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BVerwG - Entscheidung vom 19.10.2006

5 C 26.06

Normen:
BSHG § 97 Abs. 2, 4, 5 § 103 Abs. 3 § 104
SGB I § 43 Abs. 1
SGB X § 102

Fundstellen:
BVerwGE 127, 74
DVBl 2007, 452
DÖV 2007, 525
FamRZ 2007, 637
NVwZ-RR 2007, 180

BVerwG, Urteil vom 19.10.2006 - Aktenzeichen 5 C 26.06

DRsp Nr. 2007/464

Örtliche Zuständigkeit für Eingliederungshilfe bei Bedarf in Wohn- und Arbeitseinrichtung

»Die örtliche Zuständigkeit für Eingliederungshilfe, der der Hilfeempfänger sowohl in der Einrichtung, in der er wohnt, als auch in einer anderen Einrichtung (hier: einer Werkstatt für seelisch behinderte Menschen) bedarf, richtet sich nach § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG

Normenkette:

BSHG § 97 Abs. 2 , 4 , 5 § 103 Abs. 3 § 104 ; SGB I § 43 Abs. 1 ; SGB X § 102 ;

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Sozialhilfekosten für die Werkstattbetreuung in einer Einrichtung außerhalb der Wohneinrichtung und damit um die örtliche Zuständigkeit für solche Kosten nach § 97 Abs. 1 oder 2 BSHG (Unterfall so genannter Zusammenhangskosten).

Die 1971 geborene Hilfeempfängerin A., die zuvor im Bereich der Beklagten gewohnt hatte, wohnt seit 1995 in einer Einrichtung für seelisch behinderte Menschen in P. im Bereich des Klägers. Hierfür trägt die Beklagte die Kosten. Vom 15. Juni 1999 bis zum 10. März 2002 besuchte sie eine Werkstatt für geistig und körperlich behinderte Menschen in D. im Bereich des Klägers. Hierfür übernahm die Beklagte die Kosten. Am 11. März 2002 wechselte die Hilfeempfängerin in die Werkstatt für seelisch behinderte Menschen in L. im Bereich des Klägers. Die Beklagte lehnte den Antrag der Hilfeempfängerin auf Übernahme dieser Werkstattkosten und nach der vorläufigen Kostentragung durch den Kläger dessen Erstattungsbegehren mit der Begründung ab, sie sei nach § 97 Abs. 2 BSHG nur Kostenträgerin für die Hilfe in der vollstationären Wohneinrichtung, nicht aber für die teilstationäre Betreuung in der Werkstatt.

Die am 13. September 2002 erhobene Klage des Klägers mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, ihre Zuständigkeit für die Übernahme der streitigen Werkstattkosten anzuerkennen und dem Kläger einen Betrag von 6 545,25 EUR für die Zeit vom 11. März 2002 bis zum 31. August 2002 zu erstatten zuzüglich Zinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von 5 % über dem Basis-Zinssatz nach dem Diskontsatzüberleitungsgesetz, hat das Verwaltungsgericht Hamburg mit Urteil vom 29. Juni 2006 abgewiesen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit erweitertem Erstattungsbegehren Sprungrevision eingelegt. Nachdem die Beklagte erklärt hatte, dass sie für den Fall, dass der Senat einen Erstattungsanspruch des Klägers dem Grunde nach für die Zeit bis zum 31. Dezember 2004 bejahe, sich auch für den Folgezeitraum für die Eingliederungskosten im Hilfefall A. an diese Grundentscheidung halten wolle, solange Frau A. ununterbrochen in der Wohneinrichtung in P. gelebt habe, hat der Kläger beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Kosten für die Betreuung von Frau A. in der Behindertenwerkstatt in L. in der Zeit vom 11. März 2002 bis zum 31. Dezember 2004 in Höhe von 35 252,93 EUR zuzüglich Zinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz an den Kläger zu zahlen. Der Erstattungsantrag sei nach § 102 SGB X , § 43 SGB I begründet, weil nach § 97 Abs. 2 BSHG die Beklagte zuständig sei, die Kosten für die Betreuung der Hilfeempfängerin in der Werksatt in L. zu tragen.

