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BVerwG - Entscheidung vom 29.03.2006

4 B 1.06

Normen:
BauGB § 110 Abs. 2
BauGB § 110 Abs. 3
BauGB § 115 Abs. 5 S. 1
BGB § 121
VwVfG § 62 S. 2

BVerwG, Beschluss vom 29.03.2006 - Aktenzeichen 4 B 1.06

DRsp Nr. 2006/9364

Zeitliche Begrenzung des Anfechtungsrechts nach § 62 S. 2 VwVfG

1. Die Ausübung des Anfechtungsrechts nach § 62 Satz 2 VwVfG i.V.m. §§ 119 ff. BGB ist in zeitlicher Hinsicht durch den Eintritt der Unanfechtbarkeit der Ausführungsanordnung begrenzt. Eine Einigung, die den Formvorschriften des § 110 Abs. 2 BauGB genügt, steht dabei nach § 110 Abs. 3 Satz 1 BauGB einem unanfechtbaren Enteignungsbeschluss gleich. 2. Die Einigung bzw. der Enteignungsbeschluss führt freilich nicht unmittelbar zu einer Rechtsänderung. Diese wird durch die Ausführungsanordnung bewirkt. § 117 Abs. 5 Satz 1 BauGB ordnet an, dass mit dem in der Ausführungsanordnung festzusetzenden Tag der bisherige Rechtszustand durch den im Enteignungsbeschluss geregelten neuen Rechtszustand ersetzt wird. Ist die Ausführungsanordnung unanfechtbar geworden, so steht damit die neue Rechtslage fest.

Normenkette:

BauGB § 110 Abs. 2 ; BauGB § 110 Abs. 3 ; BauGB § 115 Abs. 5 S. 1; BGB § 121 ; VwVfG § 62 S. 2;

Gründe:

1. Die Beschwerde der Kläger hat keinen Erfolg.

a) Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Kläger beimessen.

aa) Die Frage, ob eine beurkundete Einigung nach § 110 BauGB der Anfechtung ganz oder nur in Bezug auf nicht durch eine Ausführungsanordnung umgesetzte Teile zugänglich ist, rechtfertigt nicht die Zulassung der Grundsatzrevision. Es ist einhellige Meinung im Schrifttum, dass die Ausübung des Anfechtungsrechts nach § 62 Satz 2 VwVfG i.V.m. §§ 119 ff. BGB in zeitlicher Hinsicht durch den Eintritt der Unanfechtbarkeit der Ausführungsanordnung begrenzt ist (Dyong in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB , §§ 110 , 111 , Rn. 10; Battis in: Krautzberger/Battis/Löhr, BauGB , 9. Aufl., § 110 , Rn. 2, 5; Reisnecker in: Brügelmann, BauGB , § 110 , Rn. 66; Holtbrügge in: Berliner Kommentar zum BauGB , 3. Aufl., § 110 , Rn. 7). Dem ist beizupflichten. Eine Einigung, die den Formvorschriften des § 110 Abs. 2 BauGB genügt, steht nach § 110 Abs. 3 Satz 1 BauGB einem unanfechtbaren Enteignungsbeschluss gleich. Die Einigung bzw. der Enteignungsbeschluss führt freilich nicht unmittelbar zu einer Rechtsänderung. Diese wird durch die Ausführungsanordnung bewirkt. § 117 Abs. 5 Satz 1 BauGB ordnet an, dass mit dem in der Ausführungsanordnung festzusetzenden Tag der bisherige Rechtszustand durch den im Enteignungsbeschluss geregelten neuen Rechtszustand ersetzt wird. Ist die Ausführungsanordnung unanfechtbar geworden, so steht damit die neue Rechtslage fest. Aus Gründen der Rechtssicherheit muss es hiermit, vorbehaltlich der Möglichkeit der Rücknahme der Ausführungsanordnung nach Maßgabe der §§ 48 ff. VwVfG , sein Bewenden haben.

