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BSG - Entscheidung vom 31.05.2006

B 6 KA 10/06 B

Normen:
SGB V § 106 Abs. 2 § 73 Abs. 2 S. 1 Nr. 7
SGG § 162

BSG, Beschluß vom 31.05.2006 - Aktenzeichen B 6 KA 10/06 B

DRsp Nr. 2006/20415

Überprüfung berufungsgerichtlicher Auslegungen durch das Revisionsgericht, Verordnungen im Rahmen von Sprechstundenbedarf

1. Der Überprüfung durch das Revisionsgericht ist die Auslegung von Sprechstundenbedarfs-Vereinbarungen durch das Berufungsgericht entzogen. 2. Der Vertragsarzt darf Materialien oder Arzneimittel, die nach den einschlägigen Regelungen der Sprechstundenbedarfs-Vereinbarungen patientenbezogen verordnet werden müssen, nicht über Sprechstundenbedarf verordnen. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Normenkette:

SGB V § 106 Abs. 2 § 73 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 ; SGG § 162 ;

Gründe:

I. Die klagende Gemeinschaftspraxis, die schwerpunktmäßig reproduktionsmedizinisch tätig ist, wendet sich gegen einen Arzneikostenregress für das Quartal IV/1998 wegen unzulässiger Sprechstundenbedarfsverordnungen in Höhe von ca 61.400 EUR.

Zwischen den Beteiligten war umstritten, ob die im Rahmen der reproduktionsmedizinischen Behandlung erforderlichen "Progesteron-Vaginal-Kapseln" über den Sprechstundenbedarf verordnet werden dürfen. Obwohl diese Kapseln in der seit dem 1. Juli 1995 geltenden Sprechstundenbedarfs-Vereinbarung (SSB-Vereinbarung) nicht in der Liste der verordnungsfähigen Mittel aufgeführt worden waren, verordnete die Klägerin entsprechend einer zwischen ihr und den Krankenkassen getroffenen Vereinbarung die entsprechenden Präparate über den Sprechstundenbedarf und bezog sie von einer bestimmten Apotheke in E..

Nachdem die zu 2. beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) in ihrem Mitteilungsblatt "KV Nordrhein aktuell" (Ausgabe 5/1997) unter Hinweis auf eine Neufassung der SSB-Vereinbarung darauf hingewiesen hatte, dass künftig abweichende Vereinbarungen über die Verordnung von Sprechstundenbedarf nicht mehr zulässig seien, forderte die zu 1. beigeladene Krankenkasse, die für die Abrechnung von Sprechstundenbedarf im Bezirk der Beigeladenen zu 2. zuständig ist, die Klägerin mit Schreiben vom 7. September 1998 auf, sich an die Sprechstundenbedarfsvereinbarung zu halten. Im Falle einer Fortsetzung der bisherigen Verordnungspraxis sei mit Regressfestsetzungen zu rechnen.

Die Klägerin beachtete diesen Hinweis nicht und verordnete auch für das Quartal IV/1998 Progesteron-Vaginal-Kapseln als Sprechstundenbedarf. Dem daraufhin von der Beigeladenen zu 1. gestellten Regressantrag gaben die Prüfgremien statt und setzten einen Regress in Höhe von 120.080,-- DM (61.395,93 EUR) wegen der Verordnung von Mitteln fest, die nicht als Sprechstundenbedarf hätten verordnet werden dürfen.

Widerspruch zum beklagten Beschwerdeausschuss, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, die Progesteron-Vaginal-Kapseln hätten nicht über den Sprechstundenbedarf verordnet werden dürfen. Die SSB-Vereinbarung folge dem Enumerativprinzip, was zur Folge habe, dass Präparate oder Stoffe, die dort nicht ausdrücklich aufgeführt seien, nicht über den Sprechstundenbedarf, sondern nur einzelfallbezogen verordnet werden dürften. Auf Vertrauensschutz könne die Klägerin sich nicht berufen, weil ihr durch die Information der beigeladenen KÄV deren Standpunkt bekannt gewesen und sie im Übrigen von der zuständigen Krankenkasse ausdrücklich aufgefordert worden sei, ihre Verordnungspraxis umzustellen. Soweit die Klägerin einwende, die Krankenkassen hätten die Kosten für die Verordnung von Progesteron-Vaginal-Kapseln unabhängig von der Verordnung über den Sprechstundenbedarf tragen müssen, könne damit ein Schadensersatzanspruch, wie ihn der Regress wegen unzulässiger SSB-Verordnungen darstelle, nicht in Frage gestellt werden (Urteil vom 21. Dezember 2005).

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin einen Verfahrensmangel geltend (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfragen (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ).

