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BGH - Entscheidung vom 07.11.2006

X ZR 69/02

Normen:
PatG § 4

BGH, Beschluß vom 07.11.2006 - Aktenzeichen X ZR 69/02

DRsp Nr. 2007/182

Nichtigerklärung eines Fernseh-Signal-Empfängers mit Videotextdecoder mangels Beruhens auf erfinderischer Tätigkeit

Normenkette:

PatG § 4 ;

Gründe:

I. Die Beklagte war Inhaberin des unter anderem mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 145 677 (Streitpatents), das am 20. November 1984 unter Inanspruchnahme der Priorität einer italienischen Patentanmeldung vom 22. November 1983 angemeldet worden ist. Es betrifft einen "improved teletext receiver" und umfasst fünf Patentansprüche. Patentanspruch 1 lautet in der Verfahrenssprache Englisch:

"Television signal receiver, comprising a teletext type decoding circuit (4), capable of receiving, selecting, processing and reproducing a plurality of text pages, each one selectable by the user among all receivable pages, by sending to the decoding circuit (4), by means of control keys located circuit (3), by means of control keys located on a relevant control device (11), in particular represented by a remote control device, a corresponding sequence of data specifying the selected page, said receiver comprising a data processor circuit (13), coupled to said decoding circuit (3), to said control device (11) and to a memory device (register 13 a), said data processor circuit (13) being provided for memorizing in said memory device (register 13 a) the sequence of data specifying the selected page, and for modifying it in response to the depression of a special one of said control keys, so that the modified sequence specifies a defined different page other than the selected one, characterized in that the said special key is respectively an increment (+) or decrement (-) key and that said data processor circuit (13), as a consequence of the depressing of said special key, recalls said memorized sequence from said memory device (register 13 a) and respectively increments or decrements it, then memorizes it again and sends it to said decoding circuit (4)."

Mit ihrer Klage hat die Klägerin beantragt, das Streitpatent im Umfang seines Patentanspruchs 1 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären. Sie hat geltend gemacht, die Lehre des Streitpatents sei nicht neu und beruhe jedenfalls nicht auf erfinderischer Tätigkeit.

Die Beklagte hat das Streitpatent verteidigt, hilfsweise mit der Maßgabe, dass Patentanspruch 1 eine geänderte Fassung erhält.

Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent in dem beantragten Umfang für nichtig erklärt.

Mit ihrer Berufung hat die Beklagte weiterhin die Klageabweisung angestrebt und das Streitpatent hilfsweise in der Fassung eines geänderten Patentanspruchs 1 verteidigt.

Nachdem die Laufzeit des Patents beendet ist, hat die Klägerin den Rechtsstreit für in der Hauptsache erledigt erklärt. Die Beklagte hat der Erledigungserklärung nicht widersprochen.

Als gerichtlicher Sachverständiger hat Prof. Dr.-Ing. U. E. K., ....., ein schriftliches Gutachten erstattet.

II. Der Senat hat nunmehr über die Kosten des Rechtsstreits nach § 91 a ZPO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen zu entscheiden. Hierauf ist die Beklagte durch Verfügung des Vorsitzenden vom 18. September 2006 hingewiesen worden. Die Kosten sind danach der Beklagten aufzuerlegen, weil bis zum Eintritt des erledigenden Ereignisses nach dem maßgeblichen Sach- und Streitstand davon auszugehen ist, dass die Nichtigkeitsklage Erfolg gehabt hätte.

1. Das Streitpatent betrifft einen Fernsehsignalempfänger mit einer Teletext-Decodierungsschaltung. Die Beschreibung des Streitpatents weist einleitend darauf hin, dass Teletextsysteme, wie sie zur Zeit der Anmeldung des Streitpatents bekannt und zum Teil in der Erprobungsphase waren, dazu konzipiert seien, aktuelle Informationen zu übermitteln. Die Anzahl der für den Benutzer verfügbaren Teletextseiten betrage einige Hundert, gruppiert nach Inhalt (z.B. letzte Nachrichten S. 110-125; Sport S. 150-162; Politik S. 210-222; Spiele S. 315-345), wobei auf der ersten Seite sich ein Inhaltsverzeichnis mit den korrespondierenden Seitennummern befinde. Zum Empfang des Videotextes enthalte ein Farbfernsehempfänger einen Videotext-Decoder.

