Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BSG - Entscheidung vom 31.05.2006

B 6 KA 44/05 B

Normen:
SGB V § 106 Abs. 2c S. 1 § 296 § 297 § 298
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 2 § 160a Abs. 2 S. 3

BSG, Beschluß vom 31.05.2006 - Aktenzeichen B 6 KA 44/05 B

DRsp Nr. 2006/20423

Abstellen auf Pressemitteilung bei Nichtvorliegen der Volltext-Fassung des Urteils bei Nichtzulassungsbeschwerde, Arzneimittelregress

1. Es ist ein Abstellen auf die Pressemitteilung ausreichend, wenn im Zeitpunkt des Ablaufs der Frist zur Begründung der Revisions-Nichtzulassungsbeschwerde noch nicht die Volltext-Fassung des Urteils vorliegt. 2. Erst wenn die substantiiert geltend gemachten Fehler mindestens einen Umfang von 5% der elektronisch erfassten Verordnungskosten betreffen ist die Vorlage sämtlicher Verordnungsblätter und die Vornahme von Sicherheitsabschlägen zu fordern. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Normenkette:

SGB V § 106 Abs. 2c S. 1 § 296 § 297 § 298 ; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 2 § 160a Abs. 2 S. 3 ;

Gründe:

I. Der Kläger wendet sich gegen einen Arzneikostenregress.

Der Kläger, ein Arzt für Allgemeinmedizin, lag mit seinem Arzneimittelaufwand von knapp 180.000 DM im Quartal I/1999 um 62,7 % über dem Fachgruppendurchschnitt. Der Prüfungsausschuss setzte einen Regress in Höhe von 11.814,66 DM fest. Der Kläger ist mit Widerspruch, Klage und Berufung erfolglos geblieben.

Im Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ist ausgeführt, die Durchführung der Regelprüfmethode des statistischen Kostenvergleichs sei nicht zu beanstanden, ebenso wenig die Heranziehung der Ärzte für Allgemeinmedizin und der praktischen Ärzte als Vergleichsgruppe. Praxisbesonderheiten lägen nicht vor. Dem erhöhten Rentneranteil in der Praxis des Klägers - nach seinen Angaben mit einem Durchschnittsalter der Rentner von 77 1/2 Jahren - habe der Beklagte dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass er die Vergleichswerte der Fachgruppe entsprechend gewichtet habe. Anlass zu stärkerer Berücksichtigung wegen weit überdurchschnittlichen Alters der Rentner bestehe nicht, denn dies sei für die hohe Überschreitung nicht verantwortlich. Der Arzneimittelmehraufwand für Rentner liege mit einer Überschreitung um 49,5 % noch unter der vom Beklagten angenommenen Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis bei Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts um 50 %. Eine Praxisbesonderheit ergebe sich auch nicht aus dem Vorbringen des Klägers, er habe besonders schwere bzw besonders arzneimittelaufwändige Fälle. Dies könne nur dann als Praxisbesonderheit in Betracht kommen, wenn er unverhältnismäßig viele solcher Fälle habe und seine Fallzahl gering sei. Beides sei indessen nicht der Fall. Im geprüften Quartal habe der Kläger von insgesamt 863 Fällen nur 36 derartige Fälle gehabt (= 4,1 %). Die orientierende Durchsicht der Behandlungsscheine durch den Beklagten habe die allgemein übliche Patientenschaft eines Allgemeinarztes ergeben. Aus der dem Kläger gewährten Erweiterung des Praxisbudgets um 300 Punkte je insulinpflichtigem Diabetesfall, deren Anzahl insgesamt 36 betragen habe, könne nicht auf eine Praxisbesonderheit geschlossen werden, zumal solche Fälle in anderen Quartalen bei ihm nur einen Arzneimittelmehraufwand zwischen 34 % und 46 % ergeben hätten. Kompensierende Einsparungen, die er bei Arbeitsunfähigkeitsfällen und Krankenhauseinweisungen anführe, könnten nicht anerkannt werden. Er habe nicht einmal ansatzweise einen kausalen Zusammenhang dafür dargelegt, dass er solche Einsparungen durch seinen Arzneimittelmehraufwand erzielt habe. Krankenhauseinweisungen seien ihrer Zahl nach auch kaum beeinflussbar, und bei den Arbeitsunfähigkeitszeiten sei bei überdurchschnittlichem Rentneranteil ohnehin ein unterdurchschnittliches Ausmaß zu erwarten.

