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BSG - Entscheidung vom 04.07.2007

B 11a AL 191/06 B

Normen:
AFG § 111
GG Art. 14 Abs. 1 Art. 3 Abs. 1 Art. 6 Abs. 1
SGB III § 133 § 136 § 137
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 § 160a

BSG, Beschluss vom 04.07.2007 - Aktenzeichen B 11a AL 191/06 B

DRsp Nr. 2007/16242

Nichtberücksichtigung von Kinderfreibeträgen bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes

Die Nichtberücksichtigung der Kinderfreibeträge des Steuerrechts bei der Bestimmung des für die Höhe des Arbeitslosengeldes maßgeblichen Nettoarbeitsentgelts ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Normenkette:

AFG § 111 ; GG Art. 14 Abs. 1 Art. 3 Abs. 1 Art. 6 Abs. 1 ; SGB III § 133 § 136 § 137 ; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 § 160a ;

Gründe:

I. Der Rechtsstreit betrifft die Höhe des dem Kläger ab 1. Januar 2005 zustehenden Arbeitslosengeldes (Alg).

Der 1954 geborene Kläger lebt mit seiner nicht erwerbstätigen Ehefrau zusammen und hat mit ihr vier gemeinsame Kinder. Seine Lohnsteuerkarte enthält die Eintragungen Steuerklasse III/3 Kinder. Er erzielte in einer bis zum 31. Januar 2004 ausgeübten Beschäftigung ein monatliches Bruttoentgelt von 4.261,11 EUR. Ab dem 3. Februar 2004 erhielt der Kläger - unterbrochen von einer Zwischenbeschäftigung vom 14. Juli bis 30. November 2004 - Alg.

Mit Änderungsbescheid vom 2. Januar 2005 bewilligte die Beklagte dem Kläger Alg in Höhe von täglich 59,82 EUR. Hiergegen legte der Kläger mit der Begründung Widerspruch ein, dass auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 3. April 2001 - 1 BvR 1629/94 - die Sozialversicherungspauschale seines Alg niedriger bemessen werden müsse. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 11. März 2005 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht ( SG ) hat die auf höheres Alg gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Juli 2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Beschluss vom 22. November 2006). Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die geringfügige Absenkung des Alg ab 1. Januar 2005 beruhe auf den Neuregelungen durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt und sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Aus dem Grundgesetz ( GG ) lasse sich auch kein grundsätzlich höherer Anspruch auf Alg ableiten. Soweit sich der Kläger auf die Entscheidung des BVerfG vom 3. April 2001 berufe, wonach die Bedeutung der Entscheidung auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen sei, enthalte diese Anmerkung lediglich einen Prüfauftrag für den Gesetzgeber. Sie umfasse noch nicht die Entscheidung, dass die Berücksichtigung von Erziehungsleistungen in bestimmten Sozialversicherungszweigen unzureichend sei und wie dem abzuhelfen sei. Das Alg sei eine Versicherungsleistung mit Lohnersatzfunktion und diene nicht der Gewährung eines Existenzminimums. Die Argumentation des Klägers treffe nicht das Wesen der Arbeitslosenversicherung. Unabhängig davon sei nicht erkennbar, dass das nach Art 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip garantierte soziokulturelle Existenzminimum im Fall des Klägers - bei einem Monatseinkommen von rund 2.460 EUR aus Alg und Kindergeld - nicht gewährleistet sein könnte. Ein Verstoß gegen die Eigentumsgarantie scheide aus, weil auch für hiervon geschützte Rechtspositionen gelte, dass sich die konkrete Reichweite der Eigentumsgarantie erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums ergebe, die nach Art 14 Abs 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers sei. Auch ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art 3 Abs 1 GG könne nicht erkannt werden. Die Vermutung, Doppelverdiener ohne Kinder könnten eine Absicherung von nahezu 100 % erhalten, werde durch die Regelung in § 129 Sozialgesetzbuch Drittes Buch ( SGB III ) widerlegt.

