen (inländischen) Fluchtalternative nur - wenn überhaupt - von Armenien aus möglich ist und dort zunächst den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit oder die Stellung eines Asylantrags voraussetzt (UA S. 14). Das ist den Klägern aber nicht zumutbar. Hierzu hat der Senat in seinem bereits zitierten Beschluss vom 22. März 2007 ausgeführt (Rn. 13):

"Ein Asylsuchender kann nach der Rechtsprechung nur dann auf das Gebiet einer inländischen Fluchtalternative verwiesen werden, wenn dieses zumutbar erreichbar ist (Urteil vom 16. Januar 2001 - BVerwG 9 C 16.00 - BVerwGE 112, 345). Zwar ist es für einen Asylsuchenden nicht generell unzumutbar, in das Zufluchtsgebiet im Wege des Transits durch einen anderen Staat und erforderlichenfalls mit Hilfe dort zu beschaffender Transitpapiere einzureisen. Es ist hingegen nicht zumutbar, auf ein Gebiet verwiesen zu werden, das der Ausländer erst nach Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit oder des Flüchtlingsstatus in einem Drittstaat erreichen kann. Der Verweis des Flüchtlings darauf, eine Fluchtalternative innerhalb seines Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen, bevor er Schutz durch einen Staat der internationalen Staatengemeinschaft in Anspruch nehmen kann, ist eine Ausprägung des Grundsatzes der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt der Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes aber nur im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit der Betroffenen - bei Staatenlosen im Verhältnis zum Staat des gewöhnlichen Aufenthalts - wie auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen Staat (vgl. Urteil vom 8. Februar 2005, BVerwG 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 >387<). Demgemäß darf ein Schutzsuchender nicht darauf verwiesen werden, in einem sonstigen Drittland (hier: Armenien) zunächst die dortige Staatsangehörigkeit oder den Flüchtlingsstatus zu erwerben, um anschließend ein inländisches Zufluchtsgebiet zu erreichen."

Im Hinblick auf die Rechtslage und die Feststellungen des Berufungsgerichts kann die Beklagte auch nichts aus der Zulassung der Revision in dem von ihr angesprochenen Verfahren BVerwG 1 B 122.05 (1 C 12.06 - Beschluss vom 15. Juni 2006) herleiten. In dem genannten Verfahren geht es allein um die Frage, ob die Fluchtalternative Berg-Karabach zumutbar erreichbar ist, wenn der Zuflucht Suchende zuvor in Armenien den Flüchtlingsstatus oder unter Inkaufnahme eines längeren Zwischenaufenthalts Einreisepapiere beantragen und erwerben muss. Im vorliegenden Verfahren hat das Berufungsgericht hingegen festgestellt, dass entweder die armenische Staatsangehörigkeit oder aber der Flüchtlingsstatus erworben werden müssten, um nach Berg-Karabach einreisen zu dürfen. Aus diesem Grunde ist auch die von der Beklagten aufgeworfene zweite Grundsatzfrage (2) nicht entscheidungserheblich, soweit sie sich auf "Erschwernisse" in Gestalt von "Wartezeiten" bezieht. Soweit sie sich hingegen auf das Erfordernis der "Beantragung des Flüchtlingsstatus" bezieht, ist die Frage durch den Beschluss des Senats vom 22. März 2007 geklärt.

Allerdings bemerkt der Senat, dass die mit der ersten Grundsatzrüge (1) angesprochene (nicht entscheidungserhebliche) Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, bei aus asylerheblichen Gründen ausgebürgerten Flüchtlingen, denen außerdem die Wiedereinreise in ihr Herkunftsland verweigert werde, komme es nicht darauf an, ob ihnen eine zumutbare inländische Fluchtalternative offen stehe (UA S. 15), der bisherigen Rechtsprechung des Senats so nicht zu entnehmen ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auch insoweit auf den Beschluss des Senats vom 22. März 2007 (Rn. 15) Bezug genommen.

2. Erfolg hat hingegen der Bundesbeauftragte mit der von ihm erhobenen Verfahrensrüge. Denn das Berufungsgericht ist seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage der zumutbaren Erreichbarkeit von Berg-Karabach und seiner Eignung als inländische Fluchtalternative nicht nachgekommen. Darin liegt zugleich eine Verletzung des Anspruchs des Bundesbeauftragten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 138 Nr. 3 VwGO , Art. 103 Abs. 1 GG ).

