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BVerwG - Entscheidung vom 02.06.2005

5 C 1.04

Normen:
SGB VIII § 89e

Fundstellen:
NJW 2005, 2794

BVerwG, Urteil vom 02.06.2005 - Aktenzeichen 5 C 1.04

DRsp Nr. 2005/11797

Andere Familie i.S. von § 89e SGB VIII ; Kostenerstattung bei Aufnahme Jugendlicher in Verwandtenpflege; Aufnahme eines Jugendlichen in Verwandtenpflege

»Eine Aufenthaltsbegründung in einer "anderen Familie" i.S. des § 89e SGB VIII setzt eine Jugendhilfemaßnahme nicht voraus, liegt aber mit Blick auf den institutionellen Charakter der in § 89e SGB VIII genannten Aufnahmeeinrichtungen nicht schon bei einer mit Rücksicht auf bestehende Familienbande erfolgten Aufnahme eines Kindes oder Jugendlichen in der Familie naher Verwandter vor, sondern setzt eine grundsätzlich auswahloffene Aufnahmefamilie voraus (wie BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2004 - BVerwG 5 C 39.03 -).«

Normenkette:

SGB VIII § 89e ;

Gründe:

I.

Die klagende Stadt K. begehrt vom Beklagten Kostenerstattung in Höhe von 173 711,57 DM für die Heimerziehung der am 13. März 1978 geborenen J.A. in der Zeit vom 22. Oktober bis 15. November 1993 und vom 1. Januar 1994 bis 30. September 1997 entstandene Jugendhilfeaufwendungen. Die Beteiligten streiten um die Frage, welche Anforderungen an die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in einer "anderen Familie" im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII zu stellen sind.

J.A., die zunächst mit ihren Eltern im Zuständigkeitsbereich der Klägerin gelebt hatte, zog nach der Trennung der Eltern zunächst im Herbst 1979 mit ihrer Mutter nach W. (im Zuständigkeitsbereich des Beklagten). Wegen unzureichender Versorgung durch die Mutter fand sie seit dem 2. November 1979 - zunächst vorübergehend - Aufnahme im Haushalt ihrer damals in B. (Niedersachsen) lebenden Großmutter. Mit Beschluss vom 22. November 1979 entzog das Amtsgericht W. der Mutter vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht und bestellte das Jugendamt des Beklagten zum Pfleger. Dieses bat mit Schreiben vom 26. November 1979 die Großmutter, ihr Enkelkind bis auf weiteres aufzunehmen. Am 27. November 1979 verzog die Mutter von J.A. nach E. (ebenfalls im Zuständigkeitsbereich des Beklagten gelegen; - an diesen Ort knüpft die Klägerin für ihren Kostenerstattungsanspruch an). Im November 1984 wurde die Großmutter - die im Juli 1983 mit Ehemann und Enkelkind in den Bereich der Klägerin gezogen war - zum Vormund bestellt. Dort erhielt J.A. zunächst von November 1983 bis Ende 1990 Sozialhilfe und ab 1991 Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege. Nach dem Tode der Großmutter kam sie zunächst vom 12. Juni 1991 bis zum 11. Oktober 1993 in einem Kinderhaus in Kö. unter, aus dem sie entwich. Vom 11. Oktober bis 15. November 1993 war sie in der Jugendschutzstelle des R.- Kreises und seit dem 16. November 1993 in einem Jugendwohnheim in Kö. untergebracht.

Der gegen den Beklagten als den Träger, in dessen Bereich die Jugendliche vor Aufnahme in die "andere Familie" den gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe (Aufenthalt vor Aufnahme in den großmütterlichen Haushalt: zusammen mit ihrer Mutter in E. im Bereich des Beklagten), gerichteten Klage auf Erstattung der in der Zeit vom 22. Oktober bis 15. November 1993 und vom 1. Januar 1994 bis 30. September 1997 entstandenen Jugendhilfeaufwendungen hat das Verwaltungsgericht stattgegeben und einen Erstattungsanspruch nach § 89e Abs. 1 SGB VIII bejaht. Auch Verwandtenpflegestellen seien von dieser Bestimmung erfasst; nicht erforderlich sei, dass in der anderen Familie Jugendhilfeleistungen erbracht würden. Das Oberverwaltungsgericht hingegen hat auf die Berufung des Beklagten die Klage abgewiesen und dies im Wesentlichen wie folgt begründet:

