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BVerfG - Entscheidung vom 28.02.2005

1 BvR 615/97

Normen:
GG Art. 14 Abs. 1 Art. 3 Abs. 1
AVG § 25 Abs. 2 S. 2

BVerfG, Beschluß vom 28.02.2005 - Aktenzeichen 1 BvR 615/97

DRsp Nr. 2005/4998

Anspruch eines nicht versicherungspflichtigen Arbeitnehmers auf vorzeitiges Altersruhegeld

Die Regelung des § 25 Abs. 2 AVG in der Fassung des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung vom 22.12.1981, wonach ein vorzeitiges Altersruhegeld ab dem Erreichen des 60. Lebensjahres voraussetzt, dass der Versicherte in den letzten zehn Jahren vor dem Rentenbeginn mindestens acht Jahre einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen ist, stellt eine zulässige Ausgestaltung des Inhalts und der Schranken des Eigentums dar. Ein in der gesetzlichen Neuregelung liegen der Eingriff in nach altem Recht begründete Rechtspositionen ist durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt.

Normenkette:

GG Art. 14 Abs. 1 Art. 3 Abs. 1 ; AVG § 25 Abs. 2 S. 2 ;

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Beschränkung des Anspruchs auf vorzeitige Altersrente wegen Arbeitslosigkeit auf Pflichtversicherte durch das Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz von 1981.

I. 1. Durch das Gesetz zur Änderung des Angestelltenversicherungsgesetzes vom 7. März 1929 (RGBl I S. 75) konnten erstmals Angestellte nach einjähriger ununterbrochener Arbeitslosigkeit vorzeitig mit 60 Jahren in Rente gehen (§ 397 AVG ). Arbeitern wurde ein solcher Anspruch erst durch die Rentenreform 1957 eröffnet (§ 1248 Abs. 2 RVO i.d.F. vom 23. Februar 1957, BGBl I S. 45 [52 f.]). Die Voraussetzung einer einjährigen ununterbrochenen Arbeitslosigkeit wurde durch das Rentenreformgesetz 1972 vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S. 1965 [1972]) abgemildert. Nach § 25 Abs. 2 AVG in der ab 1. Januar 1973 geltenden Fassung war es nunmehr ausreichend, wenn der Versicherte zweiundfünfzig Wochen innerhalb der letzten eineinhalb Jahre arbeitslos gewesen war.

Als Reaktion auf eine zunehmende vorzeitige Verrentung von Versicherten entschloss sich der Gesetzgeber, das vorgezogene Altersruhegeld denjenigen Arbeitslosen vorzubehalten, die in den letzten zehn Jahren vor dem Rentenbeginn mit einer gewissen Regelmäßigkeit eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt haben (vgl. BTDrucks 9/846, S. 55). § 25 Abs. 2 Satz 2 AVG in der Fassung des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz - AFKG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I S. 1497 [1516]) verlangte nunmehr, dass der Versicherte in den letzten zehn Jahren vor dem Rentenbeginn mindestens acht Jahre eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit vorweisen könne. Die Neuregelung trat am 1. Januar 1982 in Kraft. Allerdings war § 25 Abs. 2 AVG in der bis 31. Dezember 1981 geltenden Fassung (im Folgenden: § 25 Abs. 2 AVG a.F.) für diejenigen Versicherten weiter anzuwenden, die spätestens am 1. Januar 1982 arbeitslos geworden waren oder deren Arbeitsverhältnis auf Grund einer spätestens am 2. September 1981 erfolgten Kündigung oder Vereinbarung beendet worden ist und die daran anschließend arbeitslos wurden. Das galt jedoch nur, wenn durch die Arbeitslosigkeit die Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 AVG a.F. erfüllt waren (Art. 23 § 7 a Abs. 4 des Angestellten-Neuregelungsgesetzes [AnVNG] i.d.F. des Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts [Haushaltsbegleitgesetz 1983; im Folgenden: HBeglG 1983] vom 20. Dezember 1982, BGBl I S. 1857 [1900]). Diese Übergangsregelung war rückwirkend zum 1. Januar 1982 in Kraft getreten (Art. 38 Abs. 5 HBeglG 1983).

