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BGH - Entscheidung vom 20.04.2017

2 StR 346/16

Normen:
StGB § 176a
StPO § 261

Fundstellen:
StV 2018, 195

BGH, Beschluss vom 20.04.2017 - Aktenzeichen 2 StR 346/16

DRsp Nr. 2017/9069

Beweiswürdigung zum schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes; Besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände bei "Aussage gegen Aussage"

In Fällen, in denen "Aussage gegen Aussage" steht, ist eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Tatgericht erforderlich. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass es alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 11. April 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

2.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

StGB § 176a; StPO § 261 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und eine Kompensationsentscheidung getroffen. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es im September und November 2007 zu zwei sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf seine damals 11-jährige Halbschwester S. . An einem Samstagmorgen Anfang September 2007 legte sich der Angeklagte in der Wohnung der Familie S. neben seine Halbschwester ins Bett, streichelte sie sodann unter der Bekleidung an der Brust und unter der Schlafanzughose und drang mit einem Finger in ihre Scheide ein.

An einem Samstagabend im November 2007 legte sich der Angeklagte erneut zu der Nebenklägerin ins Bett und streichelte sie. Anschließend zog er sie auf seinen Körper und fing an, sie und sich auszuziehen, zuerst die Oberteile, anschließend die jeweiligen Hosen. Nachdem er das Geschlechtsteil der Geschädigten gestreichelt hatte, "drückte er ihre Schulter nach oben, nahm Hüfte und Po in die Hand und drückte diese herunter", um sein Geschlechtsteil in ihre Scheide einführen zu können. Sodann vollzog er den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss.

Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten auf die Angaben seiner Halbschwester gestützt.

II.

Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Dies zwingt zur Urteilsaufhebung. Auf die erhobenen Verfahrensrügen kommt es danach nicht mehr an.

1. In Fällen, in denen "Aussage gegen Aussage" steht, ist eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Tatgericht erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Februar 2014 - 1 StR 700/13; Senat, Urteil vom 6. April 2016 - 2 StR 408/15; Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16, StV 2017, 367 ). Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass es alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. Senat, Urteil vom 22. April 2015 - 2 StR 351/14). Hierbei sind Gewicht und Zusammenspiel der einzelnen Indizien in einer Gesamtschau zu bewerten (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Juli 2016 - 2 StR 59/16, NStZ-RR 2016, 382 ; Beschluss vom 4. April 2017 - 2 StR 409/16).

2. Den hiernach an die Beweiswürdigung zu stellenden besonderen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

a) Das Landgericht hat seine Überzeugung auf die Aussage der Nebenklägerin gestützt und ausgeführt, dass deren Angaben ein hohes Maß an Konstanz aufwiesen. Als Beleg hat es während des zweiten Tatgeschehens gefallene Äußerungen und Angaben zu von ihr getragenen Kleidungsstücken und dem Ankleiden des Angeklagten nach dem zweiten Übergriff angeführt und im Übrigen darauf verwiesen, dass das Verschweigen des zweiten Tatvorwurfs in der ersten polizeilichen Vernehmung kein Ausdruck von Inkonstanz, sondern Folge einer "bewussten Aussagezurückhaltung" gewesen sei. Ausführungen zu Angaben der Nebenklägerin zum eigentlichen Tatgeschehen in den verschiedenen Vernehmungen und Befragungen finden sich in den Urteilsgründen - abgesehen davon, dass das Landgericht Erinnerungslücken der Nebenklägerin auch hinsichtlich des eigentlichen Tatgeschehens erwähnt - nicht.

Die Urteilsgründe enthalten damit schon keine zusammenhängende Darstellung der verschiedenen Aussagen der Nebenklägerin mit den zugehörigen Details, die eine Überprüfung der Aussagequalität und -konstanz hinsichtlich des jeweiligen Kerngeschehens ermöglichen. Die Erläuterung der Strafkammer, warum die Nebenklägerin in ihrer ersten Vernehmung keine Angaben zum zweiten Tatvorwurf gemacht habe und insoweit keine Inkonstanz vorliege, vermag einen vollständigen Überblick über die eigentlichen Aussagen zu den Tatvorwürfen nicht zu ersetzen. Angaben zu wenig tatspezifischen Erlebniswahrnehmungen, etwa zu einer bestimmten Schlafkleidung, erlauben dem Revisionsgericht insoweit keine zuverlässigen Rückschlüsse. Ohne Kenntnis der jeweiligen Angaben in den verschiedenen Befragungen ist dem Senat die Prüfung der für die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben sprechenden Aussagekonstanz und der sachverständigen Einschätzung, es handele sich um eine "unter aussageinhaltlichen Aspekten erstaunlich gut qualifizierbare Beschreibung von angeblichen Ereignissen, denen eine gewisse Vielgestaltigkeit und Variationsbreite zukäme", verwehrt.

