Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BSG - Entscheidung vom 29.11.2006

B 6 KA 43/06 B

Normen:
SGB V § 85 Abs. 4

BSG, Beschluß vom 29.11.2006 - Aktenzeichen B 6 KA 43/06 B

DRsp Nr. 2007/3057

Härteregelung im Honorarverteilungsmaßstab einer Kassenzahnärztlichen Vereinigung bei hohem Anteil chirurgischer Leistungen am Umsatz

Härteregelungen scheiden in einer Situation, in der die Anwendung von Honorarverteilungsregelungen eine unzumutbare Härte für den betroffenen Zahnarzt darstellt, nicht schon allein deshalb aus, weil der Honorarverteilungsmaßstab eine entsprechende Härteklausel nicht ausdrücklich enthält. Dabei ist der mehr oder weniger hohe Anteil chirurgischer Leistungen am Umsatz einer zahnärztlichen Praxis kein Anwendungsfall für eine Härteregelung. Entscheidet eine Kassenzahnärztliche Vereinigung über eine starre und nicht eine floatende Festlegung in Relation zum Anteil chirurgischer Leistungen am Gesamtumsatz der maßgeblichen Grenzwerte einer Praxis, so kann diese Entscheidung nicht durch eine allgemein gehaltene Härteregelung ersetzt werden. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Normenkette:

SGB V § 85 Abs. 4 ;

Gründe:

I

Zwischen dem in E. zur vertragszahnärztlichen Versorgung zugelassenen Kläger und der beklagten Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZÄV) ist umstritten, ob die Beklagte berechtigt war, auf Grund des im Jahre 2001 geltenden Honorarverteilungsmaßstabs (HVM) das Honorar des Klägers zu kürzen.

Der HVM der Beklagten sah für die Leistungen aus den Bereichen "konservierend-chirurgische Behandlung und Kieferbruch" bis zu einem bestimmten, in Punkten je Behandlungsfall ausgedrückten Grenzwert eine Vergütung mit den vertraglichen Punktwerten vor. Der Grenzwert wurde vom Vorstand auf der Grundlage der Abrechnungswerte des Vorjahres ermittelt und galt für eine durchschnittliche Fallzahl (501 bis 550 Fälle). Für Praxen mit niedrigeren Fallzahlen erhöhte sich der (rein rechnerische) Grenzwert prozentual, für Praxen mit höheren Fallzahlen verminderte er sich. Der Grenzbetrag wurde getrennt für Allgemeinzahnärzte, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen, Oralchirurgen, Parodontologen und Kieferorthopäden sowie innerhalb dieser Untergruppen nach Kassenbereichen (Primär- und Ersatzkassen) unterschiedlich festgelegt. Für Allgemeinzahnärzte und Oralchirurgen, die ihren Umsatz im jeweils abgerechneten Quartal zu 80 % und mehr durch chirurgische Leistungen erzielen, galten die (höchsten) Grenzwerte der Gruppe der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen.

In den angefochtenen Bescheiden über das Jahresausgleichsverfahren 2001 stellte die Beklagte eine Honorarüberzahlung an den Kläger im Ersatzkassenbereich fest, weil nicht alle angeforderten Punkte mit dem vereinbarten Punktwert honoriert werden konnten.

Mit Widerspruch, Klage und Berufung hat der Kläger geltend gemacht, im Hinblick auf die chirurgische Ausrichtung seiner Praxis und den Anteil chirurgischer Leistungen am Gesamtumsatz zwischen 50 und 56 % im Jahre 2001 bedeute die Anwendung des Grenzwertes für Allgemeinzahnärzte auf ihn eine Härte, die auf der Grundlage des HVM ausgeglichen werden müsse. Honorarverteilungsmaßstäbe müssten atypischen Situationen Rechnung tragen, zumindest in Gestalt einer allgemein gefassten Härteregelung.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Es hat eine Verpflichtung der Beklagten zur Berücksichtigung von höheren Anteilen chirurgischer Leistungen in zahnärztlichen Praxen unterhalb 80 % verneint, auch weil es keine statistischen Unterlagen über die Verteilung der chirurgischen Leistungen auf die Gesamtumsätze einzelner Praxen gebe. Selbst wenn der HVM eine Härteregelung für atypische Fälle enthalten müsse, liege ein solcher Fall hier nicht vor (Urteil vom 10. Mai 2006).

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, das Berufungsurteil weiche von mehreren Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) ab (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz >SGG<), und im Rechtsstreit seien Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ).

II

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision sind nicht erfüllt.

