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BAG - Entscheidung vom 22.04.2010

2 AZR 991/08

Normen:
KSchG § 1
BetrVG § 102 Abs. 1
KSchG § 1
BetrVG § 102 Abs. 1

Fundstellen:
ArbRB 2010, 366

BAG, Urteil vom 22.04.2010 - Aktenzeichen 2 AZR 991/08

DRsp Nr. 2010/20483

Anhörung des Betriebsrats vor betriebsbedingter Kündigung; Mitteilung alternativer Kündigungssachverhalte; Schutzzweck des § 102 Abs. 1 BetrVG

Orientierungssätze: 1. Hängt die Frage, ob der Arbeitgeber eine Änderungskündigung oder eine Beendigungskündigung aussprechen kann, allein davon ab, ob der Arbeitnehmer einem Betriebsübergang widerspricht oder nicht, so genügt der Arbeitgeber seiner nach § 102 BetrVG bestehenden Unterrichtungspflicht, wenn er dem Betriebsrat mitteilt, er wolle im Fall des Widerspruchs eine Beendigungskündigung und andernfalls eine Änderungskündigung aussprechen. 2. Es handelt sich bei einer solchen Lage nicht um eine unzulässige "Anhörung auf Vorrat".

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 24. Juli 2008 - 7 Sa 33/08 - aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

Normenkette:

KSchG § 1 ; BetrVG § 102 Abs. 1 ;

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, aus betrieblichen Gründen ausgesprochenen Kündigung.

Die Klägerin trat Anfang des Jahres 2000 in die Dienste der beklagten Lebensversicherung. Sie war zuletzt als Sachbearbeiterin in der Abteilung Organisationsservice/Vertrieb tätig und Mitglied des dort gebildeten Betriebsrats. Im Frühjahr 2006 kam es zu einer umfangreichen Neuordnung innerhalb der Unternehmensgruppe, der die Beklagte angehört.

Mit Schreiben vom 24. April 2007 teilte die Beklagte der Klägerin mit, die Hauptverwaltungen im Bereich "Leben" würden am Standort K der H Leben Betriebsservice GmbH gebündelt. Die Vertriebsaktivitäten "Freie Vermittler" und die zentralen Vertriebsfunktionen würden in der H Leben Vertriebsservice AG zusammengeführt. Deshalb erhalte die Klägerin ein Vertragsangebot zur Weiterbeschäftigung am Standort K und zur damit verbundenen Übernahme ihres Arbeitsverhältnisses durch die H Leben Vertriebsservice AG. Mit Schreiben vom 21. Mai 2007 widersprach die Klägerin dem angezeigten Betriebsübergang.

Mit Schreiben vom 14. Mai 2007, dem Betriebsratsvorsitzenden am 21. Mai 2007 übergeben, hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat an. In dem Schreiben heißt es ua.:

"... im Zuge der beabsichtigten Zusammenführung der Betriebs- und Zentralfunktionen bzw. der Vertriebsfunktionen ... beabsichtigen wir, [der Klägerin] die ordentliche, betriebsbedingte Änderungskündigung ihres durch Betriebsteilübergang auf die H übergegangenen Arbeitsverhältnisses ... unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist von 3 Monaten zum Quartalsende mit Wirkung zum 31.12.2007 ... auszusprechen. Sollte [die Klägerin] dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die H noch im Laufe der Widerspruchsfrist wirksam widersprechen, werden wir statt der Änderungs- eine Beendigungskündigung aussprechen müssen, ... . Zu diesen Kündigungen hören wir Sie hiermit an.

...

2.2 ... Ein Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses liegt bisher nicht vor, jedoch hat [die Klägerin] noch die Möglichkeit zum Widerspruch, da die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen ist. Ob ein Widerspruch erfolgen wird, ist derzeit noch nicht absehbar.

...

2.3 Das weitere Vorgehen bestimmt sich daher in Abhängigkeit davon, ob ein Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses infolge des Betriebsteilüberganges erfolgt oder nicht, wie folgt:

..."

Am 24. Mai 2007 widersprach der Betriebsrat der beabsichtigten Kündigung. Am 30. Mai 2007 zeigte die Beklagte gegenüber der Agentur für Arbeit die geplanten Massenentlassungen an.

Mit Schreiben vom 5. Juni 2007 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 31. Dezember 2007.

Die Klägerin ist der Auffassung, die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt, da es noch über den 31. Dezember 2007 hinaus Beschäftigungsmöglichkeiten bei der Beklagten für sie gebe. Der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß angehört worden, weil die Beklagte im Rahmen des Anhörungsverfahrens offengelassen habe, ob sie im Ergebnis eine Änderungs- oder eine Beendigungskündigung aussprechen werde.