Der Bundesbeauftragte bemängelt zu Recht, dass das Berufungsgericht sich in den Entscheidungsgründen nicht mit der von ihm im Berufungsverfahren vorgetragenen anderslautenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Kassel, des Oberverwaltungsgerichts Schleswig und des Oberverwaltungsgerichts Weimar zu den oben angesprochenen Fragen auseinander gesetzt hat (Beschwerdebegründung S. 8 ff., Ziffer IV). Der Bundesbeauftragte hat sich in seinem Schriftsatz vom 23. Juni 2006 gegenüber dem Berufungsgericht ausdrücklich auf Entscheidungen der genannten Gerichte bezogen und diese im Einzelnen nach Aktenzeichen und Entscheidungsdatum spezifiziert. Er hat auch vorgetragen, dass diese Entscheidungen zu dem Ergebnis kommen, dass Berg-Karabach als regelmäßig zumutbar erreichbare und auch im Übrigen geeignete inländische Fluchtalternative einzustufen sei. In der Beschwerdebegründung hat der Bundesbeauftragte weiter darauf hingewiesen, dass die genannten Entscheidungen auch zu abweichenden Ergebnissen in Bezug auf die Einreiseverweigerung bei Ausgebürgerten und der Rückkehrmöglichkeit nach Berg-Karabach für ausweislose Personen gelangen (Beschwerdebegründung S. 10). Die Tatsache, dass das Berufungsgericht auf das Vorbringen des Bundesbeauftragten in seinem Schriftsatz vom 23. Juni 2006 in den Urteilsgründen nicht eingegangen ist und sich auch sonst nicht mit der abweichenden tatsächlichen und rechtlichen Würdigung der anderen Oberverwaltungsgerichte befasst hat, lässt angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nur den Schluss zu, dass es dieses Vorbringen nicht in Erwägung gezogen hat. Das verletzt den Anspruch des Bundesbeauftragten auf Gewährung rechtlichen Gehörs; zugleich liegt darin ein formeller Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO .

Zwar ist die nach der Rechtsprechung des Senats gebotene Auseinandersetzung mit der abweichenden Würdigung verallgemeinerungsfähiger Tatsachen im Asylrechtsstreit durch andere Oberverwaltungsgerichte grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung, so dass eine fehlende Auseinandersetzung mit abweichender obergerichtlicher Rechtsprechung als solche in aller Regel nicht als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden kann (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 1. März 2006 - BVerwG 1 B 85.05 - juris und - BVerwG 1 B 86.05 -). Etwas anderes muss jedoch dann gelten, wenn sich ein Beteiligter - wie hier - einzelne tatrichterliche Feststellungen eines Oberverwaltungsgerichts als Parteivortrag zu Eigen macht und es sich dabei um ein zentrales und entscheidungserhebliches Vorbringen handelt. Geht das Berufungsgericht hierauf in den Urteilsgründen nicht ein und lässt sich auch sonst aus dem gesamten Begründungszusammenhang nicht erkennen, dass und in welcher Weise es diesen Vortrag zur Kenntnis genommen und erwogen hat, liegt in der unterlassenen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts ausnahmsweise auch ein rügefähiger Verfahrensmangel (vgl. in diesem Sinne schon Beschluss vom 21. Mai 2003 - BVerwG 1 B 298.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270).

Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, kann die Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensmangel auch beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Auseinandersetzung mit den Ausführungen der anderen Oberverwaltungsgerichte zu einer anderen Entscheidung betreffend die Frage einer inländischen Fluchtalternative in Berg-Karabach gelangt wäre. Auf die vom Bundesbeauftragten erhobenen Grundsatz- und Divergenzrügen kommt es danach nicht mehr an.

Bei seiner erneuten Entscheidung im Rahmen des zurückverwiesenen Verfahrens wird das Berufungsgericht auch zu berücksichtigen haben, dass bei der Prüfung einer inländischen Fluchtalternative jetzt Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG zu beachten ist, nachdem die Umsetzungsfrist für die Richtlinie abgelaufen ist (vgl. Art. 38 Abs. 1).

Vorinstanz: VGH Bayern, vom 04.08.2006 - Vorinstanzaktenzeichen 9 B 04.30634