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BVerfG - Entscheidung vom 12.05.2006

1 BvR 254/06

Normen:
GG Art. 6 Abs. 1
ZPO § 148
HausratsVO § 1 Abs. 1 § 2 § 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1

Fundstellen:
FamRZ 2006, 1596
NJW-RR 2007, 721
NZM 2007, 479

BVerfG, Beschluss vom 12.05.2006 - Aktenzeichen 1 BvR 254/06

DRsp Nr. 2007/10845

Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Entscheidung in einem Räumungsprozess unter Berücksichtigung des Schutzes des familiären Zusammenlebens

1. Der Schutz des familiären Zusammenlebens gem. Art. 6 Abs. 1 GG hat durch den Gesetzgeber in der Hausratsverordnung eine Konkretisierung erfahren, nach der die Möglichkeit eröffnet ist, die eheliche Wohnung unter Berücksichtigung der Interessen von Eltern und Kind zuzuweisen. Diese Belange haben die Gerichte auch in einem von dem Vermieter betriebenen Räumungsverfahren zu berücksichtigen.2. Die Beschränkung der Rechte des Vermieters findet ihre Rechtfertigung darin, dass die Wohnung vertragsgemäß einer Familie als Lebensmittelpunkt gedient hat und der Ehegatte, der Vertragspartner war, auch über die Scheidung hinaus dem anderen Ehegatten und insbesondere seinen Kindern zur Rücksichtnahme verpflichtet ist.

Normenkette:

GG Art. 6 Abs. 1 ; ZPO § 148 ; HausratsVO § 1 Abs. 1 § 2 § 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 ;

Gründe:

I. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Verurteilung zur Räumung der (Ehe-)Wohnung.

1. Die Beschwerdeführerin zog 1988 in die von ihrem späteren Ehemann gemietete Wohnung ein, ohne in das Mietverhältnis selbst einzutreten. 1989 erfolgte die Eheschließung. Aus der Ehe ging der 1990 geborene Sohn hervor. Im Jahre 2003 verließ der Ehemann der Beschwerdeführerin die Wohnung wegen Pflegebedürftigkeit. Zwischen den Eheleuten schwebt seit Dezember 2003 ein Scheidungsverfahren. Die Beschwerdeführerin hat die Zuweisung der Ehewohnung beantragt. Nach ihrem Vortrag lebt die Beschwerdeführerin mit dem Sohn bis heute in der Wohnung.

Im Juli 2004 schloss die Klägerin des Ausgangsverfahrens als Vermieterin der ehelichen Wohnung mit dem Ehemann der Beschwerdeführerin, vertreten durch seinen Betreuer, eine Mietaufhebungsvereinbarung und klagte gegen die Beschwerdeführerin auf Räumung.

Mit Urteil vom 11. Januar 2005 verurteilte das Amtsgericht Hamburg-Barmbek die Beschwerdeführerin zur Räumung. Die Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Familiengerichts im Zuweisungsstreit lehnte es ab. Die Vorschriften der Hausratsverordnung seien unanwendbar. Der Ehemann der Beschwerdeführerin wolle die Wohnung nicht mehr nutzen.

Die hiergegen von der Beschwerdeführerin eingelegte Berufung wies das Landgericht Hamburg mit Urteil vom 11. November 2005 unter Einräumung einer Räumungsfrist bis zum 28. Februar 2006 zurück. Anders als das Amtsgericht hat das Landgericht die Anwendbarkeit der Hausratsverordnung nicht ausgeschlossen. § 5 Hausratsverordnung sei - zumindest in analoger Anwendung - anwendbar, wenn der Ehegatte, der die Ehewohnung allein angemietet habe, den Mietvertrag bereits gekündigt oder im Zusammenwirken mit dem Vermieter aufgehoben habe. Ein Zuwarten sei der Klägerin des Ausgangsverfahrens aber unter anderem auf Grund verspäteter Zahlungen der Beschwerdeführerin nicht weiter zumutbar.

Die gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg erhobene Gehörsrüge der Beschwerdeführerin vom 29. November 2005 wies das Landgericht Hamburg mit Beschluss vom 23. Dezember 2005 zurück.

Mit Beschluss vom 5. Januar 2006 verkürzte das Landgericht die Räumungsfrist "bis zum heutigen Tage (5. Januar 2006)".