Der gewöhnliche Aufenthalt von J.A. vor Aufnahme in den Haushalt der Großmutter löse keine Kostenerstattungspflicht des Beklagten nach § 89e Abs. 1 SGB VIII aus, weil diese Aufnahme keinen gewöhnlichen Aufenthalt "in einer anderen Familie" im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII begründet habe. Zwar handele es sich um eine von der Herkunftsfamilie unterschiedene Gemeinschaft des Kindes oder Jugendlichen mit zumindest einer Bezugsperson außerhalb des Elternhauses, denn Großeltern gehörten nicht zur Herkunftsfamilie, aus der das Kind ursprünglich stamme. Der kostenerstattungsrechtliche Schutz gemäß § 89e Abs. 1 SGB VIII setze jedoch nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 17. Juli 2003 - 12 A 183/00 -) voraus, dass der Aufenthalt in einer "anderen Familie" unter Mitwirkung des Trägers der Jugendhilfe erfolgt sei. Der Schutzzweck der Norm gebiete insoweit eine teleologische Reduktion. Die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kleinkindes J.A. im Haushalt ihrer Großmutter in B. habe sich zwar unter Einschaltung des Beklagten vollzogen, doch sei dieser ausschließlich im Rahmen des Aufgabenbereichs "Vormundschaftswesen" tätig geworden und nicht etwa, um erzieherische und wirtschaftliche Einzelhilfen nach §§ 5, 6 JWG zu leisten.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 89e SGB VIII . Sie macht geltend, § 89e SGB VIII erfasse mit dem Begriff der "anderen Familie" auch die private Unterbringung bei Verwandten und eine Mitwirkung des Jugendhilfeträgers sei nicht erforderlich. An dem Urteil des Senats vom 25. Oktober 2004 - BVerwG 5 C 39.03 - könne nicht festgehalten werden.

Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

II.

Die Revision des Beklagten ist zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO ). Das Berufungsgericht hat zu Recht einen Kostenerstattungsanspruch auf der Grundlage des § 89e Abs. 1 SGB VIII verneint, weil dessen Voraussetzungen - wenn auch aus anderen als den in dem angefochtenen Urteil angeführten Gründen - nicht vorliegen. Der Senat hat in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 25. Oktober 2004 - BVerwG 5 C 39.03 - (NJW 2005, 1593) ausgeführt, dass und aus welchen Gründen eine Aufenthaltsbegründung in einer "anderen Familie" i.S. des § 89e SGB VIII eine Jugendhilfemaßnahme nicht voraussetzt, sie aber mit Blick auf den institutionellen Charakter der in § 89e SGB VIII genannten Aufnahmeeinrichtungen nicht schon bei einer mit Rücksicht auf bestehende Familienbande erfolgte Aufnahme eines Kindes oder Jugendlichen in der Familie naher Verwandter vorliegt, sondern eine grundsätzlich auswahloffene Aufnahmefamilie voraussetzt. Das Revisionsvorbringen der Klägerin gibt dem Senat keinen Anlass, diese Rechtsprechung zu ändern.

1. Die Klägerin kann sich für ihre Rechtsauffassung zur Auslegung des Rechtsbegriffs der "anderen Familie" in § 89e SGB VIII allerdings auf Entscheidungen der Zentralen Spruchstelle, DIV-Gutachten und Literatur stützen. Dies hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 25. Oktober 2004 berücksichtigt.

2. Gegenüber der vom Senat "unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik sowie von Sinn und Zweck der Regelung" des § 89e Abs. 1 SGB VIII (S. 7 des Urteils) gefundenen "institutionellen Lösung" macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, aus dem Gesetzeswortlaut und aus der Verknüpfung des Begriffs der "anderen Familie" mit dem Zweck der Erziehung oder Pflege ergebe sich kein Anhaltspunkt für darüber hinausgehende Anforderungen unter dem Gesichtspunkt einer "auswahloffenen Pflegefamilie"; die Konstituierung eines solchen Merkmals hätte eine eindeutige Regelung im Wortlaut der Bestimmung erfordert. Die Entstehungsgeschichte lasse nichts für das Erfordernis einer "auswahloffenen Pflegefamilie" erkennen, vielmehr sei es im Gesetzgebungsverfahren darum gegangen, den nach den früheren §§ 103 , 104 BSHG bestehenden Schutz der Anstalts- und Familienorte in das Achte Buch Sozialgesetzbuch zu übertragen. Das Kriterium der "Auswahloffenheit" werde auch der Begrifflichkeit der "anderen Familie" im System der Jugendhilfe nicht gerecht und bei einer umfassenden, insbesondere an den Bedürfnissen der Jugendhilfe orientierten Betrachtung spreche der Normzweck des § 89e SGB VIII gegen ein institutionelles Verständnis des Begriffs der "anderen Familie".