Die von der Beschwerdebegründung gerügte Divergenz des Berufungsurteils von tragenden Erwägungen im Urteil des Senats vom 21. Oktober 1998 ( B 6 KA 71/97 R - BSGE 83, 52 = SozR 3-2500 § 85 Nr 28) liegt tatsächlich nicht vor. In diesem Urteil wie auch in dem Urteil B 6 KA 65/97 R vom selben Tag (SozR 3-2500 § 85 Nr 27) hat der Senat ausgeführt, angesichts der Vielfalt der im Rahmen des Systems praxisindividueller Bemessungsgrenzen denkbaren Konstellationen könne auf eine mehr oder weniger allgemein gehaltene General- bzw Härteregelung nicht verzichtet werden. Dem Normgeber sei es kraft Natur der Sache unmöglich, bei Erlass des HVM alle möglichen besonderen Konstellationen vorherzusehen und entsprechend zu normieren. Dem sei durch Härteregelungen etwa für die Situation Rechnung zu tragen, dass sich überraschend Änderungen in der Versorgungsstruktur in einer bestimmten Region ergeben, weil einer von wenigen Vertragszahnärzten in einer Stadt unvorhergesehen aus der vertragszahnärztlichen Versorgung ausgeschieden ist. Vergleichbares könne für die Änderung der Behandlungsausrichtung einer zahnärztlichen Praxis im Vergleich zum Bemessungszeitraum gelten (SozR 3-2500 § 85 Nr 27 S 196).

Von diesen Grundsätzen weicht das Berufungsurteil nicht ab. Es hält die Entscheidung über die Notwendigkeit einer Härteregelung im hier zu beurteilenden HVM nicht für erforderlich, weil die vom Kläger geltend gemachten Gesichtspunkte und seine Praxissituation keinen Härtefall darstellten. Damit wird nicht - was allein zur Zulassung der Revision wegen Divergenz führen könnte - geleugnet, dass in einem System der Honorarverteilung mit festen Punktwerten für eine durchschnittliche Punktzahlmenge (rechnerisch) pro Behandlungsfall Härteregelungen für atypische Konstellationen erforderlich sein können. Dass das LSG bei dem Kläger einen solchen Härtefall verneint, hat keine Abweichung im für die Entscheidung tragenden Rechtssatz zur Folge.

Soweit der Divergenzrüge die weitergehende Rüge entnommen wird, es sei von grundsätzlicher Bedeutung, ob der hier zu beurteilende HVM wegen des Fehlens einer Härteregelung im Sinne der Grundsätze der Senatsurteile vom 21. Oktober 1998 zu beanstanden ist, hat diese Rüge ebenfalls keinen Erfolg. Zunächst besteht hinsichtlich der Notwendigkeit und des Anwendungsbereichs von Härteregelungen in HVM'en kein Klärungsbedarf mehr. Zu diesem Themenkreis sind in den letzten Jahren über die von der Beschwerde herangezogenen Urteile vom 21. Oktober 1998 hinaus zahlreiche Entscheidungen des Senats ergangen (s BSGE 94, 50 = SozR 4-2500 § 72 Nr 2, jeweils RdNr 53; Urteil vom 9. Dezember 2004 - B 6 KA 84/03 R - juris). Der Senat hat in der zuletzt genannten Entscheidung ausgeführt, im Falle des Fehlens einer generalklauselartigen Global-Härteregelung in einem HVM müsse diese nötigenfalls im Wege ergänzender Auslegung in den HVM hineininterpretiert werden (s auch BSG SozR 4-2500 § 87 Nr 10 RdNr 30). Damit ist grundsätzlich geklärt, dass in einer Situation, in der die Anwendung von Honorarverteilungsregelungen eine unzumutbare Härte für den betroffen (Zahn-)Arzt darstellt, Härteregelungen nicht schon allein deshalb ausscheiden, weil der HVM eine entsprechende Härteklausel nicht ausdrücklich enthält.

Weiterhin steht der grundsätzlichen Bedeutung der vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfrage entgegen, dass sie im angestrebten Revisionsverfahren nicht entschieden werden könnte. Die Entscheidungserheblichkeit fehlt, weil der vom Kläger in den Vordergrund seiner Argumentation gerückte Umstand, der HVM enthalte keine Regelung für zahnärztliche Praxen mit einem hohen Anteil chirurgischer Leistungen, kein Anwendungsfall für eine Härteregelung im Sinne der Rechtsprechung des Senats wäre. Der mehr oder weniger hohe Anteil chirurgischer Leistungen am Umsatz einer zahnärztlichen Praxis stellt keine "überraschende Änderung in der Versorgungsstruktur" oder eine "Änderung der Behandlungsausrichtung einer Praxis" gegenüber dem Referenzzeitraum dar. Die Vertreterversammlung der Beklagten als Normgeber des als Satzung erlassenen HVM hat den Gesichtspunkt der chirurgischen Ausrichtung zahnärztlicher Praxen gesehen. Sie hat deshalb für die Grenzwerte, bis zu denen rechnerisch die pro Fall angeforderten Punkte mit den vollen, vereinbarten Punktwerten vergütet werden, zwischen allgemein zahnärztlich tätigen Zahnärzten, Oralchirurgen und Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen differenziert. Sie hat weiterhin geregelt, dass bei einem Anteil von chirurgischen Leistungen am Gesamtumsatz oberhalb von 80 % für die jeweilige Praxis der (höchste) Grenzwert der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen zur Anwendung kommt, was zugleich zur Folge hat, dass für die betroffene Praxis die niedrigen Prothetik-Fallgrenzwerte gelten.