Nach der Patentbeschreibung war es bei Verwendung der im Stand der Technik bekannten Decoder für den Benutzer erforderlich, jedes Mal, wenn er eine ausgewählte Seite sehen wollte, aufeinander folgend drei numerische Tasten zu drücken, um die dreistellige Zahl einer gewünschten Seite zu bilden. Wollte er die folgende Seite sehen, war er erneut gezwungen, eine solche dreistellige Zahl zu bilden.

Allerdings sei, so die Streitpatentschrift, das Verfahren nach der europäischen Patentschrift 0 037 077 vorteilhaft. Bei diesem werde die Wartezeit bei der Auswahl von Teletextseiten dadurch verkürzt, dass bestimmte weitere Informationen zum Auffinden einer Seite in dem Informationssystem hinzugefügt würden. In dem Empfänger würden neben den anzuzeigenden Seiten auch die benachbarten Seiten gespeichert. Aus dem Artikel: Grundig, Technische Informationen, Band 27, Nr. 4/5 1980, S. 171-196 "Videotext und Bildschirmtext" sei ebenfalls ein Fernsehsignalempfänger bekannt mit einer Art Teletextdecodierschaltung, bei der eine Datenfolge in einem internen Register gespeichert werden könne. Durch Steuerungstasten, die auf einer Fernbedienung angeordnet seien, könne der Benutzer eine die ausgewählte Textseite spezifizierende Datenfolge senden und gelange dadurch zu dieser Textseite. Eine besondere Bedienungstaste erlaube es dem Benutzer, die gespeicherte Folge zu modifizieren, um eine andere Seite als die gewählte zu bestimmen.

Die Streitpatentschrift bezeichnet es als Aufgabe der Erfindung, einen Empfänger mit einem Teletextsignaldecoder anzugeben, der die beschriebenen Nachteile nicht aufweise.

Patentanspruch 1 beschreibt dazu einen Fernsehsignalempfänger

1. mit einer Teletextdecodierschaltung (4) zum Empfang, zur Auswahl, Aufbereitung und Wiedergabe einer Vielzahl von Textseiten;

2. jede einzelne Textseite ist vom Benutzer aus allen empfangbaren Seiten mittels Funktionstasten, die auf einer entsprechenden Bedienungseinrichtung (11), insbesondere einem Fernbedienungsgeber, angeordnet sind, durch Senden einer korrespondierenden Folge von Daten, die die ausgewählte Seite spezifizieren, an die Decodierschaltung (4) wählbar;

3. der Empfänger weist eine Datenverarbeitungsschaltung (13) auf;

4. die Datenverarbeitungsschaltung (13) ist mit der Decodierschaltung (4), der Bedienungseinrichtung (11) und einer Speichereinrichtung (Register 13 a) gekoppelt;

5. die Datenverarbeitungsschaltung (13) ist zum Speichern der Folge der die gewählte Seite spezifizierenden Daten in der Speichereinrichtung (Register 13 a) und deren Modifizierung als Antwort auf das Drücken einer speziellen Taste der Funktionstasten vorgesehen und zwar so, dass die modifizierte Folge eine bestimmte Seite spezifiziert, die von der gewählten verschieden ist;

6. die spezielle Taste ist eine entsprechende Inkrement (+)- oder Dekrement (-)-Taste;

7. die Datenverarbeitungsschaltung (13) ruft als Folge der Betätigung der speziellen Taste die gespeicherte Folge der Daten aus der Speichereinrichtung (Register 13 a) auf,

8. inkrementiert oder dekrementiert die gespeicherte Folge entsprechend,

9. speichert die inkrementierte oder dekrementierte Folge wieder und

10. gibt sie an die Decodierschaltung (4) aus.