Die Klägerin hat - soweit noch von Interesse - beantragt

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die mit Schreiben vom 5. Juni 2007 erklärte Kündigung der Beklagten nicht aufgelöst ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Kündigung sei aus betrieblichen Gründen sozial gerechtfertigt. Die Anhörung des Betriebsrats sei nicht zu beanstanden.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr, soweit noch rechtshängig, stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte, die erstinstanzliche Entscheidung wiederherzustellen.

Entscheidungsgründe:

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Anders als dieses angenommen hat, ist die Kündigung nicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam (I.). Ob sie sozial gerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG ist, steht noch nicht fest (II.).

I. Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung anzuhören. Nach Satz 3 der Norm ist eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung unwirksam.

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist eine Kündigung nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG nicht nur dann unwirksam, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Betriebsrat überhaupt zu beteiligen, sondern auch dann, wenn er ihn nicht richtig beteiligt hat, vor allem seiner Unterrichtungspflicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht ausreichend nachgekommen ist. An die Mitteilungspflicht im Anhörungsverfahren sind allerdings nicht die selben Anforderungen zu stellen wie an die Darlegungen des Arbeitgebers im Prozess. Es gilt der Grundsatz der "subjektiven Determinierung". Der Betriebsrat ist immer dann ordnungsgemäß angehört worden, wenn ihm der Arbeitgeber die aus seiner Sicht tragenden Umstände unterbreitet hat. Der für die Kündigung maßgebende Sachverhalt muss so genau und umfassend beschrieben werden, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen in der Lage ist, selbst die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu prüfen und sich ein Bild zu machen (Senat 13. Mai 2004 - 2 AZR 329/03 - zu II 4 a der Gründe, BAGE 110, 331 , 334; 17. Februar 2000 - 2 AZR 913/98 - zu 2 a der Gründe, BAGE 93, 366, 369 f.).

2. Wie das Landesarbeitsgericht im Ansatz zu Recht erkannt hat, widerspricht es dem Sinn und Zweck des Anhörungsverfahrens, dieses zu einem Zeitpunkt einzuleiten, in dem der Arbeitgeber seine Kündigungsabsicht noch nicht verwirklichen will oder kann. Die Anhörung des Betriebsrats erfolgt dann vorzeitig, nämlich in einer Phase, in der die Kündigungsüberlegungen noch unter dem Vorbehalt der weiteren Entwicklung stehen (Senat 27. November 2003 - 2 AZR 654/02 - zu B I der Gründe, AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 136 = EzA BetrVG 2001 § 102 Nr. 6 - sog. Vorratsanhörung). Eine solche Konstellation liegt beispielsweise vor, wenn der Arbeitgeber den Betriebsrat zu einer Kündigung anhört, deren Ausspruch noch von einer Einigung über einen Interessenausgleich und Sozialplan abhängt (Senat 27. November 2003 - 2 AZR 654/02 - zu B II 2 b der Gründe, aaO.). Gleiches gilt, wenn die Betriebsratsanhörung zu einer Kündigung erfolgt, für die ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund (etwa unentschuldigtes Fehlen) noch gar nicht vorliegt, sondern nur erwartet wird. In solchen Fällen kann der Betriebsrat nicht zu einem bestimmten Kündigungssachverhalt Stellung nehmen, sondern sich nur - gleichsam gutachterlich - zu einem teilweise fiktiven Sachverhalt äußern (BAG 19. Januar 1983 - 7 AZR 514/80 - zu I 2 c bb der Gründe, AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 28 = EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 50; so auch LAG Schleswig-Holstein 28. Juni 1994 - 1 Sa 137/94 - zu II der Gründe, LAGE BetrVG 1972 § 102 Nr. 42 bezüglich einer Anhörung zu einer Kündigung in Abhängigkeit von einer Entschuldigung des Arbeitnehmers wegen eines Fehlverhaltens).

3. Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Anhörung des Betriebsrats nicht zu beanstanden.

a) Im Streitfall stand der Kündigungssachverhalt für beide Alternativen bereits fest. Im Unterschied zu den genannten Fällen sollte jedenfalls eine der beiden Kündigungen auf jeden Fall ausgesprochen werden. Der Entschluss der Beklagten, das Arbeitsverhältnis in seiner bisherigen Form nicht mehr fortzusetzen, stand unter keinerlei Vorbehalt. Die Lage war vergleichbar der bei einer Änderungskündigung: Die bisherige Beschäftigungsmöglichkeit war entfallen. Ob eine Beschäftigung zu anderen Bedingungen in Betracht käme, hing allein vom Willen der Arbeitnehmerin ab.

