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BVerfG - Entscheidung vom 23.08.2005

1 BvR 276/05

Fundstellen:
BRAK-Mitt 2005, 275

BVerfG, Beschluss vom 23.08.2005 - Aktenzeichen 1 BvR 276/05

DRsp Nr. 2006/7499

Gründe:

I. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den auf Verletzung der Kanzleipflicht gestützten Widerruf der Zulassung des Beschwerdeführers zur Rechtsanwaltschaft.

1. a) Die Bundesrechtsanwaltsordnung (im Folgenden: BRAO ) bestimmt, dass der Rechtsanwalt an dem Ort des Gerichts, bei dem er zugelassen ist, eine Kanzlei errichten muss (§ 27 Abs. 1 Satz 1 BRAO ), sofern er nicht im Interesse der Rechtspflege oder zur Vermeidung von Härten ausnahmsweise von dieser Pflicht befreit wird (§ 29 Abs. 1 BRAO ).

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt ein Rechtsanwalt der ihm obliegenden Kanzleipflicht nur dann, wenn er über einen Raum verfügt, in dem er seinen Berufsgeschäften nachgehen kann und zu den üblichen Geschäftsstunden normalerweise erreichbar ist, dort zudem einen Telefonanschluss unterhält und der rechtsuchenden Öffentlichkeit zumindest durch ein Kanzleischild seinen Willen, eine Rechtsanwaltskanzlei zu betreiben, offenbart (vgl. BGHZ 38, 6 [11]; BGH, BRAK-Mitt. 1/1984, S. 36).

b) Nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BRAO kann die Zulassung bei einem Gericht widerrufen werden, wenn der Rechtsanwalt seine Kanzlei aufgibt, ohne von der Pflicht des § 27 BRAO befreit worden zu sein. Als zwingende Folge des Widerrufs der Zulassung bei einem Gericht bestimmt § 14 Abs. 2 Nr. 6 BRAO den Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft.

2. Der 1991 erstmals zur Rechtsanwaltschaft zugelassene Beschwerdeführer war seit 1999 bei dem Amtsgericht, bei den Landgerichten und dem Oberlandesgericht in M. zugelassen. Er war zunächst bis jedenfalls Ende Dezember 2000 als angestellter Rechtsanwalt einer Rechtsanwaltsgesellschaft mit Sitz in M. tätig. Danach sollte sich sein Angestelltenverhältnis in ein freies Mitarbeiterverhältnis umwandeln. Die Kanzleiräume sollten dem Beschwerdeführer weiterhin zur Verfügung stehen. Infolge von Streitigkeiten zwischen ihm und der Rechtsanwaltsgesellschaft wurde dem Beschwerdeführer jedoch der Zugang zu den Kanzleiräumen verweigert. Im Mai 2001 zeigte die Rechtsanwaltsgesellschaft der Rechtsanwaltskammer an, dass der Beschwerdeführer aus der Kanzlei ausgeschieden sei.

a) Die Rechtsanwaltkammer hat den Beschwerdeführer mehrmals - auch unter Hinweis auf die Kanzleipflicht - zur Aufklärung seiner Kanzleiverhältnisse aufgefordert. Die Kammer trägt vor, das vom Beschwerdeführer vorgelegte Antwortschreiben nicht erhalten zu haben.

Mit Bescheid vom 21. August 2001 widerrief die Rechtsanwaltskammer unter Hinweis auf § 35 Abs. 1 Nr. 5 und § 14 Abs. 2 Nr. 6 BRAO die Zulassung des Beschwerdeführers zur Rechtsanwaltschaft. Damit sei zugleich auch seine Zulassung bei den Amts- und Landgerichten sowie dem Oberlandesgericht erloschen. Er habe seine Kanzlei in M. aufgegeben, ohne von der Kanzleipflicht befreit worden zu sein (vgl. § 35 Abs. 1 Nr. 5 , §§ 27 , 29 BRAO ). Eine Mitteilung über die Änderung der Kanzleianschrift oder die Einrichtung einer neuen Kanzlei sei nicht erfolgt.

Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung machte der Beschwerdeführer geltend, noch bei der Rechtsanwaltsgesellschaft eine Kanzlei zu haben. Die gegenteilige Äußerung seiner Arbeitgeberin müsse auf einem Irrtum beruhen; "subsidiär und vorsorglich" unterhalte er seine Kanzlei in seinem Privathaus.