Rechtlich beachtliche Fehler habe es bei der Datenerhebung nicht gegeben. Die Prüfgremien hätten sich auf die wichtigsten Krankenkassen - AOK, IKK, BKK, LdwKK und Ersatzkassen - beschränken können. Der Beklagte habe dem Quartal I/1999 zu Recht alle Verordnungen zugeordnet, die in diesem Quartal eingelöst worden seien, auch wenn sie schon in einem vorangegangenen ausgestellt worden und die Behandlungsfälle diesem zuzurechnen seien. Der Senat habe keinen Anlass gesehen, die vollständige Vorlage der Verordnungsblätter zu fordern und diese erneuter Prüfung zu unterziehen; Fehler seien rechtlich unerheblich, wenn es sich um Einzelfälle handele. Das Vorbringen des Klägers, in der Gesamtverordnungssumme sei auch Sprechstundenbedarf enthalten, könne nicht zutreffen, weil hierfür andersartige Verordnungsblätter verwendet würden. Die von ihm beanstandete Einberechnung von Hilfsmittelverordnungen betreffe Fälle, in denen er selbst diese Hilfsmittel auf Arzneiverordnungsblättern verordnet habe. Dies wirke sich sogar zu seinen Gunsten aus, weil deren Verordnungswert durchschnittlich unter dem seiner Arzneikosten liege, wie die vom Beklagten stichprobenweise durchgeführte Überprüfung anhand der Printimages der Gruppe der Rentner der IKK Lörrach bestätigt habe. Auch der ungeklärte Verordnungsbetrag von 782,57 DM begründe keine durchgreifenden Zweifel an der Datenzuverlässigkeit und erfordere keine Nachprüfung durch zB Vorlage der entsprechenden Originalverordnungsblätter. Solche verhältnismäßig geringen nicht erklärbaren Beträge müssten in Kauf genommen werden, wenn nicht der am Fachgruppendurchschnitt orientierte statistische Kostenvergleich als Regelprüfmethode praktisch undurchführbar werden solle.

Schließlich sei dem Kläger eine Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts bis zur Grenze des offensichtlichen Missverhältnisses bei 50 % belassen worden. Nur die weiter gehende Überschreitung um 12,7 % sei abgeschöpft worden. Ein so mäßiger Regress bedürfe keiner näheren Begründung im Regressbescheid.

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG macht der Kläger Abweichungen von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) geltend.

II. Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.

Zwar ist von ihrer Zulässigkeit auszugehen. Der Kläger hat seine Beschwerde nach Maßgabe der damals bestehenden Möglichkeiten mit einer Abweichung vom Urteil des BSG vom 27. April 2005 ( B 6 KA 1/04 R - BSGE 94, 273 = SozR 4-2500 § 106 Nr 9) begründet. Ihm hat im Zeitpunkt des Ablaufs der Frist zur Begründung der Revisions-Nichtzulassungsbeschwerde noch nicht die Volltext-Fassung dieses Urteils vorgelegen. Unter diesen Umständen reicht sein Abstellen auf die Pressemitteilung aus (s BSG SozR 1500 § 160a Nr 67 S 90). Seine Rüge, das LSG sei von diesem Urteil abgewichen, hat er so eingehend dargelegt, wie dies anhand der Pressemitteilung über das Ergebnis dieses Verfahrens möglich war (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG] iVm der Darlegungspflicht gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG ).

