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BGH - Entscheidung vom 28.03.2006

4 StR 575/05

Normen:
StPO § 244 Abs. 2 § 267 Abs. 1

Fundstellen:
NStZ 2006, 511
NStZ-RR 2006, 300
StV 2007, 19

BGH, Beschluß vom 28.03.2006 - Aktenzeichen 4 StR 575/05

DRsp Nr. 2006/19091

Abweichen von einem Sachverständigengutachten

1. Zwar muss der Tatrichter nicht in jedem Fall, in dem er von dem Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen abweichen will, einen weiteren Sachverständigen hinzuziehen. Voraussetzung ist aber, dass er die für die abweichende Beurteilung erforderliche Sachkunde besitzt, selbst wenn er erst durch das Gutachten genügend sachkundig geworden ist, um die Beweisfrage beurteilen zu können. 2. Außerdem muss er die Ausführungen des Sachverständigen in nachprüfbarer Weise im Urteil wiedergeben, sich mit ihnen auseinandersetzen und seine abweichende Meinung begründen.

Normenkette:

StPO § 244 Abs. 2 § 267 Abs. 1 ;

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner auf den Strafausspruch beschränkten Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Aufklärungsrüge Erfolg.

Nach den Feststellungen war es in der seit 1982 bestehenden Ehe des Angeklagten mit dem späteren Tatopfer schon bald zu ernsten Schwierigkeiten gekommen, weil die dominante Ehefrau den Angeklagten von seinen Familienangehörigen und Bekannten isolierte, überzogene finanzielle Ansprüche - auch bezüglich der Versorgung ihrer Familie in Bulgarien - stellte und ihn betrog. Mitte der 90iger Jahre ging die Ehefrau - insbesondere unter Alkoholeinfluss - dazu über, den Angeklagten tätlich anzugreifen, ihn einzusperren und verschiedene entwürdigende sexuelle Praktiken von ihm zu verlangen. Zu einer Trennung war der Angeklagte auf Grund seiner asthenischen Persönlichkeit nicht in der Lage, zumal er seine Frau nach wie vor liebte. Auch am Tattag kam es aus nichtigem Anlass zu mehrstündigen verbalen und tätlichen Angriffen seitens der Ehefrau, denen der Angeklagte nicht ausweichen konnte, weil die Wohnungstür verschlossen war und er keinen eigenen Schlüssel besaß. Er wehrte sich noch nicht einmal, als sie vor ihm auf den Boden urinierte und von ihm verlangte, den Urin aufzulecken. Erst als sie ihm nach weiteren Beschimpfungen Sekt über den Kopf goss, wurde der Angeklagte "von der Gesamtsituation, von der permanenten bereits stundenlang anhaltenden Beschimpfung und der Erkenntnis, dass Valentina N. nicht nachließ, so überflutet, dass er an seiner ausweichenden und duldenden Verhaltensweise nicht mehr fest hielt" [UA 16] und seine Ehefrau erwürgte.

Das Landgericht hat die Tat wegen der einem "Affekt angenäherten Fassung des Angeklagten" [UA 28] als minder schweren Fall des Totschlags nach § 213 StGB gewertet; das Vorliegen eines Affekts, der eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB bedingt hätte, hat es dagegen - abweichend von dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen - verneint. Der Sachverständige, dessen Sachkunde vom Gericht nicht in Zweifel gezogen wurde, hat sich sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als auch bei seiner mündlichen Gutachtenerstattung eindeutig darauf festgelegt, dass sich die Tat des Angeklagten als Affekttat im klassischen Sinne [UA 24] darstelle. Dem ist das Landgericht auf Grund eigener Würdigung nicht gefolgt, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen. Dies beanstandet die Revision zu Recht.