Die von der Klägerin hierzu angeführten Gesichtspunkte gehen nicht über die vom Senat bereits in seiner Entscheidung vom 25. Oktober 2004 berücksichtigten Erwägungen (S. 7 ff. des Urteils) hinaus. Demgegenüber greift insbesondere auch das Vorbringen der Klägerin nicht durch, mit der auf Initiative des Bundesrates (vgl. BTDrucks 12/2866 S. 35 f.) erfolgten Einfügung des Rechtsbegriffs der "anderen Familie" in die durch das Erste Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl I S. 239) zum "Schutz der Einrichtungsorte" eingefügte Aufzählung geschützter Aufenthalte habe der Gesetzgeber einen umfassenden, den früheren §§ 103 , 104 BSHG entsprechenden Schutz der Einrichtungs- und Familienorte erreichen wollen und hierzu setze sich die Senatsentscheidung in Widerspruch, da die Forderung einer "Auswahloffenheit" für die "andere Familie" sämtliche Verwandten-/Bekanntenpflegestellen aus dem Schutz herausnehme und dadurch eine erhebliche Einschränkung des Schutzes der Familienorte im Vergleich zu dem nach § 104 BSHG vermittelten Schutz bewirke. Die Auslegung des Senats begrenzt allerdings den Anwendungsbereich der Kostenerstattungsregelung. Zur Kostenerstattungsnorm des § 104 BSHG (F. vom 10. Januar 1991) hat der Senat in seinem Urteil vom 25. Oktober 2004 (S. 9 ff.) indes dargelegt, dass der der Regelung des § 89e SGB VIII zu Grunde liegende Gedanke des Schutzes der Einrichtungsorte und der Lastengleichheit dagegen spricht, dass der besondere kostenrechtliche Schutz der Pflegestellenorte auch die Fälle erfasse, in denen ohne örtliche Konzentration Kinder oder Jugendliche nur wegen bestehender verwandtschaftlich familiärer Bindung aufgenommen werden. Auch das Revisionsvorbringen ergibt keine Anhaltspunkte für evidente und unbillige Belastungen der Klägerin infolge eines Zuzuges von auswärtigen Kindern in Verwandtenpflegestellen, denen im Übrigen für einen Belastungsvergleich auch die entsprechenden Wegzugsdaten gegenüberzustellen wären. Unter dem Aspekt des Schutzes vor unbilligen Kostenbelastungen geben schließlich auch die Ausführungen der Revision zum Normzweck des § 89e SGB VIII dem Senat keinen Anlass, seine Ausführungen in dem Urteil vom 25. Oktober 2004 (S. 10 - 11) zu revidieren.

Die Klägerin macht hierzu im Wesentlichen geltend, die kostenerstattungsrechtlich zu schützende familienpflegerische Infrastruktur umfasse auch die Förderung der Aufnahmebereitschaft geeigneter Pflegefamilien aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis hilfebedürftiger Kinder durch intensive Öffentlichkeitsarbeit und Beratung und sei insofern nicht auf auswahloffene Familien beschränkt; die fachlich gebotene Förderung auch nicht auswahloffener Pflegepersonen dürfe nicht dadurch unterlaufen oder behindert werden, dass derartige Unterbringungen im Jugendamtsbereich zu einer möglicherweise auf Jahre hinaus gegebenen erheblichen Kostenbelastung führen könnten, und es dürfe nicht dazu kommen, dass Jugendhilfeträger aus Kostengründen eine Aufnahme im Verwandtenkreis entweder nicht in der gebotenen Weise förderten oder ihr sogar entgegenarbeiteten. Die mögliche Steuerungswirkung von Kostenerwägungen darf indes auf der Ebene der Wahrnehmung gesetzlich zugewiesener Aufgaben kein geeignetes Kriterium für die Gesetzesauslegung darstellen, für die von einen gesetzeskonformen Handeln der an Gesetz und Recht gebundenen vollziehenden Gewalt auszugehen ist. Davon abgesehen trifft das Problem eines - aus der Sicht der Klägerin wegen des damit verbundenen Kostenrisikos unerwünschten - Zuzuges bzw. entsprechend eines - unter Kostengesichtspunkten erwünschten - Wegzuges von Kindern in Verwandtenpflege alle Jugendhilfeträger in vergleichbarer Weise, ohne dass hier infrastrukturelle "Vorhalteleistungen" oder Angebote bestimmter Träger erkennbar wären, deren Aufrechterhaltung einen den institutionellen Pflegeformen vergleichbaren Kostenschutz unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der "Einrichtungsorte" gebieten könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO . Aufgrund von § 194 Abs. 5 i.V.m. § 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO in der Fassung des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20. Dezember 2001 (BGBl I S. 3987) ist die zuvor nach § 188 Satz 2 VwGO a.F. auch Erstattungsstreitigkeiten zwischen Sozialleistungsträgern erfassende Gerichtskostenfreiheit für das vorliegende, nach dem 1. Januar 2002 beim Bundesverwaltungsgericht anhängig gewordene Verfahren entfallen.

B e s c h l u s s

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 88 817,32 EUR festgesetzt.

Vorinstanz: OVG Nordrhein-Westfalen, vom 07.11.2003 - Vorinstanzaktenzeichen 12 A 1622/01
Vorinstanz: VG Köln, vom 15.02.2001 - Vorinstanzaktenzeichen K 10226/97
Fundstellen
NJW 2005, 2794