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde greift die Beschwerdeführerin die Urteile des Amtsgerichts Hamburg-Barmbek vom 11. Januar 2005 und des Landgerichts Hamburg vom 11. November 2005 mit der Rüge an, die Zivilgerichte hätten den aus Art. 6 Abs. 1 GG folgenden Schutz der (Rest-)Familie nicht hinreichend beachtet, weil sie ihr Verfahren nicht bis zur endgültigen Entscheidung über die Zuweisung der Ehewohnung ausgesetzt hätten. Die nach der Hausratsverordnung vorzunehmende Interessenabwägung würde damit umgangen. Die Ehewohnung habe ihrer Familie rund 15 Jahre vertragsgemäß als Lebensmittelpunkt gedient. Dies sei auch nach dem Auszug des Ehemannes der Fall. Die Beschwerdeführerin greift darüber hinaus die Beschlüsse des Landgerichts zur Zurückweisung der Gehörsrüge sowie zur Verkürzung der Räumungsfrist an. Sie rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4, Art. 13 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1 und Abs. 4 , Art. 20 Abs. 3 sowie Art. 103 Abs. 1 GG .

Mit Schreiben vom 10. Februar 2006 hat die Beschwerdeführerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten beantragt.

3. Mit Beschluss vom 16. Februar 2006 hat das Bundesverfassungsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung die gegen die Beschwerdeführerin gerichtete Zwangsvollstreckung auf Räumung der Wohnung für die Dauer des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt.

4. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens und der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

II. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 1 GG angezeigt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG ).

1. Die angefochtenen Urteile verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG . Sie haben den Schutz verkannt, der dem familiären Zusammenleben nach Art. 6 Abs. 1 GG zukommt. Dieser Schutz hat durch den Gesetzgeber in der Hausratsverordnung eine Konkretisierung erfahren, nach der die Möglichkeit eröffnet ist, die eheliche Wohnung unter Berücksichtigung der Interessen von Eltern und Kind zuzuweisen. Indem die Gerichte in ihren Entscheidungen die Aussetzung des Räumungsverfahrens bis zur Entscheidung über die Zuweisung der ehelichen Wohnung nach der Hausratsverordnung abgelehnt und selbst die familiären Interessen, insbesondere auch die des Kindes, nicht berücksichtigt haben, haben sie der Beschwerdeführerin den ihr aus Art. 6 Abs. 1 GG zukommenden Schutz verwehrt.

a) Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie als Gemeinschaft von Eltern mit Kindern. Hierzu gehört der gesamte Bereich der tatsächlichen Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern. Lebt das Kind mit beiden Eltern zusammen, bilden sie gemeinsam eine Familie. Ist dies nicht der Fall, tragen aber beide Eltern tatsächlich Verantwortung für das Kind, hat dieses zwei Familien, die von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sind: die mit der Mutter und die mit dem Vater (vgl. BVerfGE 45, 104 [123]; 108, 82 [112]).

Dem Schutz der Familie dienen unter anderem die Vorschriften der Hausratsverordnung . Die darin enthaltenen Bestimmungen, die die Zuweisung der Ehewohnung regeln, ermächtigen den Richter, insbesondere zum Wohl der Kinder und zum Schutz des familiären Gemeinschaftslebens, zur Gestaltung bestehender Rechtsverhältnisse (vgl. § 2 Hausratsverordnung ). Der Richter kann anlässlich der Scheidung die Rechtsverhältnisse an der Wohnung regeln (§ 1 Abs. 1 Hausratsverordnung ). Er kann unter anderem bestimmen, dass ein Ehegatte an die Stelle des anderen in ein von diesem eingegangenes Mietverhältnis eintritt (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Hausratsverordnung ). Er kann auch mit dem verbleibenden Ehegatten ein Mietverhältnis an der Ehewohnung begründen (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Hausratsverordnung ).

