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BSG - Entscheidung vom 27.06.2006

B 2 U 421/05 B

Normen:
SGG § 103 § 160 Abs. 2 Nr. 3

BSG, Beschluß vom 27.06.2006 - Aktenzeichen B 2 U 421/05 B

DRsp Nr. 2006/29854

Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes im sozialgerichtlichen Verfahren

Der Begriff "ohne hinreichende Begründung" in § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG ist materiell iS von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen, so dass es darauf ankommt, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben. Wenn Tatsachen, die nach der rechtlichen Sicht des LSG entscheidungserheblich waren, offen geblieben sind, weil die notwendigen Feststellungen überhaupt fehlen oder weil sie nicht prozessordnungsgemäß zu Stande gekommen sind, so ist die Amtsermittlungspflicht verletzt. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Normenkette:

SGG § 103 § 160 Abs. 2 Nr. 3 ;

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der Berufskrankheit (BK) Nr 2108 - bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule - nach der Anlage der Berufskrankheiten-Verordnung ( BKV ) beim Kläger.

Der im Jahr 1942 geborene Kläger war ua langjährig als technischer Angestellter in der Versuchs- und Qualitätsprüfung eines Reifenherstellers beschäftigt. Die Beklagte lehnte die Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als BK Nr 2108 ab, weil er nach dem Bericht ihres technischen Aufsichtsdienstes (TAD) Gewichte von 20 kg und schwerer nur für wenige Sekunden pro Tag gehoben und getragen habe (Bescheid vom 13. August 1999, Widerspruchsbescheid vom 3. November 1999).

Das Sozialgericht wies die Klage ab (Urteil vom 29. Mai 2000) und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurück (Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 12. Oktober 2005). Das LSG führte zur Begründung aus, die so genannte arbeitstechnische Voraussetzung der BK Nr 2108 sei beim Kläger nicht erfüllt. Dies stehe aufgrund der Ermittlungen des TAD der Beklagten, den Aussagen des Sachverständigen Dr. B sowie der gehörten Zeugen fest. Insbesondere aufgrund der Zeugenaussagen der Arbeitskollegen des Klägers stehe fest, dass das Heben und Tragen von Reifen nur äußerst selten vorgekommen sei. Eine weitere Beweisaufnahme, insbesondere die Vernehmung des Zeugen S , wie vom Kläger mit Schriftsatz vom 6. April 2005 angeregt, sei nicht geboten. Denn es sei nicht ersichtlich, was dieser Zeuge abweichend von den widerspruchsfreien Aussagen der vernommenen Zeugen aussagen solle. Auch habe Herr S in seinem Schreiben vom 16. November 2004 selbst mitgeteilt, er könne zu dem Thema weniger als die vernommenen Zeugen beitragen. Insgesamt ergebe sich unter Worst-Case-Bedingungen nach den Angaben des Klägers für seine anderen Beschäftigungen lediglich 15,8 MNh, also 68 % der nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell erforderlichen Gesamtbelastungsdosis, sodass keine arbeitsmedizinischen Ermittlungen veranlasst seien.

Mit seiner fristgerecht eingelegten Beschwerde rügt der Kläger eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 103 des Sozialgerichtsgesetzes ( SGG ) durch das LSG. Dieses hätte sich aus dessen rechtlicher Sicht gedrängt sehen müssen, den Zeugen S , wie mit Schreiben vom 6. April 2005 beantragt, zur Ausgestaltung seines - des Klägers - Arbeitsplatzes und zum Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen zu vernehmen. Die gehörten Zeugen hätten zum Teil nicht völlig wertfrei ausgesagt oder nur den eigenen Arbeitsplatz geschildert, nicht aber den des Klägers. Der Zeuge S hingegen kenne den Arbeitsplatz des Klägers genau. Auf die schriftliche Erklärung des Zeugen, er könne nicht mehr als die anderen aussagen, komme es nicht an. Der Zeuge S sei auch zu dem Termin am 6. Dezember 2004 ebenso wie die anderen Zeugen geladen gewesen und habe nur aufgrund einer Terminskollision absagen müssen. Bei Kenntnis der Aussage des Zeugen S wäre das LSG zu einer für den Kläger günstigeren Beurteilung gekommen und hätte letztlich aufgrund des hinsichtlich des medizinischen Zusammenhangs für den Kläger positiven Gutachtens von Dr. B die BK Nr 2108 mit einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH anerkannt.