bb) Auf die Fragen zur Teilbarkeit von Verträgen lässt sich verallgemeinernd nicht mehr sagen, als dass Teilbarkeit voraussetzt, dass die von den Parteien vereinbarte Regelung so zerlegt werden können muss, dass ein Teil verbleibt, der einer selbständigen Geltung fähig ist (Roth in: Staudinger, BGB , § 139 , Rn. 60). Ist Teilbarkeit gegeben, beantwortet sich die Frage, ob die Nichtigkeit eines Teils der Vereinbarung auch die übrigen Teile erfasst und damit die gesamte Vereinbarung nichtig ist, nach § 59 Satz 3 VwVfG . Danach ist, wenn die Nichtigkeit nur einen Teil des Vertrages betrifft, dieser im Ganzen nichtig, wenn nicht anzunehmen wäre, dass er auch ohne den nichtigen Teil geschlossen worden wäre. Ob ein Vertrag, der an diesen Grundsätzen gemessen wird, teilbar ist und, wenn ja, ob eine Teilnichtigkeit zur Nichtigkeit des gesamten Vertrages führt, beurteilt sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles.

cc) Die übrigen als grundsätzlich bedeutsam bezeichneten Fragen wie z.B. die Fragen nach der Rückabwicklung teilnichtiger öffentlich-rechtlicher Verträge oder nach Rechtsqualität, Bestimmtheit und Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von Ausführungsanordnungen sind so abstrakt-offen formuliert, dass sie nur für eine Vielzahl gedachter Fälle nach Art eines Lehrbuchs beantwortet werden könnten. Das nicht Aufgabe eines Revisionsverfahrens.

b) Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen. Die Aufklärungsrügen greifen nicht durch. Die detailliert begründete Behauptung, das Berufungsgericht habe den Sachverhalt nicht ausreichend erforscht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kläger in Wahrheit die materiellrechtliche Rechtsauffassung des Berufungsgerichts beanstanden, die Zahlung des Kaufpreises für das Flurstück 456/10 werde von der Ausführungsanordnung erfasst und deshalb seien die mit dem Kaufpreis verrechneten Ausgleichsbeträge für dieses Flurstück sowie für die Flurstücke 456/6 westlicher Teil und für Teile der Flurstücke 471/19 und 471/26 nicht zu erstatten. Die Rüge, das Berufungsgericht habe bei der prozentualen Verteilung der Beiträge, die nicht mehr zurückzuzahlen seien, nicht die konkreten Eigentumsverhältnisse an dem durch die Ausführungsanordnung gewechselten Grundstück - gemeint ist wohl das Flurstück 456/10 - berücksichtigt, scheitert u.a. daran, dass die Kläger nicht darlegen, inwiefern die Beachtung ihrer jeweiligen Eigentumsanteile unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu einer ihnen günstigeren Entscheidung geführt hätte.

2. Die Beschwerde der Beklagten ist begründet, weil der Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gegeben ist. Soweit das Berufungsgericht der Berufung der Kläger stattgegeben hat, ist sein Urteil mit einem Verfahrensmangel behaftet.

Der Senat folgt der Beklagten darin, dass ihr durch eine unzulässige "Überraschungsentscheidung" das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG , § 108 Abs. 2 VwGO ) abgeschnitten worden ist. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit - unter Verletzung seiner ihm obliegenden Hinweis- und Erörterungspflicht - dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchen. Davon ist hier auszugehen. Das Berufungsgericht hat die Einigungsbeurkundung vom 2. Oktober 1997 gemäß § 779 Abs. 1 BGB für teilweise nicht wirksam erachtet, weil die Beteiligten die Gültigkeit der Satzung über das Entwicklungsgebiet "Kleine und obere Schleife" der Beklagten als feststehend zugrunde gelegt hätten und seit der Verwerfung der Satzung als unwirksam durch gerichtliche Normenkontrollentscheidung vom 7. November 2000 feststehe, dass dieser Sachverhalt der Wirklichkeit nicht entspreche. Begründet wird die Einigkeit der Beteiligten über die Wirksamkeit der Entwicklungssatzung hauptsächlich mit der Niederschrift über den Termin zur Einigungsbeurkundung, in der ausdrücklich ausgeführt sei, die vom Bevollmächtigten der Kläger "wiederholten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entwicklungssatzung habe die Vorsitzende unter Hinweis auf die ausführliche gerichtliche Prüfung durch das VG Freiburg, welches die Rechtmäßigkeit der Satzung bejaht habe, ausräumen können". Den Rückgriff auf das Protokoll und die Absicht, aus dessen Inhalt Rückschlüsse zu Lasten der Beklagten zu ziehen, hätte das Berufungsgericht im Berufungsrechtszug von sich aus ansprechen müssen; denn für die Kläger stritt das Urteil des Verwaltungsgerichts, das § 779 BGB mit der Begründung als nicht einschlägig erachtet hatte, nach dem eigenen Vortrag der Kläger sei die Gültigkeit der Entwicklungssatzung gerade nicht übereinstimmend als feststehend angesehen worden. Ohne Hinweis des Berufungsgerichts, dem Verwaltungsgericht in diesem Punkt nicht folgen zu wollen, hatte die Beklagte keine Veranlassung, vorzutragen und durch ihren Bürgermeister unter Beweis zu stellen, dass die Einigungsbeurkundung die von den Klägern nochmals erwähnten (und nicht ausgeräumten) Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entwicklungssatzung habe beenden sollen. Darauf kommt es aber entscheidend an. Wäre die Gültigkeit der Satzung Gegenstand und nicht Grundlage des Vergleichs, hätte das Berufungsgericht die Einigungsbeurkundung insgesamt als wirksam werten und die Berufung der Kläger in vollem Umfang zurückweisen müssen.

