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BGH - Entscheidung vom 07.11.2006

VI ZB 70/05

Normen:
ZPO § 519

Fundstellen:
NJW-RR 2007, 780
VersR 2007, 662

BGH, Beschluß vom 07.11.2006 - Aktenzeichen VI ZB 70/05

DRsp Nr. 2006/29370

Anforderungen an die Berufungsschrift

Fügt der Prozessbevollmächtigte des Berufungsklägers einem Prozesskostenhilfegesuch einen mit Berufung überschriebenen und von ihm unterzeichneten Schriftsatz bei, der auch im Übrigen alle Angaben enthält, die in einem Berufungsschrift erforderlich sind, so handelt es sich um eine unbedingte Einlegung einer Berufung verbunden mit einem Prozesskostenhilfeantrag und nicht um eine bedingt für den Fall der Bewilligung von Prozesskostenhilfe eingelegte Berufung.

Normenkette:

ZPO § 519 ;

Gründe:

I. Der Kläger nimmt die Beklagte wegen eines behaupteten ärztlichen Behandlungsfehlers auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. Januar 2005 abgewiesen. Dieses Urteil ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 18. Januar 2005 zugestellt worden. Am 14. Februar 2005 ist beim Oberlandesgericht ein Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers eingegangen, der mit "Prozesskostenhilfegesuch und Berufung" überschrieben ist. Mit Beschluss vom 11. Juli 2005 hat das Oberlandesgericht dem Kläger hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche auf Ersatz materiellen Schadens Prozesskostenhilfe bewilligt und den Antrag im Übrigen zurückgewiesen. Dieser Beschluss ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 15. Juli 2005 zugestellt worden. Seine vom Oberlandesgericht als Gegenvorstellung gewertete Beschwerde hatte keinen Erfolg. Mit Schriftsatz vom 11. August 2005, beim Oberlandesgericht eingegangen am 16. August 2005, hat der Kläger beantragt, "ihm hinsichtlich der versäumten Berufungsbegründungsfrist ... Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren". Beigefügt war ein mit "Berufung" überschriebener Schriftsatz vom selben Tag. Mit Schriftsatz vom 26. August 2005 hat der Kläger hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist hinsichtlich des Wiedereinsetzungsantrags begehrt.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Oberlandesgericht beide Wiedereinsetzungsanträge zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Berufung sei nicht innerhalb der am 18. Februar 2005 abgelaufenen Berufungsfrist eingelegt worden. Aus dem mit "Prozesskostenhilfegesuch und Berufung" überschriebenen Schriftsatz vom 11. Februar 2005 gehe deutlich hervor, dass der Kläger seinerzeit noch keine Berufung einlegen, sondern diese Entscheidung von der Bewilligung von Prozesskostenhilfe abhängig machen wollte. Dafür sprächen auch die Begleitumstände, insbesondere der mit "Berufung" überschriebene Schriftsatz vom 11. August 2005 und der Inhalt seines Schriftsatzes vom 26. August 2005, in dem es heiße, der Kläger sei aufgrund unverschuldeter Fristversäumung, nämlich der Mittellosigkeit, daran gehindert gewesen, noch vor Bewilligung der Prozesskostenhilfe Berufung einzulegen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist könne dem Kläger nicht gewährt werden, weil er innerhalb der zweiwöchigen Frist nach Zustellung der Prozesskostenhilfeentscheidung die versäumte Prozesshandlung (Einlegung der Berufung) nicht nachgeholt habe. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist seien nicht dargetan.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.

II. 1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfGE 79, 372 , 376 f. = NJW 1989, 1147 ; BVerfG NJW-RR 2002, 1004 ).

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen, die Berufung sei verspätet eingegangen.

