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BGH - Entscheidung vom 14.04.2016

V ZB 112/15

Normen:
RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 62a Abs. 1
FamFG § 68 Abs. 3 S. 2
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2
GG Art. 104 Abs. 1

BGH, Beschluss vom 14.04.2016 - Aktenzeichen V ZB 112/15

DRsp Nr. 2016/9875

Aufrechterhaltung angeordneter Sicherungshaft; Absehen von der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren; Bedeutung eines Suizidversuchs eines Betroffenen im Verfahren der Freiheitsentziehung

1. Ein Haftrichter muss zwar die Anordnung von Sicherungshaft ablehnen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene entgegen den Vorgaben des Unionsrechts untergebracht werden wird. Der weitere Vollzug einer unter Verstoß gegen diese Verpflichtung angeordneten Haft ist aber nur rechtswidrig, wenn der Richtlinie widersprechende Haftbedingungen aufrechterhalten werden. Stellt die beteiligte Behörde dagegen richtlinienkonforme Haftbedingungen her, steht der Fehler bei der Anordnung der Haft deren Aufrechterhaltung sowie weiteren Vollzug nicht entgegen.2. Die Aufrechterhaltung der angeordneten Sicherungshaft durch das Beschwerdegericht verletzt die Rechte des Betroffenen nach Art. 104 Abs. 1 GG , wenn dessen zwingend gebotene erneute persönliche Anhörung unterbleibt. Das Beschwerdegericht ist aber im Unterschied zum Haftrichter nicht in jedem Fall verpflichtet, den Betroffenen vor seiner Entscheidung (erneut) persönlich anzuhören. Es darf davon vielmehr unter den in § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG genannten Voraussetzungen absehen. Zu einer Verletzung der Rechte des Betroffenen nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 Abs. 1 GG führt ein Absehen von der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren deshalb nur, wenn diese Voraussetzungen nicht vorlagen und die Anhörung auch im Beschwerdeverfahren zwingend geboten war.3. Der Suizidversuch eines Betroffenen kann zwar auch im Verfahren der Freiheitsentziehung Bedeutung erlangen. Uneingeschränkt gilt das aber nur, wenn er die Haftfähigkeit des Betroffenen in Frage stellt. Denn diese muss der Haftrichter prüfen. Anders liegt es dagegen, wenn der Suizidversuch die Frage nach einem Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG aufwirft. Die Prüfung dieser Frage ist Aufgabe der Verwaltungsgerichte, nicht des Haftrichters. Der Haftrichter hat in einem solchen Fall nur zu prüfen, ob die Abschiebung trotz des von dem Betroffenen geltend gemachten Abschiebungshindernisses durchgeführt werden kann. Hierzu hat er eigene Ermittlungen anzustellen; insbesondere muss er sich über den Stand und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger Abschiebungshindernisse entschieden wird. Bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene nach dem Suizidversuch nicht (mehr) haftfähig ist, muss das Beschwerdegericht den Betroffenen nicht persönlich anhören.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen festgestellt, dass die Beschlüsse der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bonn vom 15. September 2014 und des Amtsgerichts Bonn vom 23. Juli 2014 den Betroffenen insoweit in seinen Rechten verletzt haben, als die angeordnete Haft bis zum 25. Juli 2014 in der Justizvollzugsanstalt Büren vollzogen worden ist.

Der Betroffene trägt die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 62a Abs. 1 ; FamFG § 68 Abs. 3 S. 2; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; GG Art. 104 Abs. 1 ;

Gründe

I.

Der Betroffene reiste im Jahr 2000 unerlaubt nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag, der zurückgewiesen wurde. Diese Entscheidung ist seit dem 11. November 2003 rechtskräftig. Eine im Jahr 2004 versuchte Abschiebung misslang, weil der Betroffene untertauchte. Nach seinen Angaben verließ er Deutschland, kehrte aber 2009 wieder zurück. Er wurde am 23. Juli 2014 in Bonn mit gefälschten Papieren angetroffen und festgenommen.

Mit Beschluss vom 23. Juli 2014 hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung nach Algerien für die Dauer von drei Monaten angeordnet, die zunächst in der Justizvollzugsanstalt Büren und seit dem 26. Juli 2014 in dem Abschiebegewahrsam Berlin-Köpenick vollzogen worden ist. Eine während des Verfahrens über die Beschwerde des Betroffenen gegen die Haftanordnung für den 1. September 2014 vorgesehene Abschiebung ist gescheitert, weil sich der Betroffene nach einem Hungerstreik Verletzungen am Handgelenk beigebracht hatte und deshalb - am 8. Oktober 2014 begleitet abgeschoben werden sollte. Das Landgericht hat die Beschwerde des Betroffenen mit Beschluss vom 15. September 2014 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, nach seiner Entlassung aus der Haft am 7. Oktober 2014 mit dem Antrag, die Rechtswidrigkeit des Vollzugs der angeordneten Haft festzustellen.

II.

