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BGH - Entscheidung vom 04.04.2006

4 StR 30/06

Fundstellen:
NStZ 2006, 405
StV 2006, 458

BGH, Beschluß vom 04.04.2006 - Aktenzeichen 4 StR 30/06

DRsp Nr. 2006/11519

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in vier Fällen und wegen Freiheitsberaubung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO .

1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen (Fälle II 1 bis 3 der Urteilsgründe) und wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in vier Fällen (Fälle II 4 bis 7 der Urteilsgründe) muss auf die zulässig erhobene Rüge aufgehoben werden, der Beweisantrag des Angeklagten auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Alter des Tatopfers sei rechtsfehlerhaft behandelt worden.

a) Nach den Feststellungen nahm der Angeklagte an sieben, jeweils nicht näher bestimmbaren Tagen im Sommer des Jahres 2003 an der im Mai 1991 im Baku/Aserbaidschan geborenen Zeugin Ülvie M. sexuelle Handlungen vor.

Im Hauptverhandlungstermin am 28. Juni 2005 hatte der Angeklagte die Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens bezüglich des Alters der Zeugin Ülvie M. zum Beweis für die Tatsache beantragt, dass die Zeugin zu den in der Anklage genannten Zeitpunkten über 14 Jahre alt gewesen ist. Das Landgericht lehnte diesen Antrag ab und führte zur Begründung u.a. aus:

"Ungeachtet des Umstands, dass der Antrag noch eine bestimmte Beweisbehauptung formuliert und ein bestimmtes Beweismittel bezeichnet, handelt es sich in der Sache um einen Beweisermittlungsantrag. Denn zureichende Anhaltspunkte für die als solche zunächst ausreichende Vermutung des Angeklagten bestehen nach dem Ergebnis der hierzu stattgefundenen Beweisaufnahme gerade nicht, so dass die Beweistatsache letztlich auf's Geratewohl behauptet wird."...

b) Die Behandlung des Antrages des Angeklagten als Beweisermittlungsantrag hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Dem Antragsteller kann es grundsätzlich nicht verwehrt sein, auch solche Tatsachen unter Beweis zu stellen, die er lediglich für möglich hält (vgl. BGHSt 21, 118 , 125; BGH NStZ 1993, 143 , 144 jeweils m.w.N.) oder nur vermutet (BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 2; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 244 Rdn. 20 jeweils m.w.N.). Einem Beweisbegehren, das - wie hier - in die Form eines Beweisantrags gekleidet ist, muss allerdings nicht oder allenfalls nach Maßgabe der Aufklärungspflicht nachgegangen werden, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung aufs Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellt wurde, sodass es sich in Wahrheit nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt (vgl. BGH NStZ 2003, 497; StV 2002, 233 m.w.N.). Dies ist jedoch nicht schon dann der Fall, wenn die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Beweisaufnahme ergeben hat (vgl. BGH NJW 1983, 126 , 127; StV 2002, 233). Ob es sich nach den vorgenannten Grundsätzen bei einem Beweisbegehren um einen Beweisermittlungsantrag handelt, ist vielmehr aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht infrage gestellten Tatsachen zu beurteilen (vgl. BGH NStZ 1989, 334 ; 2003, 497). Gemessen an diesen Grundsätzen liegt entgegen der Auffassung des Landgerichts kein Beweisermittlungsantrag sondern ein Beweisantrag vor, der - was nicht geschehen ist - nur aus einem der in § 244 Abs. 3 und 4 StPO genannten Ablehnungsgründe hätte zurückgewiesen werden dürfen.