Der Schriftsatz des Klägers vom 11. Februar 2005 erfüllt die Anforderungen, die das Gesetz in § 519 ZPO an eine Berufungsschrift stellt. In diesem Fall kommt nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Deutung, dass der Schriftsatz nicht als unbedingte Berufung bestimmt war, nur dann in Betracht, wenn sich dies aus den Begleitumständen mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit ergibt (BGH, Beschlüsse vom 2. Oktober 1985 - IVb ZB 62/85 - VersR 1986, 40, 41; vom 16. Dezember 1987 - IVb ZB 161/87 - NJW 1988, 2046 , 2047 f.; vom 10. Januar 1990 - XII ZB 134/89 - FamRZ 1990, 995; BGH, Urteil vom 31. Mai 1995 - VIII ZR 267/94 - NJW 1995, 2563 , 2564; Senatsbeschluss vom 22. Januar 2002 - VI ZB 51/01 - VersR 2002, 1256 , 1257). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

Ob eine Berufung eingelegt ist, ist im Wege der Auslegung der Berufungsschrift und der sonst vorliegenden Unterlagen zu entscheiden. Dabei sind - wie auch sonst bei der Auslegung von Prozesserklärungen - alle Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Die Auslegung von Prozesserklärungen, die auch der Senat als Revisionsgericht selbst vornehmen kann (st. Rspr., vgl. Senatsurteil vom 18. Juni 1996 - VI ZR 325/95 - NJW-RR 1996, 1210 , 1211; BGH BGHZ 4, 328, 334), hat den Willen des Erklärenden zu beachten, wie er den äußerlich in Erscheinung getretenen Umständen üblicherweise zu entnehmen ist (vgl. Senatsurteil vom 15. Dezember 1998 - VI ZR 316/97 - VersR 1999, 900 , 901 und Senatsbeschluss vom 22. Januar 2002 - VI ZB 51/01 - aaO., jeweils m. w. N.). Bei Beachtung dieser Grundsätze hat der Kläger wirksam Berufung eingelegt.

Für die Auslegung des Schriftsatzes vom 11. Februar 2005 sind dessen Inhalt und die Begleitumstände heranzuziehen. Maßgebend ist der objektiv zum Ausdruck gekommene Wille des Erklärenden. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es dabei allerdings nicht darauf an, ob der Schriftsatz vom Gericht als Berufungsschrift gewertet und behandelt worden ist. Nicht zu berücksichtigen sind auch die Begleitumstände, von denen das Gericht und der Rechtsmittelgegner erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist Kenntnis erlangt haben (vgl. BGH, Urteile vom 27. Juni 1984 - VIII ZR 213/83 - VersR 1984, 870 und vom 31. Mai 1995 - VIII ZR 267/94 - aaO.).

Der Inhalt des Schriftsatzes spricht nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit dafür, dass der Kläger zunächst lediglich einen Prozesskostenhilfeantrag stellen und noch keine Berufung einlegen wollte. Für eine unbedingte Berufungseinlegung sprechen hier schon die Verwendung des Begriffs "Berufung" in der Überschrift und die Bezeichnung der Parteien als "Berufungskläger" und "Berufungsbeklagte" im Rubrum. Gegenteiliges lässt sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch nicht der Formulierung entnehmen, nach Beiordnung des Prozessbevollmächtigten werde der Antrag verlesen, dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren. Diese Erklärung besagt nicht zweifelsfrei, dass der Prozessbevollmächtigte seinerzeit selbst davon ausging, mit diesem innerhalb der Berufungsfrist eingereichten Schriftsatz nicht wirksam Berufung einzulegen. Zwar wäre, wenn er das Rechtsmittel schon mit diesem Schriftsatz einlegen wollte, ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist nicht erforderlich gewesen. Es kann aber nicht völlig ausgeschlossen werden, dass er diesen Antrag nur rein vorsorglich für den Fall einer etwaigen Fristversäumung angekündigt hat. Diese Zweifel werden entgegen der Annahme des Berufungsgerichts auch nicht durch die am Ende des Schriftsatzes befindliche Bezugnahme auf den vorgenannten Antrag und die in diesem Zusammenhang erfolgte Erläuterung ausgeräumt, der Kläger müsse, sollte das Gericht zur Bejahung der Prozesskostenhilfe kommen, wegen des Zeitablaufs Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen.