Das Berufungsurteil kann auf dem Gehörsverstoß beruhen. Zwar hat das Berufungsgericht auch und von der Beklagten unbeanstandet die Einigungsbeurkundung selbst als Beleg dafür herangezogen, dass die Beteiligten übereinstimmend von der Gültigkeit der Satzung ausgegangen sind (UA S. 16). Diese Erwägung trägt das Berufungsurteil aber nicht selbständig, sondern ergänzt lediglich den aus der Niederschrift über die Einigungsbeurkundung gezogenen Schluss auf die Einigkeit der Beteiligten über die Gültigkeit der Entwicklungssatzung und rundet die tatrichterliche Würdigung des gesamten Vorgangs um das Zustandekommen der Einigungsbeurkundung ab.

Zur Beschleunigung des Verfahrens macht der Senat von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das Berufungsurteil im Umfang der Beschwer der Beklagten aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 VwGO kommt zum jetzigen Zeitpunkt nicht in Betracht; denn solange der Sachverhalt nicht geklärt ist, ist offen, ob sich die Fragen, die die Beklagte mit ihren Grundsatzrügen aufwirft und mit ihrer Divergenzrüge anspricht, in dem angestrebten Revisionsverfahren überhaupt stellen würden.

3. Mit der Zurückweisung der Beschwerde der Kläger wird das Berufungsurteil nach § 133 Abs. 5 Satz 3 VwGO insoweit rechtskräftig, als die Kläger mit ihrer Zahlungsklage gescheitert sind. Im Umfang ihres Misserfolgs haben sie nach § 154 Abs. 2 VwGO , § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Die Klägerin zu 1 fordert von der Beklagten 1 121 787,44 EUR zurück. Zugesprochen hat ihr das Berufungsgericht einen Betrag in Höhe von 272 625,33 EUR. Beim Kläger zu 2 lauten die Summen 940 614,93 EUR zu 326 356,84 EUR und beim Kläger zu 3 871 485,96 EUR zu 341 485,76 EUR. Daraus errechnen sich Kostenquoten im Verhältnis der Klägerin zu 1 zur Beklagten von 75 v.H. zu 25 v.H., im Verhältnis des Klägers zu 2 zur Beklagten von 65 v.H. zu 35 v.H. und im Verhältnis des Klägers zu 3 zur Beklagten von 60 v.H. zu 40 v.H. Im Verhältnis der Kläger untereinander muss die Klägerin zu 1 37,5 v.H., der Kläger zu 2 32,5 v.H. und der Kläger zu 3 30 v.H. der Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen. Da der Kostenblock der Kläger, wie das Berufungsgericht zutreffend ermittelt hat, zwei Drittel der Gesamtkosten des Verfahrens ausmacht, beträgt der Anteil der Klägerin zu 1 an den gesamten Verfahrenskosten 37,5 v.H. x 2/3 = 25 v.H., der Anteil des Klägers zu 2 32,5 v.H. x 2/3 = 21,66 v.H. und der Anteil des Klägers zu 3 30 v.H. x 2/3 = 20 v.H. Soweit die Kläger vorinstanzlich obsiegt haben, ist das Berufungsurteil wegen der Stattgabe der Beschwerde der Beklagten noch nicht rechtskräftig. Das nötigt dazu, insoweit die Entscheidung über die Kosten der Schlussentscheidung vorzubehalten.

Die Streitwertentscheidung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3 , § 52 Abs. 3 GKG .

Vorinstanz: VGH Baden-Württemberg, vom 18.10.2005 - Vorinstanzaktenzeichen 3 S 848/04