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BGH - Entscheidung vom 09.05.2006

3 StR 111/06

Normen:
StGB § 63

Fundstellen:
NStZ-RR 2007, 8

BGH, Beschluß vom 09.05.2006 - Aktenzeichen 3 StR 111/06

DRsp Nr. 2006/19178

Erneute (mehrmalige) Anordnung der Unterbringung

1. Die erneute Anordnung der Unterbringung eines Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus ist nicht deshalb von vorneherein ausgeschlossen, weil diese Maßregel bereits aufgrund eines in einem früheren (Sicherungs-) Verfahren ergangenen Urteils gegen den Beschuldigten vollzogen wird. 2. Jedoch setzt der nochmalige Maßregelausspruch voraus, dass die Anordnung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang steht. 3. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn das neue Urteil erhebliche Auswirkungen auf Dauer und Ausgestaltung des Maßregelvollzugs haben kann und das Erkenntnisverfahren in besserer Weise als das Vollstreckungsverfahren dazu geeignet ist, die neue Symptomtat sowie die sich darin widerspiegelnde Gefährlichkeit des Beschuldigten für alle an der Maßregelvollstreckung Beteiligten verbindlich festzustellen und damit Änderungen in der Ausgestaltung des Vollzugs oder die Anordnung von dessen Fortdauer zu legitimieren.

Normenkette:

StGB § 63 ;

Gründe:

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen vom Beschuldigten eingelegte Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat Erfolg und führt unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Zurückweisung des Antrags der Staatsanwaltschaft, gegen den Beschuldigten (erneut) die Unterbringung nach § 63 StGB auszusprechen. Mit Recht macht die Revision geltend, dass die angefochtene Entscheidung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren ist.

1. Der Beschuldigte leidet bereits seit längerer Zeit an einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie. Nachdem er zunächst zwischen November 1980 und April 1990 wegen unterschiedlicher Delikte zu Jugendstrafen, Geldstrafen und Freiheitsstrafen verurteilt worden war, sprach ihn das Landgericht Aachen mit Urteil vom 4. März 1993 vom Vorwurf des räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit Körperverletzung, des Diebstahls und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte wegen Schuldunfähigkeit frei und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Der Beschuldigte hatte den Filialleiter eines Supermarkts niedergeschlagen, nachdem dieser ihn nach einem Ladendiebstahl gestellt hatte, der Beschuldigte hatte später einen weiteren Ladendiebstahl begangen und war letztlich gegen zwei Polizeibeamte tätlich geworden, als diese versuchten, ihn aufgrund eines nach Landesrecht erlassenen Unterbringungsbefehls festzunehmen. Außerdem hatte der Beschuldigte mehrfach Mitbewohner angegriffen, mit denen zusammen er in einer städtischen Notunterkunft untergebracht war. Darüber hinaus war er gegen den Lebensgefährten seiner Mutter tätlich geworden und hatte auf einen Pkw-Fahrer und dessen Sohn eingeschlagen, nachdem diese aus dem Fahrzeug ausgestiegen waren, weil der Angeklagte mit der Hand auf das Dach des Pkws geschlagen hatte.

Mit am 7. Juni 1996 rechtskräftig gewordenem Beschluss setzte eine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Düsseldorf die weitere Vollstreckung der Unterbringung für vier Jahre zur Bewährung aus. Dabei wies sie den Beschuldigten unter anderem an, sich in ambulante psychiatrische Behandlung zu begeben und entsprechend den Anordnungen des Arztes seine Erkrankung medikamentös behandeln zu lassen. Nach seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug gelang es dem Beschuldigten nicht, zu einer strukturierten Lebensführung zu finden. Zur Aufnahme einer Arbeitstätigkeit kam es nicht, der Kontakt zu seinem Bewährungshelfer blieb oberflächlich, die zur Behandlung seiner Psychose notwendige regelmäßige Verabreichung von Depotspritzen ließ er teilweise nur mit erheblicher Verspätung vornehmen. Nach seinen Angaben kam es mehrmals jährlich zu akuten psychotischen Erlebnissen, bei denen er sich von "Bildschirmautomaten" überwacht fühlte oder Stimmen hörte, die ihm Befehle erteilten und ihn unter anderem mehrfach aufforderten, sich oder andere zu töten.