Das Beschwerdegericht hält die Anordnung der Abschiebungshaft und ihre Fortdauer für rechtmäßig. Ob der kurzfristige Hungerstreik des Betroffenen und dessen "Selbstverletzung mit zweifelhaften suizidalen Absichten" ein Abschiebehindernis darstelle, sei eine Frage des materiellen Ausländerrechts. Eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen sei nicht geboten gewesen, weil von ihr keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien.

III.

Die angefochtenen Entscheidungen halten im Ergebnis einer rechtlichen Prüfung weitgehend stand.

1. Das Amtsgericht durfte Sicherungshaft gegen den Betroffenen in dem Zeitraum vom 23. bis zum 25. Juli 2014 nicht anordnen. In dem daran anschließenden Zeitraum ist die Anordnung dagegen nicht zu beanstanden.

a) Bis zum 25. Juli 2014 durfte das Amtsgericht Sicherungshaft nicht anordnen, weil abzusehen war, dass die Haft in der Justizvollzugsanstalt Büren und damit unter Verletzung der im Lichte von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG auszulegenden Vorschrift des § 62a Abs. 1 AufenthG vollzogen werden würde (vgl. näher Senat, Beschluss vom 25. Juli 2014 - V ZB 137/14, FGPrax 2014, 230 Rn. 7 ff.).

b) Dieses Hindernis bestand aber seit dem 26. Juli 2014 nicht mehr.

aa) Der Haftrichter muss zwar im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) die Anordnung von Sicherungshaft ablehnen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene entgegen den Vorgaben des Unionsrechts untergebracht werden wird (Senat, Vorlagebeschluss vom 11. Juli 2013 - V ZB 40/11, NVwZ 2014, 166, Rn. 20 und Beschluss vom 25. Juli 2014 - V ZB 137/14, aaO Rn. 5). Der weitere Vollzug einer unter Verstoß gegen diese Verpflichtung angeordneten Haft ist aber nur rechtswidrig, wenn der Richtlinie widersprechende Haftbedingungen aufrechterhalten werden. Stellt die beteiligte Behörde dagegen richtlinienkonforme Haftbedingungen her, steht der Fehler bei der Anordnung der Haft deren Aufrechterhaltung und deren weiteren Vollzug nicht entgegen (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Juli 2014 - V ZB 137/14, FGPrax 2014, 230 Rn. 11).

bb) So liegt es hier seit dem 26. Juli 2014. Im Anschluss an den erwähnten Beschluss des Senats hat das Land Nordrhein-Westfalen seine Unterbringungspraxis geändert. Es hat den Vollzug der Sicherungshaft in der Justizvollzugsanstalt Büren umgehend beendet und ihn in anderen Einrichtungen fortgesetzt, die den Anforderungen der Richtlinie genügen (Runderlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales vom 25. Juli 2015 - 15-39.16.04-2-13339(2604), veröffentlicht im Sammelblatt Nordrhein-Westfalen). Im Zuge dieser Maßnahme ist auch der Betroffene in eine solche Gewahrsamseinrichtung verlegt worden. Dem weiteren Vollzug standen deshalb die Unterbringungsbedingungen nicht mehr entgegen.

c) Die Anordnung der Haft durch das Amtsgericht ist für den Zeitraum ab dem 26. Juli 2016 nicht zu beanstanden. Von einer Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

2. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist ebenfalls nicht zu beanstanden, soweit die Haft nach dem 25. Juli 2014 aufrechterhalten worden ist. Etwas anderes ergibt sich, anders als der Betroffene meint, nicht daraus, dass es ihn nicht erneut persönlich angehört hat. Dazu war es auch im Hinblick auf den Suizidversuch nicht verpflichtet.

a) Allerdings verletzt die Aufrechterhaltung der angeordneten Sicherungshaft durch das Beschwerdegericht die Rechte des Betroffenen nach Art. 104 Abs. 1 GG , wenn dessen zwingend gebotene erneute persönliche Anhörung unterbleibt (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Oktober 2013 - V ZB 127/12, FGPrax 2014, 39 Rn. 9; Beschluss vom 18. Dezember 2014 - V ZB 192/13, [...] Rn. 9 mwN); es kommt in diesem Fall auch nicht darauf an, ob die Haft in der Sache zu Recht aufrechterhalten worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384 Rn. 9 mwN). Das Beschwerdegericht ist indessen im Unterschied zum Haftrichter nicht in jedem Fall verpflichtet, den Betroffenen vor seiner Entscheidung (erneut) persönlich anzuhören. Es darf davon vielmehr unter den in § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG genannten Voraussetzungen absehen. Zu einer Verletzung der Rechte des Betroffenen nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG führt ein Absehen von der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren deshalb nur, wenn diese Voraussetzungen nicht vorlagen und die Anhörung auch im Beschwerdeverfahren zwingend geboten war (Senat, Beschluss vom 29. Oktober 2015 - V ZB 67/15, InfAuslR 2016, 54 Rn. 6).

b) Das war hier nicht der Fall.

aa) Im Verlauf des Beschwerdeverfahrens hat die beteiligte Behörde zwar mitgeteilt, der Betroffene habe in der Justizvollzugsanstalt Büren einen Suizidversuch unternommen. Daraus konnte sich, wie der Betroffene im Ansatz zu Recht geltend macht, ein Abschiebungshindernis ergeben. Es ist auch richtig, dass das Beschwerdegericht von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen nicht ohne Weiteres nach § 68 Abs. 3 FamFG absehen darf, wenn solche Tatsachen nach dem Erlass der Haftanordnung eintreten. Dazu ist es vielmehr nur befugt, wenn diese Tatsachen für die Entscheidung offensichtlich unerheblich sind (Senat, Beschluss vom 10. Oktober 2012 - V ZB 274/11, FGPrax 2013, 40 Rn. 11).

bb) So liegt es hier.