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

II

Die Sprungrevision des Klägers ist zulässig. Das Verwaltungsgericht hat sie zugelassen; die Beklagte hat ihr schriftlich zugestimmt. Die Erweiterung des Erstattungsbegehrens im Revisionsantrag ist keine im Revisionsverfahren nach § 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO unzulässige Klageänderungen, sondern nur eine Erweiterung des Klageantrags, die nach § 173 Satz 1 VwGO , § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen ist.

Die Revision ist auch begründet. Der Kläger, der nach § 43 Abs. 1 SGB I vorläufig Leistungen erbracht hat, hat nach § 102 SGB X einen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte. Denn die Beklagte ist nach § 97 Abs. 2 BSHG der örtlich zuständige Träger für die der Hilfeempfängerin in der Werkstatt für seelisch behinderte Menschen in L. erbrachte Eingliederungshilfe.

Die in der Rechtsprechung des Senats (s. Urteil vom 21. Dezember 2005 - BVerwG 5 C 26.04 - Buchholz 436.0 § 41 BSHG Nr. 1 = NDV-RD 2006, 80 = NVwZ-RR 2006, 406) bislang offengelassene Frage einer Zuständigkeit nach § 97 Abs. 2 BSHG auch in Bezug auf so genannte Zusammenhangsleistungen ist jedenfalls für den hier zu entscheidenden Fall der Hilfegewährung durch Beschäftigung in einer einem rechtlich selbstständigen Einrichtungsträger zuzuordnenden Behindertenwerkstatt bzw. Arbeitseinrichtung dahin zu beantworten, dass sich die örtliche Zuständigkeit insgesamt nach § 97 Abs. 2 BSHG richtet.

Nach § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG ist für die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der Hilfeempfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme hat oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hat. Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht im Streit, dass die Einrichtung, in der Hilfeempfänger, hier Frau A. seit 1995, wohnen (im Folgenden: Wohneinrichtung), eine Einrichtung im Sinne des § 97 Abs. 2 BSHG ist. Denn zum einen legt § 97 Abs. 4 BSHG fest, dass Anstalten, Heime oder gleichartige Einrichtungen im Sinne des Absatzes 2 alle Einrichtungen sind, die der Pflege, der Behandlung oder sonstigen in diesem Gesetz vorgesehenen Maßnahmen oder der Erziehung dienen, und zum anderen erhält die Hilfeempfängerin in der Wohneinrichtung unstreitig Eingliederungshilfe. Zunächst an die Wohneinrichtung anzuknüpfen, ist zudem deshalb angezeigt, weil nach § 109 BSHG der Aufenthalt in dieser Einrichtung zwar nicht als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne der Abschnitte 8 und 9 gilt, aber mit einem auf Dauer angelegten Aufenthalt in einer Wohneinrichtung der gewöhnliche Aufenthalt an jenem Ort endet, an dem sich der Hilfeempfänger vor seiner Heimaufnahme aufgehalten hat und den das Gesetz als für die Zuständigkeit nach § 97 Abs. 2 BSHG maßgeblich bestimmt hat. Dem entspricht es, dass § 103 Abs. 3 BSHG am Verlassen der Einrichtung ansetzt, was voraussetzt, dass der Hilfeempfänger nicht mehr in einer Einrichtung wohnt.