II. Die Beschwerde ist nicht begründet.

Zunächst rügt die Klägerin als verfahrensfehlerhaft, das LSG habe in den Entscheidungsgründen eine Erklärung ihres Bevollmächtigten entgegen dem Protokoll nicht richtig wiedergegeben und eine Erklärung des Bevollmächtigten der beigeladenen Krankenkasse augenscheinlich ihr - der Klägerin - zugeordnet. Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Insbesondere setzt sich das LSG auf Seite 7 am Ende des ersten Abschnitts der Urteilsausfertigung durch die Berufung auf "ihren (gemeint: der Klägerin) Vortrag in der mündlichen Verhandlung" nicht in Widerspruch zum Wortlaut des Protokolls der Sitzung vom 21. Dezember 2005. In der Sitzungsniederschrift werden ua Erklärungen des Vertreters der zu 1. beigeladenen Krankenkasse und Erklärungen des Bevollmächtigten der Klägerin wiedergegeben. Die Erklärungen, die der Bevollmächtigte der Klägerin ausweislich der Niederschrift abgegeben hat, beziehen sich nicht auf die auf Seite 7 des Urteils wiedergegebene Wendung, die Klägerin habe die Kapseln "schon seit Quartalsbeginn laufend als SSB bezogen und diese dann am Quartalsende verordnet". Die wiedergegebene Erklärung des Bevollmächtigten der Klägerin in der Niederschrift bezieht sich nur auf die Verordnungspraxis der Gemeinschaftspraxis ab dem 1. Januar 1999. Bei der im Urteil sinngemäß wiedergegebenen Darstellung der Klägerin zur Verordnung von SSB im Quartal IV/1998 handelt es sich ersichtlich um Äußerungen, die das Berufungsgericht dem Rechtsgespräch in der mündlichen Verhandlung entnommen und nicht ausdrücklich protokolliert hat. Im Übrigen kann sich ein eventuelles Missverständnis des Berufungsgerichts hinsichtlich der Unterscheidung des "Bezugs" von Sprechstundenbedarf und dem Zeitpunkt der "Verordnung" von Sprechstundenbedarf im Laufe bzw am Ende des Quartals IV/1998 nicht auf das Urteil ausgewirkt haben. Insofern würde die Entscheidung nicht auf einem - unterstellten - Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruhen.

Soweit die Klägerin geltend macht, es sei von grundsätzlicher Bedeutung, ob die SSB-Vereinbarung für den Bezirk der zu 2. beigeladenen KÄV Nordrhein analogiefähig sei oder nicht, fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit. In seinem Urteil vom 20. Oktober 2004 (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 6 RdNr 13) hat der Senat ausgeführt, dass die Auslegung von SSB-Vereinbarungen durch das LSG der Überprüfung durch das Revisionsgericht nach § 162 SGG entzogen ist. Er hat weiter dargelegt, dass vieles darauf hinweise, dass die damals zu beurteilende SSB-Vereinbarung funktions- und wirkungsbezogene Analogien habe ausschließen wollen, um Unklarheiten und Streitigkeiten im Anschluss an die Verordnungen zu vermeiden. Soweit der Senat die Frage der generellen Analogiefeindlichkeit von SSB-Vereinbarungen im angeführten Urteil vom 20. Oktober 2004 nicht abschließend entschieden hat, beruht das darauf, dass bei Auslegung und Anwendung der nach § 162 SGG nicht revisiblen SSB-Vereinbarungen angesichts der Vielzahl von verordnungsfähigen und nicht verordnungsfähigen Materialien nicht schlechthin ausgeschlossen werden kann, dass in einem besonders gelagerten Einzelfall ggf eine Stoff- oder Präparatebezeichnung in einer SSB-Vereinbarung analog angewandt werden darf. Ob und ggf unter welchen engen Voraussetzungen eine solche analoge Anwendung in Betracht kommt, entzieht sich einer generellen Festlegung. Soweit das Berufungsgericht im Hinblick auf die hier betroffenen Vaginal-Kapseln Ziff IV 7 Buchst d der SSB-Vereinbarung dahin ausgelegt hat, dass diese Kapseln nicht "Mittel der Geburtshilfe" sind, ist das der Nachprüfung durch den Senat entzogen und lässt im Übrigen einen Verstoß gegen revisible Auslegungsgrundsätze oder Bundesrecht nicht erkennen.