Die Beschwerde ist aber unbegründet. Für den Erfolg der Rüge einer Rechtsprechungsabweichung ist Voraussetzung, dass Rechtssätze aus dem LSG-Urteil und aus einer höchstrichterlichen Entscheidung miteinander unvereinbar sind und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ). Dabei ist der jeweils aktuelle Stand der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Zeitpunkt der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde maßgebend (vgl dazu zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 61; BSG, Beschlüsse vom 24. September 1998 - B 6 KA 3/98 B - und vom 28. April 2004 - B 6 KA 116/03 B -; s auch BVerwG Buchholz [ Bandfolge ab 1994 ] 310 § 132 Abs 2 Ziff 2 VwGO Nr 1 ). Zudem darf nicht lediglich isoliert auf einzelne Sätze der bundesgerichtlichen Entscheidungen abgestellt werden, sondern es muss der Kontext berücksichtigt werden, in dem die vom Kläger für seine Divergenzrügen herangezogenen bundesgerichtlichen Rechtssätze jeweils stehen (vgl hierzu zB BSG, Beschlüsse vom 23. Oktober 1998 - B 6 KA 15/98 B -, vom 18. November 2003 - B 6 KA 59/03 B -, vom 8. September 2004 - B 6 KA 39/04 B - und vom 31. August 2005 - B 6 KA 35/05 B). Diese Maßstäbe erfordern es, bei der Beurteilung der Beschwerde des Klägers über die von ihm herangezogene Pressemitteilung des BSG hinaus die Volltext-Fassung des Urteils vom 27. April 2005 zu berücksichtigen (s BSGE 94, 273 = SozR 4-2500 § 106 Nr 9) sowie auch dessen Fortführung im Urteil vom 2. November 2005 - B 6 KA 63/04 R - einzubeziehen.

Nach diesen Maßstäben sind die Divergenzrügen des Klägers erfolglos. Er rügt, das LSG weiche von bundesgerichtlichen Rechtssätzen insoweit ab, als es formuliere, dass trotz festgestellter Ungereimtheiten die vollständige Vorlage der Verordnungsblätter bzw der Images und deren Überprüfung nicht gefordert werden müsse und dass Fehler insoweit rechtlich unerheblich seien, als es sich um Einzelfälle handele. Er meint, darin lägen Abweichungen von den Rechtssätzen des BSG, nach denen im Falle festgestellter Fehler sämtliche Verordnungsblätter vorgelegt und Sicherheitsabschläge vorgenommen werden müssten.

Indessen stehen diese Rechtssätze, die der Kläger den Urteilen des BSG vom 27. April 2005 und vom 2. November 2005 entnimmt, in einem bestimmten Kontext. Das BSG fordert nicht schon bei irgend einer Ungereimtheit der elektronisch erfassten und summierten Verordnungsdaten die Vorlage sämtlicher Verordnungsblätter und/oder die Vornahme von Sicherheitsabschlägen, sondern erst dann, wenn die substantiiert geltend gemachten Fehler mindestens einen Umfang von 5 % der elektronisch erfassten Verordnungskosten betreffen (BSG, Urteil vom 2. November 2005, aaO RdNr 33, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Das BSG leitet die Grenze von 5 % daraus ab, dass ausweislich der gesetzlichen Regelungen über die elektronische Erfassung und Übermittlung sowie die arztbezogene Zusammenfassung der Daten (§ 106 Abs 2c Satz 1 iVm §§ 284 ff Fünftes Buch Sozialgesetzbuch) Grundlage für Verordnungsregresse - sowohl für solche anhand von Durchschnittswerten als auch für solche anhand von Richtgrößen - nicht die Originalverordnungsblätter, sondern die Verordnungsbeträge und -summen sein sollen, die von den Krankenkassen übermittelt werden (BSGE 94, 273 = SozR 4-2500 § 106 Nr 9, jeweils RdNr 16 ff, 23, und Urteil vom 2. November 2005, aaO RdNr 26 ff). Daraus ergibt sich ein Anscheinsbeweis, dh die Vermutung der Richtigkeit der elektronisch eingegebenen und übermittelten Daten einschließlich der Verordnungsbeträge und -summen (BSG RdNr 23 bzw RdNr 26, 29 ff). Eine durchgreifende Erschütterung dieses Anscheinsbeweises mit der Folge, dass alle elektronisch ermittelten Verordnungsbeträge und -summen als unmaßgeblich anzusehen und sämtliche Originalverordnungsblätter bzw Images von den Krankenkassen anzufordern und individuell auszuwerten sind, setzt voraus, dass die Richtigkeit der elektronischen Daten konkreten und plausiblen Zweifeln unterliegt (BSG, aaO RdNr 19, 21, bzw RdNr 29, 30, 31, 33, 38) und dass diese Zweifelsfälle summiert wenigstens 5 % der elektronisch erfassten Verordnungskosten betreffen (BSG, Urteil vom 2. November 2005, aaO RdNr 33). Erst hieran knüpft das weitere Erfordernis an, im Falle einer Regressfestsetzung ggf einen Sicherheitsabschlag vorzunehmen. Dessen Gewährung ist nur notwendig, wenn die Anforderung sämtlicher Originalverordnungsblätter bzw Images erforderlich, aber nicht vollständig realisierbar ist (s BSG, aaO RdNr 33 aE).

