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BVerwG - Entscheidung vom 21.11.2006

1 B 162.06

Normen:
ZPO § 174 § 418 Abs. 1, 2
VwGO § 56 Abs. 2 § 88 § 125 Abs. 1
AufenthG § 60

BVerwG, Beschluß vom 21.11.2006 - Aktenzeichen 1 B 162.06

DRsp Nr. 2006/30271

Gegenbeweis der Unrichtigkeit des Zustellungsdatums - Anfall des erstinstanzlich nicht beschiedenen Hilfsantrages auch bei Berufung der Gegenseite - unterlassene Entscheidung über Hilfsantrag als Verletzung des Anspruchs auf vollständige Entscheidung

1. Das ausgefüllte Empfangsbekenntnis erbringt grundsätzlich den vollen Beweis dafür, dass das Schriftstück an dem vom Empfänger angegebenen Tag tatsächlich zugestellt wurde (§ 56 Abs. 2 VwGO , §§ 174 und 418 Abs. 1 ZPO ); der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des Datums ist zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO ), aber erst dann erbracht, wenn die Unrichtigkeit zur vollen Überzeugung des Gerichts feststeht.2. Hat das Verwaltungsgericht dem Hauptantrag des Klägers stattgegeben und folgerichtig über den Hilfsantrag nicht entschieden, ist das Klagebegehren durch die auf Antrag der Beklagten vom Berufungsgericht zugelassene Berufung einschließlich des Hilfsantrags in der Berufungsinstanz angefallen; das Unterlassen der begehrten Entscheidung über den Hilfsantrag verletzt den Anspruch des Klägers auf vollständige Entscheidung über sein Klagebegehren aus § 88 in Verbindung mit § 125 Abs. 1 VwGO .

Normenkette:

ZPO § 174 § 418 Abs. 1 , 2 ; VwGO § 56 Abs. 2 § 88 § 125 Abs. 1 ; AufenthG § 60 ;

Gründe:

Die Beschwerde ist zulässig.

Durch die am 10. August 2006 eingegangene Beschwerdeschrift und die am 14. September 2006 eingegangene Beschwerdebegründung sind sowohl die Beschwerdefrist als auch die Begründungsfrist (§ 133 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 VwGO ) gewahrt worden. Obwohl das Empfangsbekenntnis der Prozessbevollmächtigten des Klägers als Tag des Empfangs des Berufungsurteils den 13. Juli 2006 ausweist, geht der Senat davon aus, dass das Berufungsurteil der Prozessbevollmächtigten des Klägers tatsächlich erst am 14. Juli 2006 zugegangen ist und die Fristen damit erst an diesem Tag in Lauf gesetzt worden sind. Das ausgefüllte Empfangsbekenntnis erbringt zwar grundsätzlich den vollen Beweis dafür, dass das Schriftstück an dem vom Empfänger angegebenen Tag tatsächlich zugestellt wurde (§ 56 Abs. 2 VwGO , §§ 174 und 418 Abs. 1 ZPO ). Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des Datums ist aber zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO ). Er ist allerdings nicht schon dann erbracht, wenn lediglich die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, sondern erst dann, wenn die Unrichtigkeit zur vollen Überzeugung des Gerichts feststeht (vgl. etwa Beschluss vom 15. Februar 2001 - BVerwG 6 BN 1.01 - Buchholz 340 § 5 VwZG Nr. 19 m.w.N., ebenso BFH, Beschluss vom 23. Februar 2006 - IX B 206.05 - [juris] und BSG, Beschluss vom 16. November 2005 - B 2 U 342.04 B - [juris] jeweils m.w.N., vgl. hierzu auch Anmerkung von Keller in jurisPR-SozR 4/2006 Anm. 6). Dies ist hier der Fall. Aus dem Vortrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers und den von ihr zum Nachweis vorgelegten Unterlagen (eidesstattliche Versicherung der Rechtsanwaltsfachangestellten M., die mit dem Eingangsstempel vom 14. Juli 2006 versehenen Auszüge aus den Rechtsanwaltshandakten zu dem Verfahren des Klägers und zu zwei zeitlich parallel gelagerten Verfahren vor demselben Berufungssenat sowie die hier vorliegenden Gerichtsakten in diesen Fällen [BVerwG 1 B 159. und 160.06]) ergibt sich zur Überzeugung des Senats, dass in dem Empfangsbekenntnis - versehentlich - das falsche Datum eingetragen worden ist und das Berufungsurteil auch im vorliegenden Verfahren tatsächlich erst am 14. Juli 2006 zugestellt worden ist. Der vorsorglich gestellte Wiedereinsetzungsantrag ist mangels Fristversäumnis gegenstandslos.

Die Beschwerde ist auch begründet. Sie rügt zu Recht als Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ), dass das Berufungsgericht über den Hilfsantrag des Klägers, die Beklagte zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu verpflichten, nicht entschieden hat.

Das Berufungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, der Rechtsstreit sei insoweit noch in der ersten Instanz anhängig und nicht zum Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden (UA S. 4, 11). Das Berufungsgericht hätte, da es abweichend vom Verwaltungsgericht den Hauptantrag auf Aufhebung der Widerrufsentscheidung (Nr. 1 des Bescheids der Beklagten vom 7. November 2005 - im Folgenden: Bescheid) und der negativen Feststellung zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2 des Bescheids) abgewiesen hat, über den Hilfsantrag (Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG unter Aufhebung der negativen Feststellung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Nr. 3 des Bescheids) entscheiden müssen. Das Unterlassen der begehrten Entscheidung über den Hilfsantrag verletzt den Anspruch des Klägers auf vollständige Entscheidung über sein Klagebegehren aus § 88 i.V.m. § 125 Abs. 1 VwGO .

Der Kläger hatte in der ersten Instanz neben dem Hauptantrag auf Aufhebung des Widerrufs der Beklagten (Nr. 1 des Bescheids) und der negativen Feststellung zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2 des Bescheids) den Hilfsantrag gestellt, die Beklagte zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu verpflichten. Da das Verwaltungsgericht dem Hauptantrag des Klägers stattgegeben hat, hat es folgerichtig über den Hilfsantrag nicht entschieden. Durch die auf den Antrag der Beklagten vom Berufungsgericht zugelassene Berufung ist das Klagebegehren jedoch einschließlich des Hilfsantrags betreffend die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in der Berufungsinstanz angefallen. Dass ein Hilfsantrag, über den die Vorinstanz nicht zu entscheiden brauchte, weil sie dem Hauptantrag entsprochen hat, durch das Rechtsmittel der Gegenseite gegen die Verurteilung nach dem Hauptantrag ebenfalls in der Rechtsmittelinstanz anfällt, ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt (vgl. Urteil vom 15. April 1997 - BVerwG 9 C 19.96 - BVerwGE 104, 260 ; Beschluss vom 20. September 2004 - BVerwG 1 B 27.04 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 81 m.w.N.).

Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO ), damit die Entscheidung über den Hilfsantrag nachgeholt wird. Insoweit wird das angefochtene Urteil aufgehoben. Hingegen ist die von der Beschwerde nicht angegriffene Entscheidung über den Hauptantrag - betreffend Nr. 1 und 2 des Bescheids - rechtskräftig geworden.

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Vorinstanz: VGH Bayern, vom 04.06.2006 - Vorinstanzaktenzeichen 23 B 06.30245