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BVerfG - Entscheidung vom 20.09.2007

1 BvR 775/07

Normen:
GG Art. 19 Abs. 4 Art. 20 Abs. 3

BVerfG, Beschluss vom 20.09.2007 - Aktenzeichen 1 BvR 775/07

DRsp Nr. 2007/19725

Verfassungsrechtliche Anorderungen an die Dauer und Förderung eines umfangreichen Zivilverfahrens

Nach Abwägung der konkreten Umstände ist es auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 EMRK i.Vm. Art. 20 Abs. 3 GG und der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar, dass der Abschluss eines vor dem Landgericht geführten Verfahrens auf Leistungen aus einer privaten Unfallversicherung noch nicht absehbar ist, obwohl es seit weit mehr als sechs Jahren andauert.

Normenkette:

GG Art. 19 Abs. 4 Art. 20 Abs. 3 ;

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine seit dem Jahr 2001 in erster Instanz anhängige zivilrechtliche Klage auf Leistungen aus einer privaten Unfallversicherung wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls.

Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG sind erfüllt.

Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 88, 118 [124]; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001, S. 214; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Dezember 2004 - 1 BvR 1977/04 -, NJW 2005, S. 739 ). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG auf Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG ).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere steht ihr das Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ) und der darin zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität nicht entgegen.

Der Beschwerdeführer war nicht gehalten, gegen die Untätigkeit des Gerichts zuvor mit einer Untätigkeitsbeschwerde vorzugehen. Denn die gesetzlich bislang nicht geregelte Untätigkeitsbeschwerde genügt dem in der Plenarentscheidung vom 30. April 2003 (BVerfGE 107, 395 ) besonders hervorgehobenen Gebot der Rechtsmittelklarheit nicht (vgl. BVerfGE, 107, 395 [416 f.]; offengelassen in BVerfGK 5, 316 [322 f.]; vgl. auch EGMR Große Kammer, Urteil vom 8. Juni 2006 - 75529/01 -, NJW 2006, S. 2389 [2392] - Sürmeli/Deutschland). Der Beschwerdeführer konnte mangels gesetzlicher Regelung nicht klar ersehen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Beschwerdemöglichkeit gegen die Untätigkeit des Gerichts besteht (vgl. BVerfGE 107, 395 [416 f.]). Eine Verweisung auf die Untätigkeitsbeschwerde war ihm daher nicht zuzumuten. Die Verfassungsbeschwerde ist auch ohne vorherige Erhebung einer Untätigkeitsbeschwerde zulässig.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG .

a) Die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie gewährleistet in zivilrechtlichen Streitigkeiten - ebenso wie Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG für den Bereich des öffentlichen Rechts - nicht nur, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offensteht. Sie garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Das Rechtsstaatsprinzip fordert im Interesse der Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 88, 118 [124]). Der Verfassung lassen sich jedoch keine festen Grundsätze dafür entnehmen, ab wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verhindernden und deshalb nicht mehr hinnehmbaren Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung im Einzelfall (vgl. BVerfGE 55, 349 [369]; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. April 1999 - 1 BvR 467/99 -, JURIS; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001, S. 214 [215]).

b) Die bisherige Dauer des noch nicht abgeschlossenen Ausgangsverfahrens begründet in der Gesamtbetrachtung einen Verfassungsverstoß. Nach Abwägung der konkreten Umstände ist es auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR , NJW 2006, S. 2389 - Sürmeli/Deutschland; EGMR 5. Sektion, Urteil vom 5. Oktober 2006 - 66491/01 -, JURIS; EGMR 5. Sektion, Urteil vom 26. April 2007 - 14635/03 -, JURIS) verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar, dass der Abschluss des Verfahrens vor dem Landgericht noch nicht absehbar ist, obwohl es seit weit mehr als sechs Jahren andauert.

aa) Zwar ist zu bedenken, dass die bisherige Dauer des vorliegenden Verfahrens im Wesentlichen der Einholung von Sachverständigengutachten geschuldet ist. Eine dem Landgericht vorwerfbare, verfassungsrechtlich relevante Verzögerung des Verfahrens resultiert aber daraus, dass die Akten erst am 6. Dezember 2005 an einen Sachverständigen zur Erstattung eines neurologisch/psychiatrischen Zusatzgutachtens versandt wurden. Bereits durch Beweisbeschluss vom 29. August 2002 war die Einholung eines unfallchirurgischen Zusammenhangsgutachtens zum Ausmaß der Invalidität des Beschwerdeführers angeordnet worden. Seit dem 16. Oktober 2002 stand fest, dass dafür ein herzchirurgisches sowie ein neurologisch/psychiatrisches Zusatzgutachten erforderlich waren. Jedenfalls während der Zeit von Juni 2003 bis August 2004 wurden die Verfahrensakten jedoch lediglich als Beiakten eines Parallelverfahrens geführt. Der Beschwerdeführer war in diesem Zeitraum mehrfach an das Landgericht herangetreten, um die Gutachtenerstattung voranzutreiben beziehungsweise eine Rückforderung der Akten zu erreichen; auf diesbezügliche Schreiben des Beschwerdeführers hin hat das Landgericht nichts unternommen.