Auch die von der Klägerin aufgeworfenen Fragen des Vertrauensschutzes bzw der Auslauffrist zur Fortsetzung einer schon immer mit der geltenden SSB-Vereinbarung in Widerspruch stehenden Verordnungspraxis haben keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung. Insbesondere bedarf es in diesem Verfahren keiner Entscheidung, ob Mitteilungen der zu 2. beigeladenen KÄV in dem Mitteilungsblatt "KV Nordrhein aktuell" Veröffentlichungen im amtlichen Mitteilungsblatt der KÄV Nordrhein "Rheinisches Ärzteblatt" gleichstehen. Das Berufungsgericht hat aus der Zusammenschau der Veröffentlichung des entsprechenden Hinweises im Mitteilungsblatt "KV Nordrhein aktuell" im Jahre 1997 und eines Schreibens der beigeladenen Krankenkasse vom 7. September 1998 unter Verwertung der Antwort der Klägerin auf dieses Schreiben vom 30. Oktober 1998 abgeleitet, dass die Klägerin zu Beginn des Quartals IV/1998 hinreichend deutlich gewusst hat, dass die Träger der vertragsärztlichen Versorgung die Verordnung der Vaginal-Kapseln als Sprechstundenbedarf ab dem Quartal IV/1998 nicht mehr dulden würden. Die Richtigkeit dieser Beurteilung ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen.

Schließlich verleiht auch die Auffassung der Klägerin, der Regressbetrag sei zu verringern, weil die Krankenkassen der behandelten Patientinnen Aufwendungen erspart hätten, die sie im Falle der Einzelverordnung der Vaginal-Kapseln gehabt hätten, dem Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung. In der Rechtsprechung des Senats zu SSB-Regressen ist seit Jahrzehnten geklärt, dass es dem Vertragsarzt nicht freisteht, Materialien oder Arzneimittel, die nach den einschlägigen Regelungen der SSB-Vereinbarungen patientenbezogen verordnet werden müssen, über Sprechstundenbedarf zu verordnen. Bereits in dem vom Berufungsgericht zutreffend herangezogenen Urteil vom 8. Mai 1985 (BSG SozR 2200 § 368n Nr 36 S 117) hat der Senat ausgeführt, dass der Vertragsarzt nicht nach eigenem Belieben Verordnungen über den Sprechstundenbedarf ausstellen darf, die nach den maßgeblichen rechtlichen Vorschriften den einzelnen Patienten hätten zugeordnet werden dürfen. Daran hat sich seitdem nichts geändert. Es bedarf keiner erneuten Durchführung eines Revisionsverfahrens, um entscheiden zu können, dass Ärzte, die entgegen einer ihnen bekannten Beurteilung der für den Sprechstundenbedarf zuständigen Krankenkasse bestimmte Präparate gleichwohl als Sprechstundenbedarf verordnen, sich nicht darauf berufen könnten, die einzelnen Krankenkassen hätten für die entsprechenden Verordnungskosten aufkommen müssen. Neben den im Urteil vom 8. Mai 1985 angeführten Gesichtspunkten sprechen auch die durch das Gesundheitsstrukturgesetz eingeführten wettbewerblichen Elemente im Verhältnis der Krankenkassen untereinander (ua Kassenwahlrecht der Versicherten, Kündigungsrecht bei Beitragssatzerhöhungen) gegen eine beliebige Austauschbarkeit von Einzelverordnungen und Verordnungen über den Sprechstundenbedarf. Die Kosten des Sprechstundenbedarfs, den alle Vertragsärzte im Bezirk jeder KÄV zu Lasten einer einzigen, gesamtvertraglich bestimmten Krankenkasse ohne Bezug zu den einzelnen Patienten verordnen, werden nach einem bestimmten Schlüssel von allen Krankenkassen getragen. Die patientenbezogenen Verordnungskosten fallen dagegen bei derjenigen Krankenkasse an, bei der der jeweilige Patient versichert ist (vgl zuletzt BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 7 RdNr 12). Ärzte, die durch ihr Verordnungsverhalten diese rechtlich vorgegebene Zuordnung vereiteln bzw stören, können sich nicht darauf berufen, insgesamt den Krankenkassen keinen Mehraufwand verursacht bzw Mehrausgaben erspart zu haben. Das hat der Senat im Urteil vom 20. Oktober 2004 im Zusammenhang mit der fehlerhaften Zuordnung von Sprechstundenbedarf zu einer Primär- und einer Ersatzkasse bekräftigt (SozR aaO RdNr 14). Der erneuten Durchführung eines Revisionsverfahrens zur Klärung der damit verbundenen Rechtsfragen bedarf es deshalb nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung .

Vorinstanz: LSG Nordrhein-Westfalen, vom 21.12.2005 - Vorinstanzaktenzeichen L 11 KA 44/05
Vorinstanz: SG Düsseldorf - S. 14 KA 176/02 - 02.02.2005,