Zwar muss der Tatrichter nicht in jedem Fall, in dem er von dem Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen abweichen will, einen weiteren Sachverständigen hinzuziehen. Voraussetzung ist aber, dass er die für die abweichende Beurteilung erforderliche Sachkunde besitzt, selbst wenn er erst durch das Gutachten genügend sachkundig geworden ist, um die Beweisfrage beurteilen zu können (vgl. BGH NStZ 2000, 437 ; vgl. auch Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 244 Rdn. 75 m.w.N.). Außerdem muss er die Ausführungen des Sachverständigen in nachprüfbarer Weise im Urteil wiedergeben, sich mit ihnen auseinandersetzen und seine abweichende Meinung begründen (vgl. BGH NStZ 1983, 377 ; 1994, 503 ; 2000, 550 f.). Die Ausführungen im angefochtenen Urteil, auf deren Grundlage eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung des Angeklagten bei der Tat verneint und lediglich eine einer solchen angenäherte Verfassung angenommen wird, belegen die erforderliche eigene Sachkunde des Tatrichters nicht, denn sie begegnen - worauf auch der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend hingewiesen hat - in wesentlichen Teilen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Dies gilt insbesondere für die Auffassung des Landgerichts, es fehle an einer spezifischen Tatvorgeschichte und Tatanlaufzeit, weil sich bei dem Angeklagten nicht über eine längere Zeit eine Affektverfassung aufgebaut habe, die sich letztlich in der Tat ein Ventil gesucht habe. Das Landgericht ist der Ansicht, der Angeklagte habe in den Phasen friedlichen Zusammenlebens den Affekt immer wieder abgebaut, indem er die durch die hysterischen und aggressiven Attacken seiner Ehefrau geprägten "schlechten Zeiten vergaß und verdrängte" [UA 25]. Ein solcher Affektabbau ist schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil der Angeklagte auf Grund des unberechenbaren Verhaltens seiner Ehefrau ständig mit neuen aggressiven Entgleisungen rechnen musste. Darüber hinaus hat das Landgericht in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt, dass sich die Haltung des Angeklagten in der letzten Zeit vor der Tat verändert hatte, indem dieser versuchte, sich auf unterschiedliche Weise den Attacken zu entziehen, und sogar polizeiliche Hilfe in Anspruch nahm [UA 12]; auch dies weist auf eine sich verschärfende Entwicklung in der Täter-Opfer-Beziehung hin.

Durchgreifende Bedenken bestehen vor allem gegen die Annahme des Landgerichts, es könne nicht von einem affekttypischen Missverhältnis zwischen Tat und Anlass ausgegangen werden. Tatauslösend war nach den Urteilsfeststellungen das Schütten von Sekt auf den Kopf des Angeklagten [UA 16], mithin eine Handlung, die im Verhältnis zu den Ereignissen, die sich am Tattag bis zu diesem Zeitpunkt zwischen den Eheleuten abgespielt hatten, eher als eine weniger gravierende Demütigung anzusehen ist.

Schließlich hat die Strafkammer bei ihrer Erwägung, es fehle an einer "relevanten Erinnerungslücke" [UA 26], nicht bedacht, dass auch eine nur auf das unmittelbare Tötungsgeschehen begrenzte Lücke Ausdruck eines affekttypischen Erinnerungsverlusts sein kann (vgl. BGH NStZ 1987, 503 , 504).

Aus alledem ergibt sich, dass die Urteilsausführungen eine eigene Sachkunde des Landgerichts zur Beurteilung der grundsätzlich von einem Sachverständigen zu beantwortenden Frage, ob beim Angeklagten zur Tatzeit ein Affekt vorgelegen hat, nicht belegen. Die Aufklärungspflicht hätte es daher geboten, einen weiteren Sachverständigen hinzuzuziehen, wenn die Strafkammer von der eindeutigen Festlegung des gehörten Sachverständigen abweichen wollte.

Der Senat kann nicht sicher ausschließen, dass sich dieser Rechtsfehler bei der Bemessung der an sich maßvollen Strafe zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat.

Vorinstanz: LG Essen, vom 15.08.2005
Fundstellen
NStZ 2006, 511
NStZ-RR 2006, 300
StV 2007, 19