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BVerwG - Entscheidung vom 06.06.2007

10 B 65.07

BVerwG, Beschluß vom 06.06.2007 - Aktenzeichen 10 B 65.07 - Aktenzeichen 1 B 300.06

DRsp Nr. 2007/11870

Gründe:

1. a) Die Beschwerde hält zunächst die Frage für grundsätzlich bedeutsam (Beschwerdebegründung unter II.), ob die für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG erforderliche "nicht nur vorübergehende Änderung" der Verhältnisse bereits dann gegeben ist,

"wenn bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Heimatstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgung auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut Verfolgung droht ...

oder

wenn die Ordnung im ursprünglichen Verfolgerstaat auf absehbare Zeit so stabil ist, dass für den betroffenen Flüchtling eine Gefährdung aus politischer Verfolgung, aus Gründen von Abschiebungshindernissen im Sinne von § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG und aus Gründen 'allgemeiner Gefahren' im Sinne der Rechtsprechung des BVerwG mit Sicherheit auszuschließen ist, hilfsweise zumindest aber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht".

Die Beschwerde macht geltend, diese Problematik sei durch das Grundsatzurteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 noch nicht abschließend geklärt. Dort finde sich noch keine "Gesamtschau" von Art. 1 C GFK mit der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 - Qualifikationsrichtlinie - als Auslegungsmaßstab.

Der Beschwerde ist nicht zu entnehmen, dass die angesprochene Problematik der erneuten Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf. Insoweit wird auf die Urteile vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 und vom 20. März 2007 - BVerwG 1 C 21.06 - Bezug genommen. In diesen Urteilen hat das Bundesverwaltungsgericht u.a. entschieden, dass die Widerrufsvoraussetzungen insbesondere vorliegen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Beruft sich der anerkannte Flüchtling darauf, dass ihm bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat nunmehr eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung drohe, ist dabei der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden. Ändert sich im Nachhinein lediglich die Beurteilung der Verfolgungslage, so rechtfertigt dies den Widerruf nicht. Besteht nach diesen Maßstäben für den Flüchtling keine Verfolgungsgefahr in seinem Heimatstaat, dann kann er es - vorbehaltlich der Ausnahme in § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG - im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 GFK nicht mehr ablehnen, den Schutz des Landes seiner Staatsangehörigkeit (wieder) in Anspruch zu nehmen. Denn mit "Schutz" in diesem Sinne kann nur der Schutz vor Verfolgung gemeint sein. Ob dem Ausländer wegen allgemeiner Gefahren im Herkunftsstaat (z.B. aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage) eine Rückkehr unzumutbar ist, ist - wie das Bundesverwaltungsgericht nach erneuter Prüfung bestätigt hat - beim Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG entgegen der Ansicht der Beschwerde nicht zu prüfen. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob im Herkunftsstaat generell und unabhängig von einer Verfolgungsgefahr eine angemessene Infrastruktur oder eine ausreichende Existenzgrundlage vorhanden ist.

Einen weitergehenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde - auch soweit sie unter IV. die Frage des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nochmals anspricht - nicht auf. Hinsichtlich der Qualifikationsrichtlinie berücksichtigt die Beschwerde nicht, dass deren den Widerruf betreffende Bestimmungen über die Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 14 i.V.m. Art. 11) im vorliegenden Fall noch nicht anwendbar sind. Denn sie gelten gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie nur bei Anträgen auf internationalen Schutz, die - anders als hier - nach Inkrafttreten der Richtlinie am 20. Oktober 2004 gestellt wurden (vgl. zu weiteren Einzelheiten der Qualifikationsrichtlinie das erwähnte Urteil vom 20. März 2007). Unabhängig hiervon zeigt die Beschwerde auch nicht - wie erforderlich - auf, inwiefern eine weitere Klärung der in Rede stehenden Problematik in einem Revisionsverfahren entscheidungserheblich wäre.

b) Ohne Erfolg macht die Beschwerde weiter die grundsätzliche Bedeutung der Frage geltend, ob das Berufungsgericht in dem angegriffenen Urteil die Feststellung, dass es nicht an einer "nicht nur vorübergehenden" Situationsänderung fehle, auf einer zureichenden Tatsachengrundlage getroffen habe. Diese die Tatsachenfeststellung im vorliegenden Verfahren betreffende Frage stellt nicht eine - nach ständiger Rechtsprechung in § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorausgesetzte - klärungsbedürftige Rechtsfrage dar.

Soweit die Beschwerde im gleichen Zusammenhang geltend macht, das Berufungsgericht habe nicht ausreichend aufgeklärt, ob im Irak eine dauerhafte Situationsänderung eingetreten ist, wird die Aufklärungsrüge nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargelegt. Insbesondere zeigt die Beschwerde nicht auf, inwiefern sich eine derartige Aufklärung auf der Grundlage der materiellen Rechtsauffassung des Berufungsgerichts - mithin entgegen der Ansicht der Beschwerde ohne Berücksichtigung allgemeiner Gefahren (BA S. 8) - hätte aufdrängen müssen.