Die anknüpfend an die Wohneinrichtung als Einrichtung im Sinne von § 97 Abs. 2 BSHG begründete örtliche Zuständigkeit erfasst jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art nicht nur die Hilfe in dieser Einrichtung, sondern auch so genannte Zusammenhangskosten, also Sozialhilfekosten, die mit der Hilfe in der Wohneinrichtung zwar im zumindest zeitlichen Zusammenhang stehen, aber in einer anderen Einrichtung als der Wohneinrichtung selbst anfallen (zum Streitstand s. Nachweise in BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2004 - BVerwG 5 C 25.04 - Buchholz 436.0 § 97 BSHG Nr. 18 = DVBl 2005, 783 = NVwZ-RR 2005, 417 ). Eine Auslegung allein nach dem Wortlaut weist zwar für den Fall, dass man nur die Wohneinrichtung als Einrichtung im Sinne des § 97 Abs. 2 BSHG versteht, zunächst darauf, mit Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung sei die Hilfe gemeint, die in der einen konkreten Einrichtung, in welcher auch die Wohnunterbringung erfolgt, erbracht werde. Da § 97 Abs. 2 BSHG eine Zuständigkeitsvorschrift ist, gebietet dies eine Auslegung nicht danach, welche Hilfe und wie sie tatsächlich erbracht wird, sondern danach, welcher einrichtungsbezogenen Hilfen der in einer Einrichtung lebende Hilfeempfänger bedarf. Dem Wortlaut des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG entspricht eine Auslegung, die auf den gesamten Hilfebedarf des Hilfeempfängers in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung bezogen ist, mag dieser nun vollständig in einer einzigen Einrichtung oder neben der Wohneinrichtung auch noch in anderen Einrichtungen gedeckt werden. Die Definition der "Einrichtung" in § 97 Abs. 4 BSHG erfasst nicht nur Wohneinrichtungen. Zwar setzt § 97 Abs. 2 BSHG für die Zuständigkeitsbegründung voraus, dass der Hilfeempfänger in e i n e r Einrichtung im Sinne des § 97 Abs. 4 BSHG auch wohnt, weil es nur dann sinnvoll ist, für die Zuständigkeit nach § 97 Abs. 2 BSHG maßgeblich nicht auf einen je aktuellen gewöhnlichen Aufenthalt, sondern auf den gewöhnlichen Aufenthalt bei oder vor der Aufnahme abzustellen. Die so begründete Zuständigkeit nach § 97 Abs. 2 BSHG ist aber dann nicht auf die Hilfe in dieser "zuständigkeitsbegründenden" Einrichtung beschränkt, sondern erfasst dann auch Hilfe in weiteren Einrichtungen, in der der Hilfeempfänger zwar nicht (auch) wohnt, die aber ebenfalls einer der in § 97 Abs. 4 BSHG genannten Aufgaben, nämlich der Pflege, der Behandlung oder sonstigen im Bundessozialhilfegesetz vorgesehenen Maßnahmen oder der Erziehung, dienen. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 16. Dezember 2004 (a.a.O.) in Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte des § 97 Abs. 2 BSHG 1993 ausgeführt, dass diese Vorschrift auch dahin verstanden werden kann, dass sie eine umfassende Zuständigkeitsregelung für alle Hilfearten nach dem Bundessozialhilfegesetz für den Fall darstellt, dass diese während der Unterbringung in einer der dort genannten Einrichtungen anfallen.

Systematisch sprechen § 97 Abs. 5 und § 104 BSHG dafür, dass die Zuständigkeit nach § 97 Abs. 2 BSHG auch die so genannten Zusammenhangskosten erfasst. Denn in den dort geregelten Fällen werden bei im Fall des § 97 Abs. 2 BSHG gleicher Interessenlage auf den Aufenthalt (nach § 97 Abs. 5 BSHG in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung) beziehungsweise auf die Unterbringung (nach § 104 BSHG in einer anderen Familie oder bei anderen Pflegepersonen) abgestellt und damit alle Hilfen erfasst, die während des Aufenthalts oder der Unterbringung dort anfallen. Es fehlen durchgreifende Anhaltspunkte für die Annahme, der Gesetzgeber sei für § 97 Abs. 2 BSHG von einer anderen Interessen- oder Regelungslage ausgegangen. Systematisch wird diese Auslegung auch durch § 103 Abs. 3 BSHG bestätigt, der bei Verlassen einer Einrichtung in den Fällen des § 97 Abs. 2 BSHG bestimmt, dass der nach § 97 Abs. 2 BSHG zuständig gewesene Sozialhilfeträger für längstens zwei Jahre alle, also gerade auch die nicht in Einrichtungen anfallenden Sozialhilfekosten zu erstatten habe, die der örtliche Träger, in dem die Einrichtung liegt, für den Hilfeempfänger bei anschließender Hilfebedürftigkeit aufwenden musste. Das wäre nicht stimmig, wenn dieser Träger nicht bereits für die Dauer der Unterbringung in der Einrichtung für diese Hilfen zuständig gewesen wäre (Urteil vom 16. Dezember 2004 a.a.O.).