Eine Abweichung von diesen Rechtssätzen - in diesem Kontext - ist dem Urteil des LSG nicht zu entnehmen. Dabei ist schon zweifelhaft, ob dem Urteil des LSG überhaupt Rechtssätze entnommen werden können, die für eine Divergenzfeststellung geeignet - dh hinreichend abstrakt - sind. Jedenfalls aber ist das LSG bei Berücksichtigung des geschilderten Kontextes der Rechtssätze des BSG nicht von diesen abgewichen. Denn das Ausmaß von 5 % zweifelhafter Verordnungskosten ist im Falle des Klägers nicht erreicht.

Bei der Berechnung der 5 % muss außer Betracht bleiben, dass die Prüfgremien im Fall des Klägers nur 858 Verordnungsfälle zu Grunde legten, während er geltend macht, im Quartal I/1999 883 Behandlungsfälle gehabt zu haben. Denn durch die Rechtsprechung des BSG ist geklärt, dass Verordnungsregresse von vornherein lediglich auf die Verordnungssummen nur einiger Krankenkassen gestützt werden können, wenn dann auch der Verordnungskostendurchschnitt nur nach der geringeren Zahl dieser zu Grunde gelegten Fälle errechnet wird (vgl dazu BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 50 S 268; s zB auch BSG USK 2000-165 S 1084). In dieser Weise sind die Prüfgremien nach den Feststellungen des LSG verfahren (s LSG-Urteil S 15).

Mit den weiteren Einwendungen des Klägers wird die Summe von 5 % nicht erreicht. Seine Beanstandung unrechtmäßiger Einrechnung von Verordnungen für Sprechstundenbedarf in Höhe von 2.150 DM erfasst ca 1,2 % der Gesamtverordnungskosten von knapp 180.000 DM, die gerügte Einbeziehung von Verordnungen für Hilfsmittel in Höhe von 4.370 DM betrifft ca 2,4 %, die Verordnungen aus anderen Quartalen haben ein Ausmaß von 1.380 DM = ca 0,77 % und der ungeklärte Betrag von 782,57 DM ergibt ca 0,4 %. Die Summe dieser Verordnungen bleibt unter 5 % der Gesamtverordnungskosten. Mithin liegt kein Fall vor, in dem nach der Rechtsprechung des BSG Anlass bestanden hätte, die vollständige Vorlage der Verordnungsblätter zu fordern und diese erneuter Prüfung zu unterziehen sowie ggf einen Sicherheitsabschlag vorzunehmen. Abweichungen von der BSG-Rechtsprechung, wie der Kläger sie rügt, sind also nicht gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG (in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung).

Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, vom 27.04.2005 - Vorinstanzaktenzeichen L 5 KA 4587/04
Vorinstanz: SG Freiburg - S. 1 KA 2338/01 - 03.09.2003,