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BGH - Entscheidung vom 09.06.2015

VI ZR 235/14

Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
ZPO § 544 Abs. 7

Fundstellen:
VersR 2015, 1381

BGH, Beschluss vom 09.06.2015 - Aktenzeichen VI ZR 235/14

DRsp Nr. 2015/11117

Anspruch auf Ersatz immateriellen Schadens wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung

Im Hinblick auf eine ärztliche Behandlung verstößt das Gericht gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, wenn es hinreichende Anhaltspunkte, die gegen die durch den gerichtlichen Sachverständigen ausgeführte Annahme der Indikation für einen vorgenommenen operativen Eingriff sprechen, nicht berücksichtigt.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 5. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 8. April 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gegenstandswert: 20.001 €

Normenkette:

GG Art. 103 Abs. 1 ; ZPO § 544 Abs. 7 ;

Gründe

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte als (Mit-)Erbe seines am 8. März 2009 verstorbenen Vaters (nachfolgend: Patient) wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz immateriellen Schadens in Anspruch.

Der am 18. April 1919 geborene Patient wurde am 27. Februar 2009 von seinem Hausarzt wegen Verdachts auf eine Appendizitis bei Druckschmerz im rechten Unterbauch in die chirurgische Abteilung der von der Beklagten betriebenen Klinik eingewiesen. Der den Patienten aufnehmende Arzt dokumentierte folgende Beschwerden des Patienten: "Seit zwei Tagen Schmerzen ganzer Bauch, keine Übelkeit, kein Erbrechen, Stuhl zuletzt vor sechs Tagen, öfters verstopft". Als Befund gab er im Hinblick auf den Bauch an: "Bauchdecken: weich, Peristaltik (+), Druckschmerz Unterbauch rechts mehr als links". Als vorläufige Diagnose vermerkte er: "Unklares Abdomen, Diabetes mellitus, Morbus Parkinson, koronare Herzkrankheit". Noch am selben Tag wurde in der Zeit zwischen 15.31 Uhr und 18.00 Uhr durch den Chefarzt der chirurgischen Abteilung ein operativer Eingriff durchgeführt. Während des zunächst als Laparoskopie durchgeführten Eingriffs zeigte sich ein deutlicher Kalibersprung im Bereich des absteigenden Dickdarms. Das Sigma zeigte sich massiv aufgetrieben. Nach Übergang auf die Laparotomie wurde ein Teil des Dickdarms entfernt. Nachdem der Patient am 1. März 2009 auf die Normalstation verlegt worden war, trat bei ihm am Abend des 7. März 2009 eine erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands ein. Gegen 22.00 Uhr wurden Röntgenaufnahmen des Thorax gefertigt, die beidseits eine Pneumonie zeigten. Trotz Einleitung einer antibiotischen Therapie verstarb der Patient am Morgen des 8. März 2009 gegen 3.25 Uhr.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

1. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht zu der Beurteilung gelangt, der bei dem Patienten am 27. Februar 2009 vorgenommene operative Eingriff sei indiziert gewesen.

a) Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der gerichtliche Sachverständige habe eine Indikation sowohl für die Laparoskopie als auch für die Laparotomie und die vorgenommene Darmteilresektion nachvollziehbar und überzeugend dargelegt. Soweit der Kläger die Annahme der Indikation durch den Sachverständigen angreife, setze er lediglich eigene Einschätzungen und Bewertungen an die Stelle der des Sachverständigen. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen in relevanten Punkten nicht richtig sein könnten, seien nicht gegeben.