b) Unter diesen Umständen widerspricht die Anhörung vom 14. Mai 2007 nicht dem Schutzzweck von § 102 Abs. 1 BetrVG . Die Anhörung soll dem Betriebsrat die Möglichkeit eröffnen, in sachgerechter Weise Bedenken gegen die beabsichtigte Kündigung zu erheben, § 102 Abs. 2 Sätze 1 u. 3 BetrVG , und im Fall einer ordentlichen Kündigung Widerspruch einzulegen, § 102 Abs. 3 BetrVG . Dazu bedarf es einer abgeschlossenen Willensbildung des Arbeitgebers. Diese lag hier vor. Damit war der Betriebsrat in der Lage, sich in sachgerechter Weise zum Kündigungssachverhalt zu äußern. Es waren ihm sämtliche die Entscheidung des Arbeitgebers zur Kündigung beeinflussende Informationen zur Verfügung gestellt worden. Der Betriebsrat konnte sich ohne zusätzliche eigene Nachforschungen selbst ein Bild machen und die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe, dh. Betriebsteilübergang und Stilllegung des Rest-Betriebs, prüfen.

c) Auf derselben Linie liegt die Rechtsprechung des Senats zur Betriebsratsanhörung bei Kündigungen, die der Zustimmung des Integrationsamts oder der zuständigen Behörde im Bereich Mutterschutz/Elternzeit bedürfen. Auch hier kann die Anhörung des Betriebsrats vor der Durchführung eines solchen Zustimmungsverfahrens erfolgen. Verfolgt der Arbeitgeber nach bereits abgeschlossener Anhörung seine ursprünglich gefasste Kündigungsabsicht weiter und hat sich der Sachverhalt nicht geändert, so muss der Arbeitgeber nach der Erteilung der Zustimmung den Betriebsrat nicht erneut anhören (Senat 11. März 1998 - 2 AZR 401/97 - zu II 2 der Gründe; 18. Mai 1994 - 2 AZR 626/93 - zu B II 2 a der Gründe, AP BPersVG § 108 Nr. 3 = EzA BGB § 611 Abmahnung Nr. 31; BAG 1. April 1981 - 7 AZR 1003/78 - zu II 1 der Gründe, BAGE 35, 190). In dieser Konstellation hat die Zustimmung des Integrationsamts/der zuständigen Behörde keinen inhaltlichen Einfluss auf die Kündigungsentscheidung des Arbeitgebers, so dass der Betriebsrat entsprechend dem Schutzzweck des § 102 Abs. 1 BetrVG auch ohne Kenntnis der Entscheidung des Integrationsamts/der Behörde zur Kündigungsabsicht Stellung nehmen kann.

d) Die Zulässigkeit der Anhörung unter einer Rechtsbedingung ist ebenfalls anerkannt. So kann der Betriebsrat zu einer vorsorglichen weiteren Kündigung angehört werden, die für den Fall der Rechtsunwirksamkeit der früheren Kündigung erklärt wird. Dies darf zu einem Zeitpunkt geschehen, in dem die Wirksamkeit der ersten Kündigung noch nicht abschließend festgestellt ist.

e) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts liegt in der Ausübung des Widerspruchs durch die Klägerin keine wesentliche Änderung der Umstände, die eine erneute Anhörung des Betriebsrats erforderlich gemacht hätte (so Senat 26. Mai 1977 - 2 AZR 201/76 - zu I 2 b der Gründe, AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 14 = EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 30). Wie die Beklagte auf diese Entscheidung der Klägerin reagieren würde, hatte sie dem Betriebsrat gerade - ohne sich eine Alternative vorzubehalten - mitgeteilt.

f) Auch die Wochenfrist zur Stellungnahme wurde nicht in unzumutbarer Weise abgekürzt. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Beklagten, dh. eine gezielte Beeinträchtigung des Betriebsrats mit einem in der Kürze der Zeit nicht zu erfassenden Kündigungssachverhalt unter Übergehung seiner Beteiligungsrechte kann hier schon deshalb nicht angenommen werden, weil der Kündigungssachverhalt für beide Alternativen nahezu identisch ist (Betriebsteilübergang und Stilllegung des Betriebs in H).

II. Ob die Kündigung - wie von der Beklagten geltend gemacht - durch dringende betriebliche Erfordernisse iSd. § 1 Abs. 2 , Abs. 3 KSchG gerechtfertigt ist, steht noch nicht fest. Das Landesarbeitsgericht hat dazu keine Feststellungen getroffen, die eine Sachentscheidung ermöglichen würden, § 72 Abs. 5 ArbGG , § 563 Abs. 3 ZPO . Dies wird es nachzuholen haben.

Hinweise:

Anmerkung: Krieger, ArbR 2010, 504

Vorinstanz: LAG Hamburg, vom 24.07.2008 - Vorinstanzaktenzeichen 7 Sa 33/08
Vorinstanz: ArbG Hamburg, vom 01.10.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 29 Ca 135/07
Fundstellen
ArbRB 2010, 366