Soweit sich der vorliegende Fall von dem Sachverhalt unterscheidet, der dem Senatsbeschluss vom 22. Januar 2002 ( VI ZB 51/01 - aaO.) zugrunde lag, rechtfertigt dies im Ergebnis keine anderweitige Beurteilung. In jenem Fall hatte der Beklagte zunächst einen mit "Berufung" überschriebenen und unterzeichneten Schriftsatz eingereicht und am selben Tag unter Hinweis auf einen angeblich beigefügten, in Wirklichkeit aber fehlenden Entwurf einer Berufungsbegründung Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Berufung beantragt. Bei dieser Sachlage ergab sich aus dem zweiten Schriftsatz nicht hinreichend deutlich, dass mit dem früheren Schriftsatz entgegen dessen Bezeichnung keine Berufung eingelegt werden sollte. Es blieb vielmehr die Möglichkeit offen, dass der spätere Schriftsatz einen zusätzlich zur Berufung eingereichten Antrag auf Prozesskostenhilfe enthielt und lediglich ohne die in Bezug genommenen Anlagen geblieben war. Derartige Zweifel sind angesichts der Überschrift und der Bezeichnungen im Rubrum auch im vorliegenden Fall gegeben.

Mit Rücksicht auf die schwerwiegenden Folgen einer bedingten und damit unzulässigen Berufungseinlegung ist für die Annahme einer derartigen Bedingung eine ausdrückliche zweifelsfreie Erklärung erforderlich, die beispielsweise darin gesehen werden kann, dass der Schriftsatz als "Entwurf einer Berufungsschrift" bezeichnet wird, oder von einer "beabsichtigten Berufung" die Rede ist oder angekündigt wird, dass "nach Gewährung der Prozesskostenhilfe" Berufung eingelegt werde (vgl. BGH, Urteil vom 31. Mai 1995 - VIII ZR 267/94 - BGHR ZPO § 518 Abs. 1 Einlegung 5; Beschluss vom 19. Mai 2004 - XII ZB 25/04 - FamRZ 2004, 1553 , 1554). Daran fehlt es hier. Demgegenüber ist die Rechtsprechung von einer bestimmt eingelegten und unbedingten Berufung selbst dann ausgegangen, wenn dem Prozesskostenhilfeantrag eine Berufungsschrift mit der Bitte beigelegt war, sie "zunächst zu den Akten zu nehmen und erst über das Prozesskostenhilfegesuch zu entscheiden" (BGH, Beschluss vom 16. Dezember 1987 - IVb ZB 161/87 - aaO.), oder wenn die Bitte ausgesprochen wurde, die Berufung erst nach Bewilligung des Armenrechts "in den Geschäftsgang zu nehmen" (BGH, Beschluss vom 29. Mai 1952 - IV ZR 224/51 - NJW 1952, 880). Auch die einen Schriftsatz, der den gesetzlichen Anforderungen an eine Berufungsschrift entspricht, abschließende Wendung, "im übrigen gestatte ich mir den Hinweis, dass die Berufung nur dann als eingelegt gelten soll, wenn dem Kläger das Armenrecht für die Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils bewilligt wird", ist angesichts einer vorhergehenden einschränkungslosen Erklärung, dass Berufung eingelegt und um Bewilligung des Armenrechts gebeten werde, aus dem Gesamtzusammenhang heraus nicht als Bedingung bewertet worden (BGH, Beschluss vom 22. September 1977 - IV ZB 50/77 - VersR 1978, 181). Eine derartige Beurteilung ist auch im vorliegenden Fall nicht gerechtfertigt.

3. Da die Berufung hiernach fristgerecht eingelegt worden ist, ist der angefochtene Beschluss des Berufungsgerichts insgesamt aufzuheben. Das Wiedereinsetzungsverfahren ist gegenstandslos (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Februar 1995 - XII ZB 7/95 - NJW 1995, 2112 , 2113).

Vorinstanz: OLG München, vom 26.09.2005 - Vorinstanzaktenzeichen 1 U 1946/05
Vorinstanz: LG München I, vom 12.01.2005 - Vorinstanzaktenzeichen 9 O 7210/02
Fundstellen
NJW-RR 2007, 780
VersR 2007, 662