b) Gegen diese Beurteilung wendet sich die Nichtzulassungsbeschwerde mit Erfolg. Sie beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht das vom Kläger mit der Klageschrift vorgelegte Gutachten des MDK Rheinland-Pfalz vom 15. September 2010 unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht berücksichtigt hat. Der Kläger hatte in der Klageschrift geltend gemacht, es habe keine Indikation zur Sigmaresektion bestanden, da kein Darmverschluss, sondern lediglich eine ausgeprägte Kotstauung vorgelegen habe, die konservativ habe behandelt werden müssen. Im Gutachten des MDK ist insoweit unter Hinweis auf den Aufnahmebefund, insbesondere die weiche Bauchdecke und das Fehlen ileustypischer Veränderungen auf der Röntgenaufnahme, ausgeführt, dass eine Indikation zu einer Notfalloperation mit Sigmaresektion bei dem multimorbiden, 89-jährigen Patienten nicht nachvollziehbar sei. Es habe keine "Notfallsituation" im Abdomen vorgelegen. Soweit im OP-Bericht als Diagnose "Ileus/akutes Abdomen" angegeben werde, sei anhand der präoperativ erhobenen Befunde nicht nachvollziehbar, auf welche Untersuchungen sich diese Diagnose stütze. Auch die Ausführungen im OP-Bericht, "der hochbetagte Patient weise den Befund einer Passagestörung mit hochgradiger Druckschmerzhaftigkeit im linken Oberbauch auf", seien nicht nachvollziehbar. Der einweisende Arzt habe einen Druckschmerz im rechten Unterbauch beschrieben. Auch der aufnehmende Arzt im Krankenhaus habe einen stärkeren Schmerz im rechten Unterbauch als im linken Unterbauch dokumentiert. Sowohl der intraoperativ geschilderte Situs als auch das Ergebnis des postoperativen Histologiebefundes rechtfertigten die gestellte OP-Indikation nicht. Auch nach diesen Befunden habe eine komplizierte Divertikulitis (z.B. mit Ileus, Stenose, Perforation, Fistelbildung) nicht vorgelegen. Nur eine solche habe aber die Indikation für eine notfallmäßig durchgeführte Sigmaresektion begründen können. Bei dem Patienten sei vielmehr eine konservative Behandlung mit Abführmaßnahmen, Nahrungskarenz, intravenös verabreichter Flüssigkeit und Antibiose indiziert gewesen. Selbst wenn ein operativer Eingriff gerechtfertigt gewesen sei, habe bei dem multimorbiden Patienten jedenfalls keine Darmteilresektion in einer fast dreistündigen Operation vorgenommen, sondern allenfalls ein anus praeter vor der Engstelle angelegt werden dürfen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde macht zu Recht geltend, dass der Kläger damit ausreichende Anhaltspunkte vorgetragen hatte, die die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen in Frage stellten.

Dies gilt umso mehr als das Berufungsgericht die - "zwischen den Parteien streitige" - Frage, ob der Chefarzt und Operateur Prof. Dr. K. den Patienten präoperativ untersucht hat, ausdrücklich offengelassen hat, während der gerichtliche Sachverständige dies seiner gutachterlichen Bewertung trotz insoweit fehlender Dokumentation als maßgeblich zugrunde gelegt hat. Die Nichtzulassungsbeschwerde weist zu Recht darauf hin, dass der gerichtliche Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten die Frage, ob allein die durch den Aufnahmearzt erhobenen und dokumentierten Befunde eine ausreichende Indikation zur Operation gegeben hätte, wenn der Chefarzt präoperativ keine eigenen Befunde erhoben hätte, mit "nein" beantwortet hat. Die Nichtzulassungsbeschwerde verweist auch zu Recht auf die Angaben des gerichtlichen Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung. Danach hätten die Fakten zum Zeitpunkt der Stellung der Indikation für den operativen Eingriff deshalb ausgereicht, weil der Hausarzt den Patienten mit der Verdachtsdiagnose einer Appendizitis in die chirurgische Abteilung eingewiesen habe und ausführliche anamnestische Untersuchungen erfolgt seien, die erneut schwerste Bauchschmerzen ergeben hätten. Auf die Frage, ob bereits ein akutes Abdomen für einen operativen Eingriff ausschlaggebend sein könne, gab der Sachverständige an, diese Frage würde er von vornherein so nicht bejahen, weil es ganz wesentlich sei, dass sich der Operateur selbst klinisch einen Eindruck von dem Patienten verschaffe. Wenn die Diagnose eines akuten Abdomens mit stärksten Bauchschmerzen vom Operateur klinisch gestellt werde, könne diese für die Indikation zu einem minimalinvasiven Eingriff trotz der im Streitfall nicht ausreichend vorgenommenen Diagnostik (fehlende Röntgenaufnahmen in Rückenund Linksseitenlage, keine CT-Aufnahmen) durchaus ausreichend sein.

2. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht darüber hinaus zu der Beurteilung gelangt, es sei nicht behandlungsfehlerhaft gewesen, den Patienten am 1. März 2009 auf die Normalstation zu verlegen. Das Berufungsgericht hat bei seiner Entscheidungsfindung insoweit nicht berücksichtigt, dass der Kläger dieses Vorgehen in seiner Klageschrift unter Bezugnahme auf das Gutachten des MDK Rheinland-Pfalz vom 15. September 2010 ausdrücklich beanstandet hatte. Die Gutachterin hatte insoweit ausgeführt, die Verlegung des Hochrisikopatienten in der Nacht vom 1. März 2009 auf den 2. März 2009 auf die Normalstation sei völlig unverständlich gewesen. Ausweislich der Unterlagen der Intensivstation sei der CRP-Wert des Patienten am 1. März 2009 deutlich angestiegen, er sei tachykard gewesen und es sei eine intermittierende Sauerstoffgabe bei pathologischer Blutgasanalyse erforderlich gewesen.

3. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht beanstandet, hat das Berufungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung darüber hinaus den Vortrag des Klägers in seiner Berufungsbegründung vom 18. Juli 2013 nicht berücksichtigt, wonach sich die behandelnden Ärzte der Beklagten bei der Parkinsonmedikation verrechnet und lediglich ein Drittel der präoperativ eingestellten Medikation in einer einzigen Tagesdosis verabreicht hätten. Vor dem Hintergrund, dass zusätzlich Neuroleptika und außerdem ein Opiat als Schmerzmittel verabreicht worden sei, was beides der Parkinsonmedikation entgegenwirke und die Atemfunktion dämpfe, habe der Patient dadurch bedingt erheblich unter Atemnot und Erstickungsanfällen gelitten.

4. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet auch zu Recht, dass das Berufungsgericht die Behauptung des Klägers gemäß §§ 530 , 296 Abs. 1 , Abs. 4 ZPO als verspätet zurückgewiesen hat, die in Hinblick auf die Verschlechterung des Zustands des Patienten angeordnete Thoraxaufnahme sei zu spät gefertigt worden. Denn diesen Vortrag hat der Kläger im Kern bereits innerhalb der Berufungsbegründungsfrist gehalten. Er hat in seiner Berufungsbegründungsschrift die postoperative Behandlung als fehlerhaft beanstandet und ausgeführt, dass bereits am 6. März 2009 eine deutliche Zustandsverschlechterung festgestellt und die Notwendigkeit der Erstellung einer Thoraxröntgenaufnahme dokumentiert worden sei. Auch wenn er anschließend beanstandet hat, dass trotz dieser Anordnung am 7. März keine Röntgenaufnahme durchgeführt worden sei, hat er im Gesamtzusammenhang hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er die Reaktion auf die am 6. März 2009 festgestellte Verschlechterung des Zustands des Patienten als nicht mehr adäquat angesehen hat. Dies gilt umso mehr, als die Gutachterin des MDK ausweislich ihres bereits mit der Klageschrift vorgelegten Gutachtens eine Röntgenkontrolle bereits für den 5. März 2009 für geboten erachtet hat.

5. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.

Vorinstanz: LG Landau in der Pfalz, vom 15.03.2013 - Vorinstanzaktenzeichen 4 O 432/10
Vorinstanz: OLG Zweibrücken, vom 08.04.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 5 U 12/13
Fundstellen
VersR 2015, 1381