Durch das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 - RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S. 2261 [2277]) wurde § 25 Abs. 2 AVG - inhaltlich unverändert - in das Sechste Buch Sozialgesetzbuch ( SGB VI ) als § 38 übernommen.

2. Der Beschwerdeführer ist am 18. Mai 1933 geboren. Nach Abschluss seines Studiums war er in der Zeit von April 1958 bis Juli 1963 als Diplom-Ingenieur versicherungspflichtig beschäftigt. Ab August 1963 war er wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfrei, zahlte jedoch weiterhin freiwillige Beiträge. Als er aufgrund der Aufhebung der Pflichtversicherungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung durch Art. 1 § 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Verwirklichung der mehrjährigen Finanzplanung des Bundes, II. Teil (Finanzänderungsgesetz 1967) vom 21. Dezember 1967 (BGBl I S. 1259 [1264]) erneut versicherungspflichtig wurde, machte er von der in Art. 2 § 1 AnVNG in der Fassung des Finanzänderungsgesetzes 1967 (BGBl I S. 1259 [1268]) eingeräumten Möglichkeit der Befreiung von der Versicherungspflicht Gebrauch. In der Folgezeit zahlte der Beschwerdeführer durchgehend bis Mai 1991 freiwillige Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung. Sein im April 1960 begründetes Arbeitsverhältnis wurde zum 31. Mai 1991 aufgelöst. Anschließend war der Beschwerdeführer arbeitslos gemeldet. Seinen Antrag vom November 1992 auf Gewährung einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit lehnte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ab, da er im einschlägigen Zehn-Jahres-Zeitraum von Juni 1983 bis Mai 1993 nicht die erforderlichen 96 Pflichtbeiträge aufweisen könne. Die dagegen eingelegten Rechtsbehelfe blieben ohne Erfolg. Die von dem Beschwerdeführer erhobene Nichtzulassungsbeschwerde verwarf das Bundessozialgericht als unzulässig. Seit dem 1. Juni 1996 bezieht der Beschwerdeführer eine Altersrente für langjährig Versicherte.

3. Der Beschwerdeführer hat am 7. April 1997 fristgerecht Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der er die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG , Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG ) sowie Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG ) rügt. Der Beschwerdeführer trägt unter anderem vor, dass ihm durch die gesetzliche Neuregelung seine der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unterliegende Anwartschaft auf das vorzeitige Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit ersatzlos entzogen worden sei. An die Rechtfertigung eines solchen Totalentzugs seien strengste Voraussetzungen zu stellen, für deren Vorliegen hier nichts erkennbar sei. Außerdem verstoße die gesetzliche Neuregelung gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG ). Zwar sei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Begünstigung der Pflichtversicherten gerechtfertigt, weil diese in der Regel nach Beitragszeit, Beitragsdichte und Beitragshöhe in wesentlich stärkerem Maße zur Versichertengemeinschaft beitragen und dabei ihren Verpflichtungen im Gegensatz zu den freiwillig Versicherten nicht ausweichen könnten. Diese allgemeinen Erwägungen könnten jedoch nicht den Totalentzug seiner Rentenanwartschaft rechtfertigen.

II. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht gemäß § 93 a Abs. 2 BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen. Sie hat - unbeschadet der Frage ihrer Zulässigkeit - keine Aussicht auf Erfolg. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung des § 38 Nr. 3 SGB VI verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten.

1. Es kann dahinstehen, ob und inwieweit der Beschwerdeführer vor der Gesetzesänderung von 1981 bereits eine unter dem Schutz der Eigentumsgarantie stehende Anwartschaft auf eine vorgezogene Altersrente wegen Arbeitslosigkeit erworben hatte. Jedenfalls hat der Gesetzgeber mit der zur Prüfung gestellten Regelung im Rahmen seiner Befugnis gehandelt, Inhalt und Schranken des Eigentums auszugestalten (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ). Insbesondere war der in der gesetzlichen Neuregelung liegende Eingriff in die nach altem Recht begründete Rechtsposition des Beschwerdeführers durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt (vgl. BVerfGE 58, 81 [121]).