Zudem sprechen insbesondere Sinn und Zweck des § 97 Abs. 2 BSHG dafür, dass die Zuständigkeit nach § 97 Abs. 2 BSHG auch die so genannten Zusammenhangskosten erfasst. Denn gesetzgeberisches Motiv für § 97 Abs. 2 BSHG ist der Schutz der Einrichtungsorte. Zwar kann eine einheitliche Zuständigkeit, sei es sachlich oder örtlich, nur erreicht werden, wenn das Gesetz es zulässt. Aber es verdienen die Auslegungen den Vorzug, die ein unnötiges Auseinanderfallen von Zuständigkeiten vermeiden.

Im Streitfall ist zu beachten, dass die Hilfeempfängerin die hier im Streit stehende Hilfe zwar nicht in ihrer Wohneinrichtung, aber ebenfalls in einer Einrichtung - die Betreuung in der Werkstatt für seelisch behinderte Menschen in L. bezog sich nicht nur auf einen unbedeutenden Teil des Tages (BVerwG, Urteile vom 24. Februar 1994 - BVerwG 5 C 17.91 - ZfSH/SGB 1995, 535 = juris Rn. 18 und - BVerwG 5 C 42.91 - DVBl 1994, 1298 = juris Rn. 16) - und zudem ebenfalls als Eingliederungshilfe erhalten hat. Jedenfalls in den Fällen, in denen der Hilfeempfänger solcher Hilfen bedarf, die, wie die Eingliederungshilfe für Frau A., nur in Einrichtungen erbracht werden können, erfasst die Zuständigkeit für Hilfen in einer Anstalt, einem Heim oder gleichartigen Einrichtung nach § 97 Abs. 2 BSHG alle Hilfen, die in Einrichtungen zu erbringen sind. Denn durch § 97 Abs. 2 BSHG sollen die Orte geschützt werden, in denen sich Einrichtungen im Sinne von § 97 Abs. 4 BSHG befinden. Dieser Schutz wäre ungerechtfertigt eingeschränkt, wenn beim Splitten der Eingliederungshilfe auf die Wohneinrichtung einerseits und eine Betreuungseinrichtung tagsüber andererseits nur die Orte mit Wohneinrichtungen geschützt würden. Für die Zuständigkeitsbestimmung nach § 97 Abs. 2 BSHG ist folglich unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Einrichtungsorte nicht darauf abzustellen, ob eine erforderliche Einrichtungshilfe in der Wohneinrichtung selbst oder - bei fehlender Kapazität dort oder aus Gründen einer arbeitsteiligen Hilfeorganisation - in einer anderen Einrichtung erbracht wird. Vielmehr hat die Zuständigkeit nach § 97 Abs. 2 BSHG am Einrichtungshilfebedarf des Hilfeempfängers insgesamt anzusetzen. Die Frage, ob der für den Hilfeempfänger erforderliche einrichtungsgebundene Eingliederungshilfebedarf in der Wohneinrichtung selbst gedeckt werden kann oder, wenn das nicht möglich ist, in einer anderen Einrichtung gedeckt werden muss, betrifft nur den Hilfevollzug, vermag aber die Zuständigkeit für diese Hilfe insgesamt nicht zu beeinflussen.

Der Kläger hat demnach einen Erstattungsanspruch dem Grund nach.

Da die in der Zeit vom 11. März 2002 bis zum 31. August 2002 zur Erstattung geltend gemachten Kosten in ihrer Höhe unstreitig sind, war die Beklagte insoweit zur Zahlung zu verpflichten. Da die in der weiteren Zeit bis zum 31. Dezember 2004 zur Erstattung geltend gemachten Kosten in ihrer Höhe weder unstreitig noch vom Verwaltungsgericht festgestellt sind, ist der Rechtsstreit insoweit an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

B e s c h l u s s

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 35 252,93 EUR festgesetzt.

Vorinstanz: VG Hamburg, vom 29.06.2006 - Vorinstanzaktenzeichen 13 K 3905/02
Fundstellen
BVerwGE 127, 74
DVBl 2007, 452
DÖV 2007, 525
FamRZ 2007, 637
NVwZ-RR 2007, 180