Dies gilt auch mit Blick auf von der Nebenklägerin für sich in Anspruch genommene Erinnerungslücken, die aus Sicht der Kammer für die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage sprechen sollen, vor allem, weil eine solche Lücke sich unmittelbar auf das Kerngeschehen des ersten Übergriffs bezog. Auch insoweit wäre unerlässlich gewesen darzulegen, wie sich die Angaben der Nebenklägerin hierzu im Verlaufe des Verfahrens entwickelt haben, und anschließend zu erörtern, warum die den ersten Übergriff betreffenden Angaben in der Hauptverhandlung - sie habe sich entweder aus einem Reflex auf den Rücken gedreht, eventuell habe der Angeklagte sie auch herumgedreht - sich insoweit als (bloße) Erinnerungslücke und nicht etwa als gegenüber vorangegangenen Vernehmungen abweichende Aussage darstellen.

b) Die Strafkammer hat sich mit der Frage auseinander gesetzt, ob die Angaben der Nebenklägerin dazu gedient hätten, gezielt (wahrheitswidrig) gegen den Angeklagten vorzugehen. Sie hat diese Frage nachvollziehbar verneint und auf den Umstand verwiesen, dass sie die Tatvorwürfe "nur auf Druck ihrer besten Freundin sowie später auf Vorhalte des Vaters hin eröffnet" habe. Das Landgericht hat sich weiter zwar mit der Möglichkeit befasst, dass die Nebenklägerin von einer anderen Person zu einer wahrheitswidrigen Behauptung gedrängt worden sein könnte. Es hat diese Möglichkeit ausgeschlossen, weil insoweit allein die Eltern der Zeugin in Betracht zu ziehen seien, das denkbare Belastungsmotiv, ein mit dem Angeklagten gemeinsam ins Auge gefasster, im Jahre 2011 gescheiterter Hauskauf, aber nicht die bereits in den Jahren 2008/2009 liegende Eröffnung eines Übergriffs durch den Angeklagten ihrer Freundin A. gegenüber erklären könne.

Mit der aufgrund der Entstehungsgeschichte der Angaben jedenfalls denkbaren Alternative, die Nebenklägerin könne jeweils in einer momentanen Drucksituation unzutreffende Angaben zu Lasten des Angeklagten gemacht haben, die eine für sie unangenehme Lage beendeten, hat sich das Landgericht hingegen nicht befasst. Dies wäre aber erforderlich gewesen. Die ersten Angaben ihrer Freundin gegenüber, die nach ihren eigenen Angaben "sehr beharrlich und nervig" sein kann, erfolgten nach mehrfachem Nachfragen, was mit ihr los sei. Sie fielen kurz und knapp aus und beinhalteten eine "Lügengeschichte", wonach der Angeklagte sie abends wohl betrunken gemacht, sich in der Nacht an ihr vergangen und sie morgens Spermaflecken und Blut in ihrer Boxershort bemerkt habe. Ihr späterer Erklärungsversuch für diese unzutreffenden Angaben, sie habe das wahre Geschehen nicht erzählen wollen, damit ihre Freundin nicht noch mehr "ausraste", hätte für die Strafkammer Anlass sein müssen, sich mit der Plausibilität der nachträglichen Begründung auseinander zu setzen; dass die erfundene Geschichte ohne Weiteres geeignet gewesen wäre, für weniger Aufregung bei der Freundin A. zu sorgen, liegt jedenfalls nicht auf der Hand. Dabei hätte die Strafkammer auch in den Blick nehmen müssen, dass Ausgangspunkt der Angaben der Nebenklägerin eine von der Freundin herbeigeführte "Befragung" war, die der Nebenklägerin ersichtlich wenig angenehm war und die sie auf beharrliches Nachfragen offenbar nur durch eine "Lügengeschichte" (dies nach ihren Angaben freilich als Ersatz für einen tatsächlich stattgefundenen Übergriff) beenden konnte, um endlich Ruhe zu haben.

Eine Erörterung hätte um so mehr nahe gelegen, als auch die Offenbarung ihren Eltern gegenüber nicht in einer freiwillig von ihr herbeigeführten Aussagesituation erfolgte, sondern eine Reaktion auf einen von ihrem Vater ihr gegenüber erhobenen Vorwurf war. Dessen Frage, warum sie anders als seine Söhne so "asozial" sei, ließ sie weinend davon rennen. Der ihr gefolgten Mutter erklärte die Nebenklägerin auf die Frage, was los sei, der eine (Sohn) zocke den ganzen Tag, der andere packe kleine Kinder an. Dass bei dieser Entstehung des den Angeklagten belastenden Vorwurfs - wie die vom Landgericht gehörte Sachverständige meint - keine Anhaltspunkte für ein "gezieltes Vorgehen der Zeugin, etwa um sich mit falschen Schuldzuweisungen an dem Halbbruder für eigenes Fehlverhalten zu rechtfertigen", gegeben seien, hätte jedenfalls weiterer Erläuterung bedurft. Der Umstand, dass die Aussage "plötzlich und ungeplant im Raum gestanden habe, ohne von außen angeregt worden zu sein", schließt insoweit nicht die sich aus der Streit- und Vorwurfssituation ergebende Möglichkeit aus, die Nebenklägerin habe darauf spontan reagiert, um sich mit Blick auf die ihr vorgeworfene "Asozialität" zu ent- und die ihr vom Vater als "Vorbilder" vorgehaltenen Brüder mit unzutreffenden Angaben zu belasten. Das Landgericht hätte sich mit dieser Möglichkeit auch vor dem Hintergrund beschäftigen müssen, dass die Nebenklägerin von Anfang an gegen eine Anzeigenerstattung gewesen ist. Ein möglicher Grund hierfür könnte nämlich auch gewesen sein, eine aus der Situation heraus entstandene Falschbelastung des Bruders nicht weiter verfolgen zu wollen.

Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung.

Vorinstanz: LG Kassel, vom 11.04.2016
Fundstellen
StV 2018, 195