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BGH - Entscheidung vom 09.11.2006

4 StR 426/06

Normen:
StPO § 261

BGH, Beschluß vom 09.11.2006 - Aktenzeichen 4 StR 426/06

DRsp Nr. 2007/52

Aussage gegen Aussage bei Verhaltensauffälligkeiten und Behandlungsbedürftigkeit des Zeugen

1. In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welcher Aussage das Tatgericht Glauben schenkt, müssen alle Umstände, die die Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, in die Überlegungen des Tatrichters einbezogen werden.2. Dazu gehören auch Verhaltensauffälligkeiten und eine nach wie vor bestehende psychologische und psychiatrische Behandlungsbedürftigkeit des Tatopfers.

Normenkette:

StPO § 261 ;

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sein Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Nach den Feststellungen kam es in der Zeit ab Anfang 1997 bis Sommer 2001 insgesamt sechsmal jeweils in gleicher Weise zu sexuellen Handlungen zwischen dem Angeklagten und der am 30. Juni 1992 geborenen Nebenklägerin, der Stieftochter seines Bruders. Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten. Das Landgericht hat seine Überzeugung allein aufgrund der Angaben der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 14jährigen Nebenklägerin gewonnen, an deren Glaubwürdigkeit es keine Zweifel hat.

Die Beweiswürdigung leidet an durchgreifenden Darlegungsmängeln.

In einem Fall, in dem, wie hier, Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welcher Aussage das Tatgericht Glauben schenkt, müssen alle Umstände, die die Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, in die Überlegungen des Tatrichters einbezogen werden (st. Rspr., vgl. nur BGHR StPO § 261 , Beweiswürdigung 23). Diesen Grundsatz hat die Strafkammer zwar beachtet, sie hat allerdings gewichtige Umstände, die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin von Bedeutung gewesen sind, nur unzureichend erörtert.

Nach dem Inhalt des Urteils zeigte die Nebenklägerin ab Ende des Jahres 2001 zunehmend Verhaltensauffälligkeiten, die im Januar 2005 eine Einweisung in eine längere stationäre Behandlung erforderlich machten. Dort schilderte die Nebenklägerin im Juli 2005 einer Mitpatientin erstmals Einzelheiten der sexuellen Übergriffe des Angeklagten, was schließlich zur Anzeigeerstattung führte. Das Landgericht ist zu der Auffassung gelangt, dass die Verhaltensauffälligkeiten und die nach wie vor bestehende psychologische und psychiatrische Behandlungsbedürftigkeit der Nebenklägerin nicht gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage sprächen. Zur Begründung führt die Strafkammer lediglich aus, dass die Geschädigte die Taten "exakt" geschildert habe. In Anbetracht der geringen Differenziertheit der festgestellten Tatgeschehen vermag der Senat dieser Begründung keine Aussagekraft beizumessen. Um eine Relevanz der ersichtlich nicht unerheblichen psychischen Auffälligkeiten der Nebenklägerin für die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit nachprüfen zu können, hätte es vielmehr der Mitteilung der Art und des Schweregrads der Auffälligkeiten, insbesondere im Zeitraum der Aussageentstehung während des stationären Aufenthalts, sowie der Darlegung der Umstände der Offenbarung der Nebenklägerin gegenüber ihrer Mitpatientin bedurft. Zu alledem verhält sich das Urteil nicht.

Nicht ausreichend nachprüfbar ist darüber hinaus die Würdigung der Aussagen des Bruders und der Schwester des Angeklagten, die während des Tatzeitraums mit ihm in Hausgemeinschaft lebten. Den wesentlichen Inhalt dieser Aussagen teilt das Urteil nicht mit, so dass auch insoweit die Wertung der Strafkammer, diese - ihn möglicherweise entlastenden - Aussagen seien von der Sympathie zum Angeklagten getragen und "subjektiv gefärbt" gewesen, sie stünden deshalb der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin ebenfalls nicht entgegen, nicht überprüft werden kann.

In der vorliegenden Form erweist sich deshalb die Beweiswürdigung des Landgerichts als nicht tragfähig.

2. Soweit das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung lediglich formelhaft darauf verweist, "strafschärfend (sei) ... das gesamte Tatbild zu berücksichtigen", ohne einzelne straferschwerende Umstände anzuführen, begegnet dies ebenfalls rechtlichen Bedenken. Die Strafkammer hat das Tatbild nämlich maßgeblich auch zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, indem es die Intensität der sexuellen Übergriffe gerade nicht als besonders schwer bewertet hat. Der lediglich pauschale Hinweis auf das Tatbild ist hier deshalb schon nicht aussagekräftig (vgl. hierzu bereits BGH, Beschl. vom 5. Januar 2005 - 4 StR 518/04).

3. Den Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass ein aussagepsychologisches Gutachten zur Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin eingeholt worden ist. In Anbetracht des Umstandes, dass die Nebenklägerin bei den ersten Taten erst fünf bzw. sechs Jahre alt war und in psychischer Hinsicht behandlungsbedürftige Auffälligkeiten zeigt, hat die Hinzuziehung eines entsprechenden Sachverständigen hier auch nahe gelegen. Der neue Tatrichter wird deshalb, anders als im angefochtenen Urteil geschehen, Gelegenheit haben, sich mit dem Inhalt des Gutachtens auseinanderzusetzen.

Vorinstanz: LG Detmold, vom 12.06.2006