Im Februar 2000 sprach der Angeklagte grundlos in einem Omnibus mit den Worten "He, was soll das?" einen 18jährigen Schüler an und packte ihn gleichzeitig an der Schulter, als dieser zusammen mit seiner Schwester aus dem Fahrzeug aussteigen wollte. Als der Schüler sich umdrehte, dem Beschuldigten bedeutete, dass er ihn nicht kenne und ihn, da dieser nicht von ihm abließ, schließlich aufforderte "abzuhauen", schlug ihm der Beschuldigte mehrmals kräftig mit der Faust ins Gesicht. Der Schüler stürzte hierdurch aus dem Omnibus. Als ihm seine Schwester zur Hilfe eilte, trat der Beschuldigte auf diese ein und versetzte sodann ihrem Bruder weitere Faustschläge, bevor er schließlich weg lief. Sein Verhalten erklärte der Beschuldigte damit, dass er von dem Schüler und dessen Schwester provoziert worden sei. Diese hätten sich ihm gegenüber gesetzt und ihm bewusst ins Gesicht geschaut. Der Schüler habe ihn außerdem mehrfach absichtlich "laftenisch" berührt und gegen die Brust geschubst, ohne dass es jedoch zu einem direkten Körperkontakt gekommen sei. Deswegen sei er - der Beschuldigte - wütend geworden.

Wegen dieser - vom Beschuldigten aufgrund eines akuten psychotischen Schubs im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen - Tat ordnete das Landgericht Aachen mit Urteil vom 17. Mai 2001 erneut dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Diese wurde zunächst in den Rheinischen Kliniken Langenfeld vollzogen. Weil der Beschuldigte dort "im Rahmen eines aggressiven Durchbruchs gegen Mitarbeiter tätlich geworden war" und jederzeit wieder mit derartigen fremdaggressiven Durchbrüchen gerechnet werden musste, wurde der Beschuldigte in die Rheinischen Kliniken Bedburg-Hau verlegt und dort in einer besonders gesicherten Station behandelt. Der Beschuldigte lehnte auch hier die Therapie ab, zeigte sich sozial unverträglich sowie aggressiv, beschimpfte Mitarbeiter lauthals und drohte ihnen Gewalt an, so dass er mehrfach von der sozialen Gemeinschaft abgesondert werden musste.

Am 9. Mai 2004 kam es zu der Tat, die Anlass zu diesem Sicherungsverfahren gab. Der Beschuldigte fühlte sich aufgrund seiner psychischen Erkrankung von dem Krankenpfleger R. provoziert. Er bildete sich ein, dieser habe ihn "augenscheinlich" oder "pantomimisch" am Gesäß berührt, beschimpfte ihn deswegen als Dreckschwein, schüttete ihm Kaffee entgegen, schlug ihn mit den Fäusten zu Boden und trat sodann mit den Füßen auf ihn ein. Der Geschädigte musste vier Tage stationär behandelt werden und war acht Wochen dienstunfähig. Aufgrund dieses Vorfalls wurde der Beschuldigte in das Westfälische Zentrum für forensische Psychiatrie in Lippstadt verlegt.

Am 25. August 2004 beschloss das Landgericht Kleve, am 20. Juli 2005 das Landgericht Paderborn - jeweils Strafvollstreckungskammer - gemäß § 67 e StGB die Fortdauer der mit Urteil des Landgerichts Aachen vom 17. Mai 2001 angeordneten Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Diese Entscheidungen stützen sich unter anderem auf die Anlasstat vom 9. Mai 2004, die auch in den durch die Strafvollstreckungskammern eingeholten Prognosegutachten von den gehörten Sachverständigen als ein Beleg für die ungünstige Sozialprognose des Beschuldigten herangezogen worden war.