(1) Der Suizidversuch eines Betroffenen kann zwar auch im Verfahren der Freiheitsentziehung Bedeutung erlangen. Uneingeschränkt gilt das aber nur, wenn er die Haftfähigkeit des Betroffenen in Frage stellt. Denn diese muss der Haftrichter prüfen (Senat, Beschluss vom 12. Mai 2011 - V ZB 299/10, [...] Rn. 8 und vom 30. Oktober 2013 - V ZB 69/13, Asylmagazin 2014, 138 Rn. 7). Anders liegt es dagegen, wenn der Suizidversuch die Frage nach einem Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG aufwirft. Die Prüfung dieser Frage ist Aufgabe der Verwaltungsgerichte, nicht des Haftrichters. Der Haftrichter hat in einem solchen Fall nur zu prüfen, ob die Abschiebung trotz des von dem Betroffenen geltend gemachten Abschiebungshindernisses durchgeführt werden kann (Senat, Beschlüsse vom 12. Juni 1986 - V ZB 9/86, BGHZ 98, 109 , 112, vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09 - NVwZ 2010, 726 Rn. 23 f. und vom 11. Oktober 2012 - V ZB 274/11, FGPrax 2013, 40 Rn. 11; zu weitgehend daher LG Hamburg, Beschluss vom 27. August 2010 - 329 T 79/10, [...] Rn. 13 f.). Dazu hat er eigene Ermittlungen anzustellen; insbesondere muss er sich über den Stand und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger Abschiebungshindernisse entschieden wird (vgl. Senat, Beschlüsse vom 10. Mai 2012 - V ZB 246/11, [...] Rn. 14 und vom 11. Oktober 2012 - V ZB 274/11, aaO).

(2) Danach musste das Beschwerdegericht den Betroffenen nicht persönlich anhören.

(a) Weder die Mitteilung der beteiligten Behörde vom 2. September 2014 noch die Stellungnahme des - anwaltlich vertretenen - Betroffenen dazu vom 10. September 2014 ergaben Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene nach dem Suizidversuch nicht (mehr) haftfähig war. Der Suizidversuch hat nach den von dem Betroffenen nicht angezweifelten Angaben der beteiligten Behörde in den ersten Tagen der Haft noch vor dessen Verlegung in den Abschiebegewahrsam in Berlin-Köpenick stattgefunden. Als Auslöser des Suizidversuchs hat die beteiligte Behörde die Abschiebung gesehen und deshalb einen neuen Abschiebungsversuch mit Sicherheitsbegleitung und ärztlicher Aufsicht vorbereitet. In seiner Stellungnahme zu dieser Mitteilung hat auch der Betroffene selbst die Abschiebung, nicht die Haft, als möglichen Auslöser eines neuen Suizidversuchs gesehen und die Haft deshalb als unverhältnismäßig angesehen, weil die Abschiebung nicht gelingen werde.

(b) Anhaltspunkte dafür, denen das Beschwerdegericht in seinem beschränkten Prüfungsrahmen hätte nachgehen müssen, boten die Mitteilung der beteiligten Behörde und die Stellungnahme des Betroffenen ebenfalls nicht. Die Behörde hat dargelegt, dass sie die Abschiebung mit den geschilderten Vorkehrungen am 8. Oktober 2014, mithin noch während der angeordneten Haft, durchführen wolle. Dass und aus welchen Gründen dies nicht gelingen könnte, war nicht ersichtlich und wurde von dem Betroffenen auch nicht geltend gemacht und wird von ihm auch jetzt nicht näher erläutert. Dass dieser gegen die Abschiebung wegen des Suizidversuchs (einstweiligen) Rechtsschutz bei den Verwaltungsgerichten beantragt hatte oder beantragen würde, war nicht anzunehmen. Der Betroffene hat sich in seiner Stellungnahme auf den Hinweis beschränkt, die Ausländerbehörde habe der Frage nachzugehen, ob der Suizidversuch der Abschiebung entgegenstehe.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 , § 83 Abs. 2 , § 84 , § 430 FamFG , Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Der Senat hält es für angemessen, dem Betroffenen die Kosten des Verfahrens vollständig aufzuerlegen, weil sein Antrag nur in einem verhältnismäßig geringfügigen Umfang begründet ist.

Vorinstanz: AG Bonn, vom 23.07.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 51 XIV 790 B
Vorinstanz: LG Bonn, vom 15.09.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 4 T 287/14