Die Entscheidung des Normgebers, die maßgeblichen Grenzwerte starr und nicht floatend in Relation zum Anteil chirurgischer Leistungen am Gesamtumsatz einer Praxis festzulegen, könnte nicht durch eine allgemein gehaltene Härteregelung ersetzt werden. Die generell für alle Mitglieder der Beklagten festgesetzten Grenzwerte könnten ihre Funktion nicht erfüllen, den einzelnen Praxen ein hohes Maß an Kalkulierbarkeit ihrer Einnahmen dadurch zu ermöglichen, dass für ein festes Punktzahlenkontingent die (relativ hohen) vereinbarten Punktwerte vergütet werden, wenn in jedem Fall, in dem ein Zahnarzt geltend macht, die Anteile der einzelnen zahnärztlichen Leistungsbereiche in seiner Praxis wichen von dem vom HVM vorausgesetzten typischen Erscheinungsbild einer zahnärztlichen Praxis ab, andere Grenzwerte festgesetzt werden müssten. Im Kern beanstandet der Kläger denn auch nicht das Fehlen einer Härteregelung, sondern die aus seiner Sicht fehlerhaft gezogene Grenze, ab der allgemeinzahnärztliche Praxen wie mund-, kiefer- und gesichtschirurgische Praxen behandelt werden. Ob indessen die Beklagte diese Grenze richtig gezogen hat, könnte in einem Revisionsverfahren angesichts der Gestaltungsfreiheit der KZÄV bei Erlass des HVM allenfalls im Hinblick auf gravierende Fehlbeurteilungen bzw willkürliche Ungleichbehandlungen überprüft werden. Dafür bestehen keine Anhaltspunkte. Im Übrigen käme dieser Überprüfung angesichts der Vielzahl unterschiedlicher HVM-Regelungen keine über den Einzelfall hinausweisende Bedeutung zu. Denn zu den grundsätzlich klärbaren Fragen - den Schwierigkeiten der exakten Ermittlung und Gewichtung von Anteilen rein chirurgischer Leistungen in zahnärztlichen Praxen, die sich nicht auf die Erbringung solcher Leistungen beschränken, sondern zB auch prothetische Leistungen anbieten -, hat der Senat bereits in seinem zur vertragszahnärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung ergangenem Urteil vom 14. Dezember 2005 (SozR 4-2500 § 106 Nr 12 RdNr 15 ff) Stellung genommen.

Die grundsätzliche Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfragen kann schließlich nicht darauf gestützt werden, dass zu klären sei, inwieweit einer Spezialisierung im Rahmen des HVM Rechnung getragen werden müsse. Es bestehen bereits Zweifel, ob die Beschwerdebegründung insoweit dem aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Gebot genügt, in eigener Formulierung einen Rechtssatz, den sie zur Entscheidung des Revisionsgerichts stellen will, zu bezeichnen. Soweit ihr die Frage entnommen werden kann, inwieweit Spezialisierungen in der Praxisausrichtung bei der zahnärztlichen Tätigkeit in einem HVM ihren Niederschlag finden müssten, wäre die Frage in dieser Allgemeinheit nicht klärungsfähig. Soweit der Kläger die Frage dahin formuliert, ob "zwischen Mitgliedern derselben Fachgruppe bestehende Ungleichheiten in der Leistungserbringung im Wege der Honorarverteilung nur dann zu berücksichtigen sind, wenn diese auf Grund von nicht durch den betroffenen Arzt zu beeinflussenden Faktoren entstanden sind", wäre die Frage nicht entscheidungserheblich. Der hier zu beurteilende HVM lässt erkennen, dass dem Umfang, in dem chirurgische Leistungen in einer vertragszahnärztlichen Praxis erbracht werden, durch die Bildung von verschiedenen Untergruppen und durch die Zuordnung unterschiedlicher Grenzwerte zu den Praxen der jeweiligen Untergruppen Rechnung getragen wird. Dass eine KZÄV prinzipiell berechtigt ist, ein Honorarverteilungssystem mit festen Punktwerten (rechnerisch) pro Fall durch Differenzierung der Grenzwerte je nach Behandlungsausrichtung abzusichern, steht außer Frage. Zu entscheiden wäre allein, ob die vom HVM vorgenommene Grenzziehung, wonach nämlich der chirurgische Anteil am Gesamtumsatz einer Praxis 80 % erreichen muss, damit ein (auch) allgemeinzahnärztlich tätiger Zahnarzt einer anderen Gruppe als derjenigen der Allgemeinzahnärzte zugeordnet werden kann, nach den für die Überprüfung von HVM-Regelungen am Maßstab des Bundesrechts entwickelten Grundsätzen zu beanstanden ist. Dazu die Revision zuzulassen, besteht jedoch - wie bereits dargelegt - kein Grund.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung .

Vorinstanz: Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen 11. Senat - L 11 KA 34/04 - 10.05.2006,
Vorinstanz: SG Münster, vom 16.02.2004 - Vorinstanzaktenzeichen S 2 KA 101/02