Der Bayerische Anwaltsgerichtshof wies den Antrag zurück. Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde blieb erfolglos. Der Bundesgerichtshof führte aus, der Beschwerdeführer sei bei der Rechtsanwaltsgesellschaft nicht mehr tätig, so dass er für das rechtsuchende Publikum dort nicht mehr erreichbar sei. Der Beschwerdeführer habe die Einrichtung einer Kanzlei in seiner Privatwohnung nicht glaubhaft gemacht. Voraussetzung für die Einrichtung einer Kanzlei seien bestimmte organisatorische Maßnahmen. So habe der Rechtsanwalt zumindest ein Praxisschild anzubringen und einen Telefonanschluss zu unterhalten; außerdem müsse er zu angemessenen Zeiten dem rechtsuchenden Publikum in den Praxisräumen für anwaltliche Dienste zur Verfügung stehen. Daran fehle es hier. Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht aus der Erklärung des Beschwerdeführers, er sei bereit, diese organisatorischen Maßnahmen zu treffen. Denn diese Bereitschaft habe er davon abhängig gemacht, dass die Rechtsanwaltskammer ihm die genannten Maßnahmen in rechtsmittelfähiger Weise auferlege.

b) Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere, dass er durch den Widerruf der Zulassung und die bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt werde.

Die Anwaltsgerichte hätten - ebenso wie die Rechtsanwaltskammer - die gesetzliche Systematik von § 35 Abs. 1 und § 14 Abs. 2 Nr. 6 BRAO nicht verstanden. Sie hätten deswegen unerörtert gelassen, aufgrund welcher Tatsachen sie zwingend von einem Widerruf der Zulassung bei den Gerichten ausgegangen seien. An keiner Stelle sei erkennbar geworden, dass sich die Kammer und nachfolgend die Anwaltsgerichte über die Notwendigkeit einer Ermessensausübung im Klaren gewesen seien. Die Widerrufsgründe des § 35 Abs. 1 BRAO seien fakultativ ausgestaltet; deshalb sei eine Abwägung widerstreitender Interessen notwendig.

Die rechtsfehlerhafte Anwendung und Auslegung des § 14 Abs. 2 Nr. 6 BRAO führe zu einer Verletzung der Berufsfreiheit. Ein Widerruf der Anwaltszulassung käme nur als "letztes Mittel" in Betracht. Es müsse der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden.

Die Gerichte hätten schließlich seine Beweisanträge ignoriert. So habe er die tatsächliche Bereitstellung eines Büros und der erforderlichen technischen Einrichtungen in seinem Privathaus unter Zeugenbeweis gestellt. Ein Kanzleischild habe er zwar nicht angebracht, ebenso wenig habe er sich als Rechtsanwalt im Telefonbuch eintragen lassen; er wolle als etablierter Wirtschaftsanwalt aber ohnehin keine Laufkundschaft. Insoweit sehe er in der Auferlegung publizierender Maßnahmen keinen rechten Sinn. Er halte die Kanzleipflicht in ihrer Grundsätzlichkeit nicht für verfassungskonform.

c) Zu der Verfassungsbeschwerde haben die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein und die Gegnerin des Ausgangsverfahrens Stellung genommen.

II. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG ). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

Die angefochtenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG .

1. Die gesetzliche Regelung über die Kanzleipflicht stellt eine verfassungsrechtlich zulässige Regelung der Berufsausübung dar (vgl. BVerfGE 65, 116 [125] - zur Residenzpflicht der Patentanwälte). Auch die Mindesterfordernisse, welche die Rechtsprechung in Auslegung der gesetzlichen Regelung zur Erfüllung der Kanzleipflicht entwickelt hat (vgl. BVerfGE 72, 26 [30 f.]), begegnen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

2. Bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts tragen die angegriffenen Entscheidungen allerdings der Bedeutung und Tragweite der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit nicht hinreichend Rechnung.

a) Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung darf nicht außer Acht bleiben, dass die gesetzliche Regelung der Kanzleipflicht zwar nur die Berufsausübung beschränkt, sich aber die Anwendung der Regelung in Verbindung mit der gesetzlich vorgesehenen Sanktion als Eingriff in die Berufswahl auswirken kann und insoweit strengeren verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen muss (vgl. BVerfGE 65, 116 [127]; 72, 26 [32]). Denn wenn die Rechtsanwaltskammer von der Möglichkeit zum Widerruf der Zulassung Gebrauch macht, verliert der Betroffene die Befugnis, die Berufsbezeichnung Rechtsanwalt zu führen (§ 17 BRAO ); seine Eintragung in die Liste der zugelassenen Rechtsanwälte, mit welcher die Befugnis zur Ausübung der Anwaltstätigkeit verbunden ist (§ 32 BRAO ), wird gelöscht (§ 36 BRAO ). Danach ist ihm eine geschäftsmäßige Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten grundsätzlich untersagt (Art. 1 § 1 RBerG ).