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Er macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und einen Verfahrensmangel geltend. Es gehe in diesem Verfahren um die Handlungsspielräume des Gesetzgebers im Bereich der Sozialversicherung. Er stütze sein Begehren sowohl auf Leistungs- als auch auf Beitragsrecht (Beitragserstattung). Ein entscheidender Teil seines Tatsachenvortrags beinhalte, dass er selbst nur einen Nettolohnersatz von 56 % erhalte, ein in kinderloser Doppelverdienerehe lebender Arbeitsloser dagegen im günstigsten Fall bereits Alg in Höhe von 80 % seines vorherigen Nettolohns. Darüber hinaus genieße Letzterer Steuervergünstigungen, welche ihn günstigstenfalls so stellten, als erhalte er einen Nettolohn von über 90 %. Soweit dies vom LSG als Vermutung abgetan worden sei, handele es sich um eine exakte Parallele zur Ablehnung eines Beweisantrages bei beweisbedürftigen Tatsachen. Er, der Kläger, habe ein paar längst entschiedene Dinge neu aufgerollt und mit neuen und entscheidenden Aspekten angereichert. Er habe umfassend vorgetragen, dass und warum das Nettolohnersatzprinzip auf Grund der Lohnsteuerklassenorientierung nicht nur, wie das Bundessozialgericht (BSG) annehme, unvollständig, weil typisierend verwirklicht worden sei, sondern überhaupt nicht. Die Arbeitslosenversicherung folge nicht der Logik des Einkommensteuerrechts, sondern Eintreibungsmaximen. Ein typisierter Nettolohn werde nur in bestimmten Konstellationen ersetzt, nicht jedoch bei Doppel- und Hinzuverdienern ohne Kinder mit nicht annähernd gleichem Verdienst, bei Doppel- oder Hinzuverdienern mit Kindern, bei Alleinerziehenden und bei Alleinverdienern mit Kindern. Für alle jene Konstellationen sei die Differenz zum echten Netto gewaltig. Es sei zudem fraglich, ob der heutige Nettolohn verfassungsgemäß sei, woran nicht nur das "Pflegeurteil" erhebliche Zweifel aufkommen lasse, wie auch die ausgebliebene Dynamisierung der Kinderfreibeträge, sondern auch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs.

II. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision ist zulässig, soweit die Beschwerdebegründung sinngemäß die Rechtsfrage aufwirft, ob die Bemessung des Alg gegen höherrangiges Recht verstoße. Insoweit genügt sie den Anforderungen, die an die Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zu stellen sind.

Die Beschwerde ist jedoch insoweit nicht begründet. Grundsätzliche Bedeutung kommt nach ständiger Rechtsprechung einer Rechtsfrage zu, die sich nach der Gesetzeslage und dem Stand der Rechtsprechung und ggf der Lehre nicht ohne weiteres beantworten, eine verallgemeinerungsfähige Antwort des Revisionsgericht erwarten lässt und nach den Gegebenheiten des Falles klärungsfähig ist (BSGE 40, 41 ff = SozR 1500 § 160a Nr 4; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 7). Die Beschwerde ist nicht begründet, weil die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage nicht mehr klärungsbedürftig ist.

Der Senat hat insbesondere in seinem Urteil vom 27. Juni 1996 - 11 RAr 77/95 (= SozR 3-4100 § 111 Nr 14 = SGb 1997, 694 mit Anmerkung Lehner) im Anschluss an frühere Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 63, 255 ff = SozR 4100 § 111 Nr 6; Beschluss des Dreier-Ausschusses SozR 4100 § 111 Nr 7; BVerfGE 90, 226 ff = SozR 3-4100 § 111 Nr 69) sowie des BSG (BSGE 51,10 = SozR 4100 § 111 Nr 4; BSGE 65, 214 = SozR 4100 § 111 Nr 10) entschieden, dass die Nichtberücksichtigung der Kinderfreibeträge des Steuerrechts bei der Bestimmung des für die Höhe des Alg maßgeblichen Nettoarbeitsentgelts verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Der Senat ist dabei - wie auch die Beschwerdebegründung einräumt - davon ausgegangen, dass die Höhe des Alg einem typisierenden Bemessungssystem folgt, wonach die Leistung nicht an die individuelle steuerliche Situation des Arbeitslosen anknüpft, und auch nicht an dessen individuellem Bedarf ausgerichtet ist. Ausgehend hiervon hat der erkennende Senat einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG , die aus Art 6 Abs 1 GG folgende Pflicht des Staates, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern und die Eigentumsgarantie des Art 14 Abs 1 Satz 1 GG verneint. Zwar wird durch die Berechnungsvorschriften die Anbindung an das Steuerrecht nur unvollkommen verwirklicht, weil auf Grund des Anknüpfungspunktes der "pauschalierten Abzüge" individuelle Freibeträge und sonstige Steuervergünstigungen unberücksichtigt bleiben müssen. Gleichwohl hat der Senat die Pauschalierung im Hinblick darauf für gerechtfertigt gehalten, dass eine noch stärker auf den Einzelfall abstellende Berechnung von Alg dem System einer insgesamt von dem individuellen Bedarf und der individuellen (steuerlichen) Situation des Arbeitslosen losgelösten Berechnung und damit der Eigenart des zu regelnden Sachbereichs widerspräche (BSG SozR 4100 § 111 Nr 14 S 57 mN aus der Rechtsprechung des BVerfG). Demgegenüber liefert die Beschwerdebegründung für die von ihr aufgestellte Behauptung, die Bemessung des Alg habe sich vollkommen von den steuerrechtlichen Vorgaben gelöst, keinen nachvollziehbaren Beleg.