Soweit das Landgericht sich darum bemühte, das im Parallelverfahren von einem anderen Sachverständigen erstattete neurologische Gutachten für das anhängige Verfahren als Zusatzgutachten zu verwerten, erklärt dies nicht, weshalb es die Frage der Verwertung nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt geklärt hatte. Dadurch hätte das Verfahren erheblich beschleunigt werden können. Soweit die Verfahrensakte beziehungsweise Teile davon zur Erstellung des Gutachtens im Parallelverfahren weiter benötigt worden wären, hätten spätestens ab diesem Zeitpunkt Zweitakten angelegt und die Verfahrensakten bedeutend früher an den Sachverständigen versandt werden können. Die dadurch entstandene Verzögerung des Verfahrens, die zu einem faktischen Stillstand führte, ist verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar.

bb) Auch soweit die Verfahrensverzögerung durch die Sachverständigen selbst verursacht wurde, war eine Beschleunigung des Verfahrens nicht grundsätzlich ausgeschlossen. So kann bereits bei der Auswahl und der Beauftragung der jeweiligen Sachverständigen die besondere Eilbedürftigkeit der Angelegenheit berücksichtigt werden und bei mehreren gleichrangig qualifizierten Sachverständigen der voraussichtlichen Bearbeitungsdauer bei der Auswahl des Sachverständigen entscheidendes Gewicht beigemessen werden. Auch während der Bearbeitung des Gutachtens ist der Zeitfaktor durch zeitnahe Überwachung der gutachterlichen Tätigkeit und durch das Setzen von Bearbeitungsfristen im Blick zu behalten. Wenn es um Fragen geht, die durch verschiedene Sachverständige zu klären sind, ist - soweit rechtlich möglich - eine gleichzeitige Begutachtung zu erwägen, die durch entsprechende Vorkehrungen, wie die Anfertigung von Zweitakten, auch organisatorisch bewältigt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001, S. 214 [215]).

Da der Zusatzgutachter sein Gutachten für 10. September 2006 angekündigt, aber bislang noch nicht vorgelegt hat, hätten beschleunigende Maßnahmen - etwa der Bitte des Beschwerdeführers entsprechend eine Fristsetzung gemäß § 411 Abs. 1 ZPO - ergriffen werden müssen. Dies gilt umso mehr, als bereits in einem richterlichen Vermerk vom 16. Mai 2006 festgehalten ist, dass das Verfahren mehrfach verzögert worden sei. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens verdichtet sich aber die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Dezember 2004 - 1 BvR 1977/04 -, NJW 2005, S. 739 ; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001, S. 214 [215]).

cc) Das Landgericht hat darüber hinaus über einen Ablehnungsantrag vom 17. März 2006 wegen Befangenheit des mit der Erstellung des Zusammenhangsgutachtens beauftragten Sachverständigen noch nicht entschieden, obwohl der Beschwerdeführer bereits mit Schreiben vom 11. August 2006 auf eine Entscheidung hingewirkt hat. Es sind keine Gründe dafür ersichtlich, weshalb die Entscheidung über diesen Antrag noch aussteht. Dass der Sachverständige auch im Parallelverfahren wegen Befangenheit abgelehnt wurde, vermag die Untätigkeit des Gerichts nicht zu rechtfertigen, zumal die sofortige Beschwerde gegen die Zurückweisung des Ablehnungsantrags im Parallelverfahren am 5. Januar 2007 zurückgewiesen wurde.

3. Angesichts der außergewöhnlich langen bisherigen Dauer kann sich das Gericht im weiteren Fortgang des Verfahrens nicht darauf beschränken, dieses wie einen gewöhnlichen, wenn auch komplizierten Rechtsstreit zu behandeln. Es ist vielmehr verpflichtet, sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung zu nutzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Dezember 2004 - 1 BvR 1977/04 -, NJW 2005, S. 739 ; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001, S. 214 [215]). Das Landgericht ist daher nunmehr unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen gehalten, unverzüglich geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem möglichst raschen Abschluss des Verfahrens führen.