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BVerfG - Entscheidung vom 05.09.2005

1 BvR 1781/05

Fundstellen:
EuZW 2005, 767
NVwZ 2006, 79

BVerfG, Beschluss vom 05.09.2005 - Aktenzeichen 1 BvR 1781/05

DRsp Nr. 2006/7511

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Import von Textilwaren aus der Volksrepublik (VR) China.

I. Die Beschwerdeführerin ist ein Unternehmen der Textilbranche und produziert auch im Auftrag anderer Unternehmen Bekleidung unter verschiedenen Markennamen. Im April und Mai 2005 schloss sie mit mehreren in der VR China ansässigen Firmen Verträge über die Lieferung verschiedener Bekleidungswaren. Am 10. Juni 2005 haben die Europäische Gemeinschaft und die VR China in Gestalt eines Memorandum of Unterstanding (MoU) eine Vereinbarung über die Beschränkung der Einfuhr von bestimmten Textil- und Bekleidungserzeugnissen mit Ursprung in der VR China geschlossen. Auf dieser Grundlage hat die Europäische Kommission unter dem 8. Juli 2005 durch Verordnung (EG) Nr. 1084/2005 (ABl. EU Nr. L 177) mit Wirkung zum 12. Juli 2005 Gemeinschaftshöchstmengen für die Einfuhr dieser Erzeugnisse festgelegt. Nach Art. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 3030/93 des Rates vom 12. Oktober 1993 über die gemeinsame Einfuhrregelung für bestimmte Textilwaren mit Ursprung in Drittländern (ABl. EG Nr. L 275 S. 1), die durch die Verordnung (EG) Nr. 1084/2005 ergänzt wird, ist die Abfertigung zum freien Verkehr in der Gemeinschaft von Waren, für deren Einfuhr Höchstmengen gelten, von der Vorlage einer Einfuhrgenehmigung abhängig. Diese wird von den Behörden der Mitgliedstaaten erst erteilt, wenn die Kommission bestätigt hat, dass für die betreffenden Textilwarenkategorien noch Teilmengen der Gemeinschaftshöchstmenge vorhanden sind. Außerdem ist zwecks Erteilung einer Einfuhrgenehmigung nach Anhang III Art. 11 der Verordnung die Vorlage einer Ausfuhrlizenz erforderlich, welche die zuständigen Behörden der Lieferländer bis zur Erreichung der betreffenden Höchstmengen erteilen (System der doppelten Kontrolle). Für diejenigen Gruppen von Textilwaren aus der VR China, die durch Verordnung (EG) Nr. 1084/2005 dem System der doppelten Kontrolle unterstellt werden, gelten folgende Besonderheiten: Für Waren, die vor dem 11. Juni 2005 zur Einfuhr in die Gemeinschaft versandt wurden, gelten keine Höchstmengen. Die erforderlichen Einfuhrgenehmigungen werden automatisch und ohne Anwendung von Höchstmengen erteilt. Für Waren, die zwischen dem 11. Juni und dem 12. Juli 2005 versandt wurden, werden die entsprechenden Einfuhrgenehmigungen automatisch erteilt und können nicht mit der Begründung, dass die beantragte Menge nicht innerhalb der Höchstmengen verfügbar sei, abgelehnt werden.

Für nach dem 12. Juli 2005 eingeführte Waren gilt damit das Erfordernis einer Einfuhrgenehmigung, deren Erteilung davon abhängt, dass die festgelegten Gemeinschaftshöchstmengen noch nicht erreicht sind. Für Waren, die seit dem 20. Juli 2005 versandt wurden, ist zusätzlich eine Ausfuhrlizenz erforderlich.

Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) hat seine Einfuhrausschreibungen für Textilwaren und Bekleidung vom 26. November 2004 (BAnz Nr. 240 a vom 17.12.2004) unter Hinweis auf die EG-Verordnung Nr. 1084/2005 mit Wirkung zum 12. Juli 2005 geändert. In den Ausschreibungen heißt es, dass Einfuhren von Waren, die in der Zeit vom 12. Juli 2005 bis 19. Juli 2005 aus der VR China versandt wurden, der Anrechnung auf die zwischen der Europäischen Kommission und China vereinbarten Höchstmengen unterliegen und dass das BAFA die Einfuhrgenehmigungen in diesen Fällen erst erteilt, wenn die entsprechende Bestätigung der zur Verfügung stehenden Menge durch die Europäische Kommission vorliegt. Seien die beantragten Mengen nicht mehr verfügbar, erfolge die Bestätigung der Europäischen Kommission erst dann, wenn weitere Mengen, zum Beispiel im Falle des Rückflusses nicht genutzter Mengen, wieder zur Verfügung stünden.

Die chinesischen Lieferanten der Beschwerdeführerin haben nach dem 12. Juli 2005 begonnen, ihre Vertragsverpflichtungen aus den im April und Mai geschlossenen Verträgen zu erfüllen. Teilmengen der bestellten Waren sind bereits im Gemeinschaftsgebiet angekommen und zollrechtlich in den Zustand der vorübergehenden Verwahrung überführt worden. Auf die von der Beschwerdeführerin gestellten Anträge auf Erteilung einer Einfuhrgenehmigung führte das BAFA unter Hinweis auf die eingetretene Quotenerschöpfung aus, das Genehmigungsverfahren müsse zunächst ausgesetzt werden, da noch nicht absehbar sei, ob und welche weitergehenden Entscheidungen über eventuelle Quotenerhöhungen in Brüssel getroffen würden.

Die von der Beschwerdeführerin beantragte Abfertigung der Waren zum freien Verkehr war schon vorher vom Hauptzollamt Dortmund mit der Begründung abgelehnt worden, es sei keine Einfuhrgenehmigung vorgelegt worden. Über die von der Beschwerdeführerin gegen die Mitteilungen des BAFA eingelegten Widersprüche und den gegen die Entscheidung des Hauptzollamts eingelegten Einspruch ist noch nicht entschieden worden.

Die Beschwerdeführerin verfolgt mit ihrer Verfassungsbeschwerde das Ziel, die auf Grund der bereits bestehenden Verträge gelieferten und noch zu liefernden Waren aus der VR China einführen zu können. Zugleich hat sie einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie macht geltend, die auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1084/2005 erfolgte Änderung der Einfuhrausschreibungen verletze sie in ihrer wirtschaftlichen Handlungsfreiheit. Die getroffene Übergangsregelung hinsichtlich derjenigen Waren, die nach dem 12. Juli 2005 aus der VR China versandt wurden, unterscheide nicht zwischen Altverträgen, die vor In-Kraft-Treten der geänderten Einfuhrausschreibungen und der neuen EG-Verordnung geschlossen worden seien, und danach abgeschlossenen Neuverträgen. Die Regelung verstoße gegen das Rückwirkungsverbot. Es sei eine Vorabentscheidung des Bundesverfassungsgerichts geboten, da ihr - der Beschwerdeführerin - im Falle einer Verweisung auf den Rechtsweg ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstehen würde, weil es sich bei den Waren, deren Einfuhr begehrt werde, um Saisonartikel handele, die kurzfristig in der Bundesrepublik auf den Markt gebracht werden müssten und später nur noch zu einem Bruchteil ihres Verkaufspreises vermarktet werden könnten.

II. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, da sie unzulässig ist. Die in § 90 Abs. 2 BVerfGG normierten Voraussetzungen für eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind nicht erfüllt.

1. Die nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erforderliche Erschöpfung des Rechtswegs ist nicht gegeben.

Nach dem in dieser Vorschrift enthaltenen Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde muss ein Beschwerdeführer alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung durch die Fachgerichte zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 73, 322 [325]; 81, 22 [27]; 95, 163 [171] stRspr). Die Beschwerdeführerin hat aber, wie sie selbst vorträgt, ihr Begehren, die streitgegenständlichen Waren einführen zu dürfen, nicht vor den Fachgerichten verfolgt.