a) Ziel der in Frage stehenden Gesetzesänderung war eine Beschränkung des Anspruchs auf vorgezogenes Altersruhegeld bei Arbeitslosigkeit auf diejenigen Versicherten, die auch am Ende ihres Erwerbslebens - und damit im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Eintritt der Arbeitslosigkeit - in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert waren (vgl. BTDrucks 9/846, S. 55). Dadurch erwartete der Gesetzgeber eine Stabilisierung der Finanzentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers wollte der Gesetzgeber mit der angegriffenen Neuregelung gerade nicht allein solche Personen von der vorzeitigen Rente ausschließen, die - wie Beamte oder Hausfrauen - vor ihrer Arbeitslosigkeit keiner abhängigen Beschäftigung nachgegangen waren. Vielmehr sollte der Gedanke der Solidarität der in der gesetzlichen Rentenversicherung Pflichtversicherten gestärkt werden, indem das Privileg der vorzeitigen Verrentung denjenigen Versicherten vorbehalten blieb, die der gesetzlichen Rentenversicherung nicht nur durch ihre Beitragszahlung eng verbunden waren, sondern sich ihren Verpflichtungen gegenüber der Versichertengemeinschaft - anders als freiwillig Versicherte - auch nicht entziehen konnten. Dies ist ein Regelungsziel, das im öffentlichen Interesse liegt (vgl. BVerfGE 75, 78 [98, 103]).

b) Eine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist auch im Hinblick auf die besondere Interessenlage des Beschwerdeführers nicht erkennbar. Er hatte vom Zeitpunkt der Gesetzesänderung Anfang 1983 bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Jahre 1993 hinreichend Zeit, sich auf die neue Rechtslage einzustellen und eventuell ergänzende Vorsorge für den Fall der Arbeitslosigkeit vor Erreichen der Regelaltersgrenze zu treffen. Als freiwillig Versichertem stand es ihm frei, die Beitragszahlungen an die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zu beenden und das dadurch frei werdende Einkommen für eine private Altersvorsorge zu verwenden. Zudem durfte der Gesetzgeber berücksichtigen, dass der Personenkreis der abhängig Beschäftigten, die sich - wie der Beschwerdeführer - nach dem Wegfall der Pflichtversicherungsgrenze von der Versicherungspflicht hatten befreien lassen, regelmäßig über eine befreiende Lebensversicherung (vgl. Art. 2 § 1 Satz 1 Buchstabe b AnVNG i.d.F. des Art. 2 § 2 des Finanzänderungsgesetzes 1967) und daher über eine anderweitige Absicherung verfügte. Anders als der Beschwerdeführer meint, führt die gesetzliche Neuregelung auch nicht zu einem "Totalentzug" seiner Rentenanwartschaft. In Bezug auf das "Risiko" Alter existiert nur ein Versicherungsfall und ein dementsprechender Anspruch auf Altersrente (vgl. auch BSG SozR 3-2600 § 89 Nr. 2). Die Rechtsposition des Beschwerdeführers in Bezug auf den Anspruch auf Altersrente wurde daher lediglich hinsichtlich des Renteneintrittsalters modifiziert, nicht jedoch entzogen.

2. Die aus der Neuregelung folgende Begünstigung der Pflichtversicherten ist gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG dadurch gerechtfertigt, dass diese - wie schon ausgeführt - in der Regel nach Beitragszeit, Beitragsdichte und Beitragshöhe in wesentlich stärkerem Maße zur Versichertengemeinschaft beitragen und dabei ihren Verpflichtungen im Gegensatz zu den freiwillig Versicherten nicht ausweichen können (vgl. BVerfGE 75, 78 [103]; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Januar 1994 - 1 BvR 10/93, SozVers 1994, S. 140 zu § 25 Abs. 2 AVG ).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: BSG, vom 03.03.1997 - Vorinstanzaktenzeichen 4 BA 209/96
Vorinstanz: LSG Bayern, vom 15.10.1996 - Vorinstanzaktenzeichen L 1 An 98/94
Vorinstanz: SG München, vom 16.06.1994 - Vorinstanzaktenzeichen S 16 An 626/93