Die damit verbundene Beschränkung der Rechte des Vermieters findet ihre Rechtfertigung darin, dass die Wohnung vertragsgemäß einer Familie als Lebensmittelpunkt gedient hat und der Ehegatte, der Vertragspartner war, auch über die Scheidung hinaus dem anderen Ehegatten und insbesondere seinen Kindern zur Rücksichtnahme verpflichtet ist. Dem Vermieter wird damit nichts Unzumutbares abverlangt, da ihm nicht ein außenstehender Dritter als Vertragspartner aufgezwungen wird, sondern der Ehegatte des bisherigen Vertragspartners, der schon zuvor ebenso wie die Kinder die Wohnung befugt genutzt hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 9. Oktober 1991 - 1 BvR 1106/91 -, NJW 1992, S. 106 ).

b) Die angegriffenen Urteile verwehren der Beschwerdeführerin die ihr in Ausformung von Art. 6 Abs. 1 GG mit der Hausratsverordnung eröffnete Möglichkeit der Zuweisung der Ehewohnung, ohne die dort zum Schutze der Familie vorgegebene Abwägung der Interessen aller Betroffenen selbst in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise vorgenommen zu haben. Dadurch entziehen sie mit ihrer Räumungsanordnung dem familiären Zusammenleben der Beschwerdeführerin mit ihrem Kind den Lebensmittelpunkt, den die Wohnung bisher gebildet hat, ohne dass den Interessen der Familie und insbesondere auch dem Kindeswohl in ausreichendem Maße Rechnung getragen wurde.

aa) Grundsätzlich steht es im richterlichen Ermessen, das Verfahren bis zur Erledigung eines anderen gerichtlichen Verfahrens auszusetzen, von dem die Entscheidung des Rechtsstreits abhängt (§ 148 ZPO ). Fachgerichtliche Entscheidungen, wie die Ermessensentscheidung über die Aussetzung, können verfassungsgerichtlich grundsätzlich nur darauf überprüft werden, ob sie Anwendungs- oder Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 [92 f.]; 95, 96 [127 f.]).

Lehnen die Zivilgerichte die Aussetzung ihrer Entscheidung über eine Räumungsklage bis zur Entscheidung im Wohnungszuweisungsverfahren ab, müssen sie ihrerseits die von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Belange der familiären Gemeinschaft und des Kindeswohls berücksichtigen und in ihre Abwägungsentscheidung einbeziehen.

bb) Dies haben das Amts- und das Landgericht bei ihren angegriffenen Entscheidungen verkannt. Sie haben die Entscheidung im Wohnungszuweisungsverfahren nicht abgewartet, der Beschwerdeführerin insoweit die Möglichkeit entzogen, in diesem Verfahren eine Berücksichtigung ihres durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Interesses am Erhalt der Wohnung für ihre Familie zu erfahren, und dennoch den Umstand, dass die Beschwerdeführerin mit dem minderjährigen Sohn in der Wohnung lebt und die Wohnung bis zur Entscheidung den Lebensmittelpunkt gebildet hat, nicht in ihre eigenen Erwägungen einbezogen. Vielmehr hat das Landgericht im Rahmen seiner Zumutbarkeitsprüfung allein das Verhalten der Beschwerdeführerin gegen die Interessen des Vermieters abgewogen und das Kindeswohl gänzlich außer Acht gelassen.

c) Die angegriffenen Urteile des Amtsgerichts und des Landgerichts beruhen auf dem Grundrechtsverstoß. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob noch weitere - von der Beschwerdeführerin vorgetragene - Grundrechtsverstöße gegeben sind.

d) Soweit die Beschwerdeführerin mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Beschlüsse des Landgerichts vom 23. Dezember 2005 und vom 5. Januar 2006 angreift, werden diese mit der Aufhebung des angegriffenen Urteils gegenstandslos.

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 95 Abs. 2 in Verbindung mit § 34 a Abs. 2 BVerfGG . Damit erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde.

Vorinstanz: LG Hamburg, vom 05.01.2006 - Vorinstanzaktenzeichen 311 S 9/05
Vorinstanz: LG Hamburg, vom 23.12.2005 - Vorinstanzaktenzeichen 311 S 9/05
Vorinstanz: LG Hamburg, vom 11.11.2005 - Vorinstanzaktenzeichen 311 S 9/05
Vorinstanz: AG Hamburg-Barmbek, vom 11.01.2005 - Vorinstanzaktenzeichen 814 C 271/04
Fundstellen
FamRZ 2006, 1596
NJW-RR 2007, 721
NZM 2007, 479