2. Auch die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG liegen nicht vor. Danach kann das Bundesverfassungsgericht über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs erhobene Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder ein schwerer und unabwendbarer Nachteil für den Beschwerdeführer entstünde, wenn er auf den Rechtsweg verwiesen würde.

a) Die Beschwerdeführerin hat nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass ihr durch die Verweisung auf den Rechtsweg ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstehen würde. Insbesondere ergibt sich aus ihrem Vortrag nicht, dass es ihr unzumutbar gewesen wäre, ihr Begehren im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes vor den Fachgerichten zu verfolgen.

Es ist nichts dafür ersichtlich, dass ein Nachsuchen um vorläufigen Rechtsschutz offensichtlich aussichtslos gewesen wäre. Dies gilt unabhängig davon, ob sich die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Bedenken hinsichtlich der auch für Altverträge unter Anrechnung auf die vorhandenen Gemeinschaftsmengen beizubringenden Einfuhrgenehmigungen auf das Gemeinschaftsrecht oder das nationale Recht beziehen. Denn die Prüfungskompetenzen der Fachgerichte erstrecken sich nicht nur auf die von der Beschwerdeführerin angegriffenen Regelungen des nationalen Rechts. Würden etwa die Fachgerichte anders als die Beschwerdeführerin nicht auf die Gültigkeit der Einfuhrausschreibungen, sondern auf die Anwendbarkeit und Gültigkeit der dieser Ausschreibung zugrunde liegenden EG-Verordnung Nr. 1084/2005 abstellen, würde das die Möglichkeit der Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes nicht ausschließen. Vielmehr stünde den Fachgerichten in diesem Fall die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH nach Art. 234 EGV und - damit einhergehend - eines vorübergehenden Nichtvollzugs der Verordnung offen. An der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sind die Fachgerichte also nicht nur dann nicht gehindert, wenn sie die Verfassungsmäßigkeit nationaler Rechtsnormen bezweifeln und gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG einholen müssen (vgl. BVerfGE 86, 382 [389]). Vielmehr steht auch die Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht dessen zeitweisem Nichtvollzug in einem Mitgliedstaat nicht zwingend entgegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. April 1995 - 2 BvR 760/95 -, EuZW 1995, 412 ; zur Befugnis der mitgliedstaatlichen Gerichte zum Erlass einer einstweiligen Anordnung in diesen Fällen vgl. EuGH , Urteil vom 9. November 1995, Rs C-465/93, Atlanta Fruchthandelsgesellschaft - Slg. 1995, S. I-3761).

b) Soweit die Beschwerdeführerin auf die allgemeine Bedeutung der Sache hinweist, kann dies für sich allein eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ohne vorherige Erschöpfung des Rechtswegs nicht gebieten, sondern stellt nur ein Kriterium bei der Abwägung für und wieder eine sofortige Sachentscheidung dar (vgl. BVerfGE 71, 305 [349]; 86, 382 [388]). Im Rahmen dieser Abwägung ist stets zu berücksichtigen, dass eine Vorabentscheidung nur ausnahmsweise ergehen soll und auf Fälle beschränkt ist, in denen die Erschöpfung des Rechtsweges auch im Hinblick auf den Zweck des Subsidiaritätsprinzips - eine vorherige Klärung der tatsächlichen und rechtlichen Fragen durch die Fachgerichte - nicht geboten ist.

Dafür, dass ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist hier nichts ersichtlich. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Entscheidungsspielräume, die sich für die Fachgerichte etwa in Bezug auf die Handhabung der Verordnung (EG) Nr. 1084/2005 eröffnen können. Sollten die Fachgerichte die Gültigkeit der Verordnung, auf deren Grundlage das BAFA seine Einfuhrausschreibungen geändert hat, für entscheidungserheblich halten, erscheint eine Vorlage an den EuGH nach Art. 234 EGV oder auch an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG denkbar. Letztere würde allerdings eine substantiierte Darlegung dazu erfordern, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken ist (vgl. BVerfGE 102, 147 ).

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

III. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstellen
EuZW 2005, 767
NVwZ 2006, 79