Damit beschreibt Patentanspruch 1 einen Fernsehempfänger mit eingebautem Videotextdecoder, bei dem der Nutzer aus einer Vielzahl von Seiten eine gewünschte Textseite durch Eingabe der entsprechenden Textseitennummer mittels Tasten auf einem Fernbedienungsgeber wählen kann, die auf dem Bildschirm dargestellt wird. Dabei enthält die deutsche Übersetzung des Patentanspruchs 1 insofern einen Fehler, als dort von den empfangenen Seiten die Rede ist. Im englischen Text heißt es dagegen "receivable pages", was in deutscher Übersetzung "empfangbare Seiten" bedeutet und damit die Seiten bezeichnet, die empfangen werden können. Der Fernsehempfänger weist eine mikroprozessorgesteuerte Schaltung auf, die Steuerfunktionen beim Videotextempfang ausführen kann und mit der Decodierschaltung, der Bedienungseinrichtung und der Speicherung gekoppelt ist. Die Datenverarbeitungsschaltung speichert die Datenfolge, die Betätigung einer speziellen Taste ermöglicht die Veränderung der gespeicherten Datenfolge, wobei die modifizierte Datenfolge eine andere Textseite kennzeichnet. Die spezielle Taste ist eine entsprechende Inkrement- oder Dekrement-Taste; die Merkmale 7. bis 10. der obigen Merkmalsgliederung geben an, in welchen Schritten die Inkrementierung und Dekrementierung erfolgen soll. Insgesamt beschreibt die Lehre des Streitpatents damit einen Fernsehsignalempfänger, bei dem vom Nutzer eine andere als die auf dem Bildschirm dargestellte Videotextseite gewählt werden kann, indem die Seitennummer der gezeigten Seite durch Betätigung einer auf dem Fernbedienungsgeber angeordneten speziellen Taste inkrementiert und durch Betätigen einer anderen speziellen Taste dekrementiert werden kann.

2. Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand spricht alles dafür, dass sich dieser Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergab.

Fachleute, die auf dem Gebiet des Streitpatents zum Zeitpunkt der Patentanmeldungen Neuerungen entwickelten, waren, wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend dargestellt und die Beklagte auch nicht in Zweifel gezogen hat, in der Regel Fachhochschulingenieure oder Hochschulingenieure der Fachrichtung Elektrotechnik mit Schwerpunkt Nachrichtentechnik oder Elektronik. Diese verfügten über mehrjährige Berufserfahrung, z.B. praktische Erfahrung als Entwickler in einer spezialisierten Fachgruppe.

Solchen Fachleute waren, wovon auch die Patentbeschreibung ausgeht und was die Beklagte nicht in Zweifel zieht, Fernsehsignalempfänger bekannt, die die Merkmale 1. bis 4. der Merkmalsgliederung aufwiesen. Ein solches Gerät beschreibt beispielsweise auch die Bedienungsanleitung des Geräts 26 (K 10). Auf Seite 7 dieser Bedienungsanleitung wird ausgeführt, wie die Videotextinformationen genutzt werden können. Danach ist zunächst mit den Zifferntasten 1 bis 9 und 0 der gewünschte Fernsehsender zu wählen. Wird die mit dem Videotextsymbol gekennzeichnete Taste auf dem Fernbedienungsgeber gedrückt, erscheint auf dem Bildschirm die Inhaltsangabe des Videotextes. In der Bedienungsanleitung wird weiter geschildert, dass der Nutzer die einzelnen Videotextseiten durch sequenzielle Eingabe der drei Ziffern der Seitennummer über die Funktionstaste des Fernbedienungsgebers auswählen kann. Dabei erscheint die gewählte Seitennummer direkt auf dem Bildschirm. Der Seitenzähler zeigt die Seitennummern der aktuell empfangenen, aber nicht dargestellten Seite an und läuft so lange durch, bis die gewählte Seite empfangen worden ist. Weiter heißt es in der Bedienungsanleitung: "Wenn eine Seite auf dem Bildschirm steht, und Sie wollen die nächste Seite lesen, brauchen Sie nicht die Seitennummer zu wählen, sondern können die Taste +1 kurz drücken. Zur Wahl der vorhergehenden Seite die Taste -1 kurz drücken."