2. Die Beschwerde macht darüber hinaus die grundsätzliche Bedeutung der Frage geltend (Beschwerdebegründung unter III.),

"ob aus Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK ausschließlich ein Schutz vor erneuter politischer Verfolgung im Sinne von Art. 1 A GFK folgt oder ob sich hieraus ein weitergehender Schutz im Sinne der Minimalbedingungen einer staatlichen Friedensordnung/Minimalbedingungen menschenwürdiger Existenz ergibt, bei deren Nichtvorliegen der Kläger eine Rückkehr in seinen Heimatstaat berechtigt ablehnen kann".

Der Beschwerde, die auch in diesem Zusammenhang auf das Fehlen einer "Gesamtschau der Qualifikationsrichtlinie" und das Erfordernis der Berücksichtigung "allgemeiner Gefahren" verweist, kann nicht entnommen werden, dass die aufgeworfene Frage der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf. Die materiellen Widerrufsvoraussetzungen nach § 73 Abs. 1 AsylVfG sind Gegenstand der erwähnten Urteile vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - aaO. und vom 20. März 2007 - BVerwG 1 C 21.06 -, auf die Bezug genommen wird. Danach kommt es u.a. nicht darauf an, ob im Herkunftsstaat generell und unabhängig von einer Verfolgungsgefahr eine angemessene Infrastruktur und eine ausreichende Existenzgrundlage vorhanden sind (vgl. oben 1. a). Einen weitergehenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde hinsichtlich der angesprochenen Problematik nicht auf. Was die Einbeziehung der Qualifikationsrichtlinie in die aufgeworfene Frage angeht, wird auf die obigen Ausführungen unter 1. a) Bezug genommen. Auch insoweit macht die Beschwerde das Erfordernis weiterer oder erneuter Klärung nicht ersichtlich.

Unabhängig hiervon zeigt die Beschwerde auch nicht - wie erforderlich - auf, inwiefern die von ihr aufgeworfene Frage in einem Revisionsverfahren erheblich wäre. Soweit diese Frage das Erfordernis des Bestehens einer staatlichen oder quasistaatlichen Herrschaftsmacht im Herkunftsland überhaupt zum Gegenstand haben sollte, wird auf das eine entsprechende Entscheidung des Berufungsgerichts betreffende Urteil vom 20. März 2007 - BVerwG 1 C 34.06 - verwiesen.

3. Keinen Erfolg hat die Beschwerde auch, soweit sie die Fragen für grundsätzlich bedeutsam hält (Beschwerdebegründung unter V.),

"ob Art. 8 EMRK bereits aus Rechtsgründen bei Widerrufsverfahren gegen irakische Flüchtlinge kein im Verfahren gegenüber dem Bundesamt berücksichtigungsfähiges Abschiebungsverbot ist, da Abschiebungen in einen Nichtsignatarstaat der EMRK wie den Irak unter Bezugnahme auf eine Konventionsgarantie nur in krassen Fällen eines Eingriffs in den Kernbereich einer von allen Vertragsstaaten als grundlegend anerkannten Menschenrechtsgarantie unzulässig sind, was bei Abschiebungen aus dem Land des Aufenthalts trotz dort entstandener Bindungen regelmäßig nicht der Fall ist",

und

"ob Art. 8 EMRK bereits deshalb keinerlei Schutz vor Trennung von im Bundesgebiet gewachsenen Bindungen beinhalte, da § 60 AufenthG nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse regele, nicht aber inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse".

Die Beschwerde legt nicht in einer den gesetzlichen Darlegungsanforderungen entsprechenden Weise dar, in welchem rechtlichen Zusammenhang sich diese Fragen stellen sollen und inwiefern sie die Zulassung einer Grundsatzrevision rechtfertigen. Das Berufungsgericht hat die vom Kläger geltend gemachten persönlichen und familiären Bindungen und umfassende Integration im Bundesgebiet u.a. deshalb nicht näher geprüft, weil im Verfahren gegenüber dem Bundesamt nur zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote zu berücksichtigen seien, es sich bei etwaigen im Bundesgebiet gewachsenen Bindungen aber um inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse handele, die von den Ausländerbehörden zu prüfen sind (BA S. 16 f.). Inwiefern diese mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts übereinstimmende selbständig tragende Begründung des Berufungsgerichts klärungsbedürftig sein soll, lässt sich der Beschwerde nicht entnehmen. Dass etwaige durch Art. 8 EMRK geschützte Bindungen im Bundesgebiet auch nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes allein von den Ausländerbehörden im aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu prüfen sind, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Übrigen hinreichend geklärt (vgl. etwa Urteil vom 27. Juni 2006 - BVerwG 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192 ). Die vom Berufungsgericht angeführte weitere Begründung, auf die sich die Beschwerde außerdem bezieht, ist daher nicht entscheidungserheblich und kann auch deshalb nicht zur Zulassung der Revision führen.