Diese schwerwiegenden Auswirkungen haben nicht zur Folge, dass bereits gegen die normative Regelung verfassungsrechtliche Bedenken bestünden. Denn diese enthält nicht nur die Möglichkeit einer Befreiung von der Kanzleipflicht. Vielmehr sieht sie auch davon ab, einen Widerruf der Zulassung bei Verletzung der Kanzleipflicht zwingend vorzuschreiben. Auf diese Weise trägt die Bundesrechtsanwaltsordnung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinreichend Rechnung. Das Gesetz überlässt es der Rechtsanwaltskammer, ihre Entscheidung von der Lage des Einzelfalls abhängig zu machen und den Widerruf der Zulassung auf Fälle zu beschränken, in denen dieser schwerwiegende Eingriff in die Freiheit der Berufswahl zum Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter zwingend erforderlich ist. Mit der Bedeutung des Grundrechts der Berufsfreiheit und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist es hingegen nicht vereinbar, die Regelung über den Zulassungswiderruf undifferenziert bei jedem Verstoß gegen die mit der Kanzleipflicht verbundenen Obliegenheiten anzuwenden (vgl. BVerfGE 72, 26 [32 f.]).

b) Der Beschwerdeführer ist der Behauptung der Rechtsanwaltskammer, er verfüge über keine Kanzleiräume, unter Beweisantritt entgegengetreten; der Beweis wurde nicht erhoben. Der Bundesgerichtshof stellte darauf ab, dass der Beschwerdeführer kein Praxisschild angebracht habe und keinen Telefonanschluss als Rechtsanwalt unterhalte. Der Beschwerdeführer habe damit versäumt, die organisatorischen Maßnahmen, aus denen sich die Errichtung einer Kanzlei in seiner Wohnung ergeben sollen, im Einzelnen darzulegen und glaubhaft zu machen. Zudem ist nicht festgestellt worden, dass der Beschwerdeführer sich beharrlich weigert, ein Praxisschild anzubringen, und sich nicht durch mildere anwaltsgerichtliche Maßnahmen (vgl. § 114 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BRAO ) von seiner Weigerung abbringen lassen würde. Der Beschwerdeführer macht selbst geltend, er wäre zur Anbringung eines Kanzleischildes und einem Telefonbucheintrag als Rechtsanwalt bereit gewesen, wenn die Rechtsanwaltskammer ihm einen rechtsmittelfähigen Bescheid erteilt hätte.

c) Bei dieser Sachlage stellt der angegriffene Widerruf der Zulassung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Freiheit der Berufswahl dar. Es ist schon nicht erkennbar, welche besonders wichtigen Gemeinwohlbelange derzeit einen solchen Eingriff erforderlich machen könnten. Im Ausgangsverfahren sind nur das Nichtanbringen eines Kanzleischildes und der fehlende Telefonbucheintrag als Rechtsanwalt beanstandet worden, also lediglich organisatorische Maßnahmen der Kanzleipflicht, mit deren Nichterfüllung sich im Allgemeinen ein Rechtsanwalt eher selbst schadet. In jedem Fall aber war die schwerwiegende Maßnahme des Zulassungswiderrufs deshalb unverhältnismäßig, weil mit den anwaltsgerichtlichen Maßnahmen nach § 114 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BRAO schonendere Mittel zur Verfügung standen, um die Anbringung des Kanzleischildes und den Telefonbucheintrag durchzusetzen. Da die Rechtsanwaltskammer vor Erschöpfung dieser Mittel von der Ermessensvorschrift des § 35 Abs. 1 BRAO Gebrauch machte, hat sie unter den gegebenen Umständen die Grenzen überschritten, die Art. 12 Abs. 1 GG ihrem Ermessen setzt.

3. Der den Widerruf der Anwaltszulassung bestätigende Beschluss des Bundesgerichtshofs ist deshalb gemäß § 93 c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, ohne dass es auf die weiter erhobenen Rügen noch ankommt. Die Sache ist an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen.

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG . Die Festsetzung der Gegenstandswerte ergibt sich aus § 37 Abs. 2 Satz 2 erster Halbsatz RVG (vgl. dazu BVerfGE 79, 365 [366 ff.]).

Vorinstanz: BGH, vom 02.12.2004 - Vorinstanzaktenzeichen AnwZ (B) 72/02
Vorinstanz: AnwGH Bayern I-28/01 - 25.9.2002,
Fundstellen
BRAK-Mitt 2005, 275