II

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG für das Saarland vom 12. Oktober 2005 ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz ergangen. Dieser von dem Kläger schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Das LSG hat seine in § 103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhaltes dadurch verletzt, dass es entgegen dem vom Kläger bis zur Entscheidung des LSG ohne mündliche Verhandlung aufrechterhaltenen Beweisantrag auf Vernehmung des Zeugen S über die vom Kläger gehobenen und getragenen Gewichte zum Nachweis, dass er gemäß der umstrittenen BK Nr 2108 schwer gehoben und getragen habe, ohne hinreichende Begründung nicht entsprochen hat. Die Wendung "ohne hinreichende Begründung" in § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist nicht formell, sondern materiell iS von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Es kommt darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben. Die Amtsermittlungspflicht ist verletzt, wenn Tatsachen, die nach der rechtlichen Sicht des LSG entscheidungserheblich waren, offen geblieben sind, weil die notwendigen Feststellungen überhaupt fehlen oder weil sie nicht prozessordnungsgemäß zu Stande gekommen sind.

Das Letztere macht die Beschwerde hier mit Recht geltend, indem sie rügt, das LSG habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt, weil es ausführe, es sei nicht ersichtlich, was der Zeuge abweichend von den anderen Zeugen zu dem entscheidungserheblichen Umstand, ob beim Kläger die so genannte arbeitstechnische Voraussetzung der BK Nr 2108 vorliegt, aussagen könne.

Die vom LSG angeführten Gründe für die Ablehnung des nach der Vernehmung der anderen Zeugen wiederholten Beweisantrags des Klägers vom 6. April 2005 sind nicht geeignet, das beanstandete Vorgehen zu rechtfertigen. Zwar ist das LSG in der Würdigung der von ihm erhobenen Beweise und hinsichtlich des Umfangs seiner Beweiserhebung frei (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG ). Auch kann auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG eine Nichtzulassungsbeschwerde nach dem eindeutigen Wortlaut des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht gestützt werden. Hierdurch wird jedoch eine auf § 103 SGG gestützte Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht nicht ausgeschlossen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 49; BSG SozR 1500 § 160a Nr 62; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 224 f).

Diese Rüge ist vorliegend begründet, weil die für die Klageabweisung entscheidende Feststellung des LSG, der Kläger habe nicht in ausreichendem Maße im Sinne der umstrittenen BK Nr 2108 gehoben und getragen, nicht prozessordnungsgemäß zu Stande gekommen ist. Die Ablehnung der Vernehmung des Zeugen S , weil nicht ersichtlich sei, was dieser abweichend von den anderen Zeugen aussagen könne, ist ein Fall einer vorweggenommenen und damit unzulässigen Beweiswürdigung (vgl nur Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, III, RdNr 164; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG , 8. Aufl 2005, § 103 RdNr 8b ff). Denn ob und was der Zeuge S über die Hebe- und Tragebelastung des Klägers aussagen kann, kann nur im Rahmen seiner Vernehmung als Zeuge geklärt werden.

Auf dieser Verletzung der Amtsermittlungspflicht kann die angefochtene Entscheidung beruhen, denn es ist denkbar, dass das LSG nach weiteren Ermittlungen zu einer anderen Entscheidung gelangt.

Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Denn ohne die fehlenden Tatsachenfeststellungen kann über die zwischen den Beteiligten umstrittene BK Nr 2108 vom Bundessozialgericht nicht abschließend entschieden werden.

Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Vorinstanz: Landessozialgericht für das Saarland - L 2 U 84/00 - 12.10.2005,
Vorinstanz: Sozialgericht für das Saarland - S 4 U 221/99 - 29.05.2000,