Damit handelt es sich bei dem Gerät, das die Bedienungsanleitung (K 10) beschreibt, um einen Fernsehempfänger mit eingebautem Videotextdecoder, der zum Empfang, zur Auswahl, zur Aufbereitung und Wiedergabe einer Vielzahl von Teletextseiten geeignet ist (Merkmal 1.). Jede Textseite kann vom Nutzer durch Eingabe der Videotextseitennummer mittels Funktionstasten auf einem Fernbedienungsgeber ausgewählt werden (Merkmal 2.). Die Seitennummer der aktuell ausgewählten Seite kann durch Betätigen einer speziellen Taste der Funktionstasten modifiziert werden (Merkmal 5.). Die spezielle Taste ist eine Inkrement-Taste und eine Dekrement-Taste auf dem Fernbedienungsgeber (Merkmal 6.). Für den Fachmann ergibt sich aus dieser Bedienungsanleitung weiter, dass eine Datenverarbeitungsschaltung vorhanden sein muss (Merkmal 3.) und dass diese, um die Modifizierung der Seitennummern durch Inkrementieren bzw. Dekrementieren durchführen zu können, mit dem Videotextdecoder, dem Fernbedienungsgeber und einem Speicherregister gekoppelt sein muss (Merkmal 4.). Außerdem versteht es sich für den Fachmann von selbst, dass die modifizierte Seitennummer dem Videotextdecoder zugeleitet werden muss (Merkmal 10.). Der Entgegenhaltung K 10 entnimmt der Fachmann mithin alle Merkmale der Streitpatentschrift, ausgenommen die Merkmale 7. bis 9.

Der gerichtliche Sachverständige hat ausgeführt, dass Fachleuten auf dem Gebiet der Elektrotechnik aufgrund ihres Fachwissens sowohl die Verfahrensschritte zum Inkrementieren und Dekrementieren bekannt waren, als auch die dazu geeigneten elektronischen Baugruppen und die Art und Weise, wie diese zusammengeschaltet werden müssen. Da aus der K 10 die Idee bekannt war, zur Bedienungsvereinfachung eine spezielle Taste zu verwenden, mit der der Nutzer durch Inkrementieren oder Dekrementieren der aktuellen Seitennummer einfacher zur nächsten oder vorangegangenen Videotextseite gelangen konnte als durch Eingabe von drei Ziffern, standen für die Realisierung mehrere geläufige Ausführungsformen zu Gebote. Die Auswahl einer von diesen stellt eine erfinderische Tätigkeit nicht dar.

Das Gerät wurde, wie sich aus der datierten Veröffentlichung "Funkschau" Heft 17/1983, S. 28 (K 9) ergibt, auf der Internationalen Funkausstellung vom 2. bis 11. September 1983 vorgestellt und seit diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland verkauft. Danach spricht alles für die Vorveröffentlichung der Bedienungsanleitung.

3. Auch mit dem Hilfsantrag hätte die Verteidigung gegen die Nichtigkeitsklage keinen Erfolg gehabt. Die Änderung besteht ausschließlich in der Ergänzung, dass die gewählte Videotextseite angezeigt werden soll. Auch dies ist bereits in der Bedienungsanleitung (K 10) beschrieben. Wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend dargestellt hat, befindet sich die Seitennummer in jedem Fall in einem Speicher und wird, wenn eine Videotextseite gewählt ist, auch angezeigt. Dies gilt auch bei der Wahl einer neuen Seite durch Inkrementieren oder Dekrementieren. Damit beruht Patentanspruch 1 auch in dieser Fassung nicht auf erfinderischer Tätigkeit.

Vorinstanz: BPatG, vom 06.02.2002 - Vorinstanzaktenzeichen 4 Ni 44/00 (EU)