Im Übrigen wird in der Beschwerdebegründung weder vorgetragen noch ist sonst ersichtlich, dass gegenüber der Entscheidung des Senats vom 27. Juni 1996 zwischenzeitlich wesentlich neue Aspekte hinzugetreten wären, die eine erneute Befassung mit der vorliegenden Fragestellung in einem Revisionsverfahren rechtfertigen könnten. Dies gilt auch für die seither ergangene Rspr des BVerfG, die das Beitragsrecht und nicht das Leistungsrecht betrifft (vgl den Überblick über die Rspr in BSG SozR 4-2600 § 157 Nr 1). Nichts anderes folgt aus den von dem Kläger vorgelegten Berechnungsbeispielen. Insoweit verkennt die Beschwerdebegründung, die sich ohnehin einer streng juristischen Subsumtion enthält, schon, dass im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens nicht ein "System" als Ganzes zur Überprüfung gestellt werden kann, sondern lediglich der individuelle Anspruch des Klägers. Unabhängig davon ist darauf hinzuweisen, dass der Senat bei seiner verfassungsrechtlichen Prüfung ausdrücklich in Rechnung gestellt hatte, dass zB bei dem Kläger des damaligen Verfahrens "eine weit größere Differenz zwischen Nettoarbeitsentgelt und Alg bestehe als bei einem Arbeitslosen mit nur einem Kind und einem (bis zur Arbeitslosigkeit bezogenen) Bruttoarbeitsentgelt in gleicher Höhe". Ferner ist zu den Berechnungsbeispielen anzumerken, dass eine konkrete Betrachtungsweise die Einbeziehung des jeweils zu beanspruchenden Kindergeldes erfordert.

Schließlich ergibt sich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache auch nicht daraus, dass der Auffassung des Senats mit substantieller verfassungsrechtlicher Argumentation in der Rechtsprechung oder der Literatur widersprochen worden wäre. Von einer weiteren Begründung wird insoweit nach § 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 Sozialgerichtsgesetz ( SGG ) abgesehen.

2.1. Unzulässig ist die Beschwerde, soweit Verfassungsfragen zur Beitragsentrichtung in der Arbeitslosenversicherung aufgeworfen werden. Hinsichtlich derartiger Fragen fehlt es in der Beschwerdebegründung an Ausführungen zur Klärungsfähigkeit etwaiger Rechtsfragen im anhängigen Verfahren. Entsprechende Darlegungen wären auch nicht möglich gewesen, da Fragen der Beitragsentrichtung bzw Beitragserstattung weder Gegenstand einer Verwaltungsentscheidung (der Beklagten) waren, noch durch die Anträge im gerichtlichen Verfahren, die den Streitgegenstand bestimmen, Klagegegenstand geworden wären. Vielmehr ist ausweislich des Urteils des SG vom 25. Juni 2006 vom rechtskundig vertretenen Kläger beantragt worden, über seinen Anspruch auf Alg unter Abänderung der angefochtenen Bescheide unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Diesen Antrag hat der Kläger in der zweiten Instanz wiederholt.

2.2. Unzulässig ist die Beschwerde auch, soweit eine Verletzung des § 103 SGG als Verfahrensmangel geltend gemacht wird. Wird mit der Nichtzulassungsbeschwerde ein Verfahrensmangel gerügt, so muss der Beschwerdeführer die ihn begründenden Tatsachen im Einzelnen genau angeben, und diese müssen in sich verständlich den behaupteten Verfahrensfehler ergeben (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Macht der Beschwerdeführer einen Sachverhalt geltend, der unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Verfahrensmangel bilden kann, so ist die Beschwerde unzulässig (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 29).

Die Beschwerdebegründung führt hierzu aus, bei den vom Kläger vorgelegten Berechnungsbeispielen handele es sich um Tatsachenbehauptungen, die vom LSG ohne hinreichende Begründung als unglaubhaft beiseite gewischt worden seien. Dadurch ergebe sich eine exakte Parallele zur Ablehnung eines Beweisantrages bei beweisbedürftigen Tatsachen. Die behauptete Parallele wird indes nicht schlüssig dargelegt, denn die Beschwerdebegründung führt selbst aus, dass die Beispielsberechnungen mit hinreichender Rechtskenntnis nachprüfbar gewesen wären. Wenn dem LSG gleichwohl vorgeworfen wird, den Vortrag und den Hinweis auf § 129 SGB III ohne hinreichende Begründung "beiseite gewischt" zu haben, wird tatsächlich nicht das verfahrensrechtliche Vorgehen des LSG, sondern dessen Rechtsanwendung gerügt. Diese ist jedoch nicht Gegenstand des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, das lediglich die Nebenentscheidung über die Zulassung der Revision betrifft.

Selbst wenn in dem Vorbringen die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG ) zu sehen sein sollte, ist darauf hinzuweisen, dass die Instanzgerichte zwar die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen müssen. Sie sind jedoch nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (BVerfG SozR 1500 § 62 Nr 16).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, vom 22.11.2006 - Vorinstanzaktenzeichen L 12 AL 4365/06
Vorinstanz: SG Mannheim, vom 25.07.2006 - Vorinstanzaktenzeichen S 10 AL 1071/05