Zwar ist der Angeklagte nach den bisherigen Feststellungen im Jahre 2003 und auch noch zu Beginn des Jahres 2004 bei seinen Bemühungen, den Amtsvormund des Tatopfers zu veranlassen, dieses aus dem Umfeld der Pflegefamilie herauszuholen (UA 9), ersichtlich davon ausgegangen, dass das Tatopfer zu den jeweiligen Zeitpunkten das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Aus der Sicht des Angeklagten haben sich aber in den gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren und im Verlauf der Hauptverhandlung tatsächliche Anhaltspunkte ergeben, die dafür sprechen können, dass das Tatopfer zu den jeweiligen Tatzeiten bereits das 14. Lebensjahr vollendet hatte:

Nach den Feststellungen ist die Familie des Tatopfers im Herbst 2001 aus Aserbaidschan nach Deutschland eingereist und hat Asyl beantragt, wobei allein der Vater des Tatopfers eine amtliche in kyrillischer Schrift ausgestellte Geburtsurkunde vorlegen konnte. Die von den deutschen Behörden nach der Einreise der Familie ausgestellten Personalpapiere und Personenstandsurkunden beruhen demgegenüber auf den Angaben der Familienmitglieder. Zwar besteht, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass Asylbewerber häufig falsche Angaben im Hinblick auf ihr Alter machen; es besteht aber auch kein Erfahrungssatz, dass solche Angaben stets zutreffen. Vielmehr kann, worauf die Revision zu Recht hinweist, u.a. im Hinblick auf das weiter gehende Aufenthaltsrecht von Kindern (vgl. § 34 AufenthG ) oder die Regelungen über den Bezug von Kindergeld durchaus ein Interesse bestehen, das wahre Alter gegenüber den für die Ausstellung der Personalpapiere und Personenstandsurkunden zuständigen Behörden zu verschleiern. Zudem hat die Pflegemutter des Tatopfers bekundet, ein Zahnarzt habe den "frühen vollständigen Zahnwechsel" bei dem Tatopfer hervorgehoben und ein weiterer Arzt habe erklärt, die Hände des Tatopfers seien abgearbeitet oder abgenutzt "wie die Hände einer 50-Jährigen". Auf der Grundlage dieser Tatsachen, auf die der Angeklagte zur Begründung seines Beweisantrages in Stichworten hingewiesen hat, ist die Beweisbehauptung, das Tatopfer sei zu den jeweiligen Tatzeitpunkten bereits 14 Jahre alt gewesen, aus der Sicht eines verständigen Antragstellers keine lediglich aufs Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellte Behauptung. Darauf, dass das Landgericht nach Würdigung des gesamten Beweisergebnisses keine Zweifel daran hat, dass das Tatopfer im Sommer 2003 erst 12 Jahre alt gewesen ist, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an (vgl. BGH StV 2002, 233).

2. Auf der danach rechtsfehlerhaften Ablehnung des Beweisantrages kann die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II 1 bis 7 der Urteilsgründe beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht, hätte es das beantragte Gutachten eines anthropologischen Sachverständigen eingeholt, zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass das Tatopfer zu den jeweiligen Tatzeiten möglicherweise bereits 14 Jahre alt gewesen ist, und den Angeklagten in Anwendung des Zweifelsgrundsatzes jeweils nur wegen eines - auch soweit es die Fälle des sexuellen Missbrauchs eines Kindes betrifft gemäß § 176 Abs. 6 StGB strafbaren - (untauglichen) Versuchs verurteilt hätte.

Die Aufhebung der Verurteilung in den vorgenannten Fällen nötigt zur Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe. Der Senat hebt ferner auch die im Fall II 8 verhängte Geldstrafe von 90 Tagessätzen auf, weil nicht auszuschließen ist, dass sich die Bemessung dieser Strafe an der Höhe der anderen Einzelstrafen orientiert hat.

3. Da sich der aufgezeigte Verfahrensfehler nur auf die Feststellungen zum Alter des Tatopfers ausgewirkt haben kann und die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen in den Fällen II 1 bis 7 der Urteilsgründe im Übrigen sachlich-rechtlicher Nachprüfung standhalten, können diese Feststellungen bestehen bleiben. Soweit sie dazu nicht in Widerspruch stehen, sind ergänzende Feststellungen möglich.

Vorinstanz: LG Hagen, vom 28.07.2005
Fundstellen
NStZ 2006, 405
StV 2006, 458