4. Die Beschwerde bleibt ferner erfolglos, soweit sie der Frage grundsätzliche Bedeutung beimisst (Beschwerdebegründung unter VI.),

"ob § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG alle Fallgruppen erfasst, bei denen sich der Flüchtling auf zwingende, kausal auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt,

oder nur die Fallgruppen von Personen, die ein besonders schweres nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst eine Zeit danach nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren".

Die Beschwerde macht die Klärungsbedürftigkeit auch dieser Frage nicht ersichtlich. Wie das Berufungsgericht (BA S. 17 f.) zutreffend ausgeführt hat, erfüllen die vom Kläger vorgetragenen - mit der Beschwerde im Übrigen nicht näher spezifizierten - Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr in den Irak (Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse) nicht die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG . Es handelt sich hierbei nämlich nicht - wie in dieser Vorschrift vorausgesetzt (vgl. das Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - aaO. [290], juris Rn. 37) - um Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen. Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage wäre mithin in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich.

5. Die von der Beschwerde zu § 73 Abs. 2a AsylVfG als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Fragen (Beschwerdebegründung unter VII.) sind, soweit sie entscheidungserheblich sind, durch das Urteil vom 20. März 2007 - BVerwG 1 C 21.06 - geklärt. An der diesem Urteil zugrunde liegenden gemeinsamen mündlichen Verhandlung mehrerer Verfahren war auch der Prozessbevollmächtigte des Klägers beteiligt. § 73 Abs. 2a AsylVfG findet danach auf den nach dem 1. Januar 2005 ausgesprochenen Widerruf einer vor diesem Zeitpunkt unanfechtbar gewordenen Anerkennung mit der Maßgabe Anwendung, dass die darin vorgesehene neue Drei-Jahres-Frist, nach deren Ablauf das Bundesamt spätestens erstmals die Widerrufsvoraussetzungen prüfen muss, erst vom 1. Januar 2005 an zu laufen beginnt. Eine Ermessensentscheidung über den Widerruf nach § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG kommt auch bei derartigen Alt-Anerkennungen in Fällen wie dem vorliegenden erst in Betracht, wenn das Bundesamt in einem vorangegangenen Verfahren die Widerrufsvoraussetzungen sachlich geprüft und verneint hat (Negativentscheidung).

6. Ohne Erfolg bleibt die Beschwerde auch, soweit sie die Fragen der Anwendbarkeit der Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG im Widerrufsverfahren und ggf. des Zeitpunkts des Fristbeginns für grundsätzlich bedeutsam hält (Beschwerdebegründung unter VIII.). Die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen bedarf keiner Entscheidung, da die dort vorgesehene Frist, die nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts frühestens nach einer Anhörung des Klägers mit angemessener Frist zur Stellungnahme zu laufen beginnt (vgl. Urteil vom 20. März 2007 - BVerwG 1 C 21.06 - m.w.N.), hier eingehalten wäre. Das Bundesamt hat mit Bescheid vom 14. Februar 2005 die Flüchtlingsanerkennung des Klägers widerrufen, nachdem es den Kläger mit Schreiben vom 10. Dezember 2004 angehört hat.

7. Im Rahmen des hilfsweisen Klagebegehrens auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG macht die Beschwerde schließlich ohne Erfolg geltend, die Feststellung des Berufungsgerichts, dass derzeit im Irak eine "extreme Gefährdungslage" nicht anzunehmen sei, beruhe auf einer unzureichenden Tatsachenbasis (Beschwerdebegründung unter IX.). Damit und mit ihrem weiteren diesbezüglichen Vorbringen zeigt sie einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ) nicht in einer den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Weise auf. Auch wenn man annimmt, dass eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO ) gerügt werden soll, legt die Beschwerde nicht - wie erforderlich - dar, hinsichtlich welcher konkreten tatsächlichen Umstände ein weiterer Aufklärungsbedarf bestanden haben soll, welche Beweismittel insoweit in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Wegen der weiteren unter IX. und X. der Beschwerdebegründung geltend gemachten Rügen wird auf den den Beteiligten bekannten Beschluss vom 30. Oktober 2006 - BVerwG 1 B 156.06 - Bezug genommen.

Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO ).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO . Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 RVG .

Vorinstanz: OVG Nordrhein-Westfalen, vom 02.10.2006 - Vorinstanzaktenzeichen 16 A 4011/05