2. Die Ansicht des Landgerichts, bei diesem Sachverhalt sei die nochmalige Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten nach § 63 StGB mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar, obwohl sich der Beschuldigte sowohl zum Zeitpunkt der Anlasstat, als auch zum Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Urteils bereits im Vollzug dieser Maßregel befand, hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Der Senat hat in seinem Beschluss vom 14. Juli 2005 (StraFo 2005, 472; zum Abdruck in BGHSt 50, 199 bestimmt) zwar darauf hingewiesen, dass die erneute Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht deshalb von vorneherein ausgeschlossen ist, weil diese Maßregel bereits aufgrund eines in einem früheren (Sicherungs-) Verfahren ergangenen Urteils gegen den Beschuldigten vollzogen wird. Jedoch setzt der nochmalige Maßregelausspruch voraus, dass die Anordnung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang steht. Hierbei geht es nicht um den Gesichtspunkt der Angemessenheit der Rechtsfolge, wie ihn § 62 StGB dahin umschreibt, dass der Maßregelausspruch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der vom Beschuldigten begangenen und zu erwartenden Taten sowie dem Grad seiner Gefährlichkeit stehen darf. Maßgeblich ist vielmehr, ob die erneute Unterbringungsanordnung zur Erreichung des Maßregelziels der Besserung (Heilung) und Sicherung geeignet und erforderlich ist, weil von ihr Wirkungen ausgehen, die der erste Maßregelausspruch nach § 63 StGB nicht zeitigt. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn das neue Urteil erhebliche Auswirkungen auf Dauer und Ausgestaltung des Maßregelvollzugs haben kann und das Erkenntnisverfahren in besserer Weise als das Vollstreckungsverfahren dazu geeignet ist, die neue Symptomtat sowie die sich darin widerspiegelnde Gefährlichkeit des Beschuldigten für alle an der Maßregelvollstreckung Beteiligten verbindlich festzustellen und damit Änderungen in der Ausgestaltung des Vollzugs oder die Anordnung von dessen Fortdauer zu legitimieren.

b) Nach diesen Maßstäben war die nochmalige Anordnung der Unterbringung hier zur besseren Erreichung des Maßregelziels weder geeignet noch erforderlich und deswegen unverhältnismäßig; sie durfte daher nicht ausgesprochen werden.

Die Anlasstat des Beschuldigten ist eingebettet in eine Vielzahl ähnlicher Vorfälle, durch die der Beschuldigte immer wieder in gleicher Weise auffällig geworden ist. Sie entspricht in ihrer krankheitsbedingten Entstehung der Tat, die bereits Anlass für die Unterbringung des Beschuldigten durch das Urteil des Landgerichts Aachen vom 17. Mai 2001 war. Sie hat ihren Grund ebenfalls in einer psychotisch bedingten Situationsverkennung durch den Beschuldigten, der sich eine Provokation durch den später Geschädigten einbildete, und zeigt im Vergleich zu den früheren Körperverletzungstaten keine Steigerung der Aggressivität und damit der Gefährlichkeit des Beschuldigten auf. Der Beschuldigte war bereits aufgrund seiner früheren Gewalttätigkeiten und seiner auch während des Maßregelvollzugs gezeigten Aggressivität in einem besonders gesicherten Bereich des psychiatrischen Krankenhauses untergebracht. Die Tat gab erkennbar keinen Anlass, den Sicherungsaspekt der Maßregel durch eine nochmalige Anordnung noch weiter zu verstärken.

Eine erneute Anordnung der Unterbringung war auch nicht deswegen erforderlich, weil das ihr zugrunde liegende Strengbeweisverfahren bessere Möglichkeiten zur Feststellung der erneuten Körperverletzungstat des Beschuldigten bot als das sich an das Urteil des Landgerichts Aachen vom 17. Mai 2001 anschließende Vollstreckungsverfahren. Die Tat war im Maßregelvollzug begangen worden. Ihr Hergang und ihre Ursachen waren durch die Bekundungen des Geschädigten sowie eines weiteren Zeugen und die Stellungnahme der behandelnden Ärzte ohne Schwierigkeiten zu belegen. Sie wurden dementsprechend in den Berichten des psychiatrischen Krankenhauses tragfähig dokumentiert und bereits von den im Verfahren nach § 67 e StGB gehörten Sachverständigen in ihren Prognosegutachten unabhängig von vorliegendem Sicherungsverfahren in allen ihren maßgeblichen Aspekten berücksichtigt, ohne dass ihnen für die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung indessen wesentliche Bedeutung zugemessen worden wäre. Wie die - im Urteil mitgeteilten - Beschlüsse der Strafvollstreckungskammern sowie die ihnen zugrunde liegenden Gutachten zeigen, war maßgeblich hierfür vielmehr das durch Therapieverweigerung und krankheitsbedingte Aggressivität geprägte Gesamtverhalten des Beschuldigten im Vollzug, von dem die Anlasstat lediglich eine - wenn auch für den Geschädigten schwer wiegende - Facette bildete. Weder die Ausgestaltung noch der weitere Vollzug der Unterbringung bedurften daher einer Legitimierung durch strengbeweisliche Feststellung der neuen Tat des Beschuldigten.

Vorliegende Fallgestaltung unterscheidet sich somit deutlich von dem Sachverhalt, über den der Senat in seinem zitierten Beschluss vom 14. Juli 2005 zu befinden hatte. Dort hatte der Beschuldigte die neue Tat begangen, als er sich noch in Freiheit befand, da der Maßregelvollzug in der ersten Unterbringungsentscheidung zur Bewährung ausgesetzt worden war. Der Nachweis von Tathergang und -ursachen bedurfte daher gründlicher Beweisaufnahme. Darüber hinaus zeigte die neue Anlasstat (objektiv versuchter Mord) im Vergleich zu der ersten Anlasstat (objektiv vorsätzliche Körperverletzung) eine deutliche Steigerung der Gefährlichkeit des Beschuldigten und hatte daher nahe liegend Einfluss auf Ausgestaltung und Dauer der im Urteilszeitpunkt bereits aufgrund des Bewährungswiderrufs hinsichtlich der ersten Maßregelanordnung vollzogenen Unterbringung. All dies machte die erneute Anordnung der Unterbringung erforderlich.

Da sich die angefochtene Entscheidung nach den Maßstäben des Beschlusses vom 14. Juli 2005 als unverhältnismäßig erweist und daher aufgehoben werden muss, braucht sich der Senat nicht näher mit der Frage zu befassen, ob dem Maßregelausspruch unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Gefährlichkeit des Beschuldigten für die Allgemeinheit oder der Verhältnismäßigkeit Bedenken auch deswegen entgegenstehen, weil er die Tat im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßnahme gegen ein Mitglied des Betreuungspersonals begangen hat (vgl. BGH NStZ 1998, 405 ; 1999, 611; 2002, 590; BGHR StGB § 62 Verhältnismäßigkeit 4 und § 63 Gefährlichkeit 26).

Nach den getroffenen Feststellungen ist es ausgeschlossen, dass aufgrund einer neuen Hauptverhandlung noch Umstände festgestellt werden, unter denen sich die nochmalige Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB gegen den Beschuldigten als verhältnismäßig erweisen könnte. Analog § 354 Abs. 1 StPO ist der entsprechende Antrag der Staatsanwaltschaft daher zurückzuweisen.

Vorinstanz: LG Kleve, vom 28.12.2005
Fundstellen
NStZ-RR 2007, 8