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BGH - Entscheidung vom 16.05.2012

2 StR 36/12

Fundstellen:
NStZ 2012, 574
StV 2013, 38

BGH, Beschluss vom 16.05.2012 - Aktenzeichen 2 StR 36/12

DRsp Nr. 2012/15231

Verpflichtung zur Anhörung eines Vertreters der Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung

1. Die Heranziehung der Jugendgerichtshilfe hat vor allem den Zweck, zur Gewinnung eines möglichst vollständigen Bildes von der Persönlichkeit des Täters, seiner Entwicklung und seiner Umwelt Gesichtspunkte beizutragen und dabei auf Umstände aufmerksam zu machen, die ohne die Zuziehung der Jugendgerichtshilfe möglicherweise gar nicht zur Sprache gekommen wäre.2. Ergeben sich aus einem vorliegenden Bericht Erkenntnisse, die bisher nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen sind, und steht die dort gestellte Einschätzung der Jugendgerichtshilfe in deutlichem Widerspruch zu der Überzeugung des Gerichts, ist dieses gehalten, die Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung zu hören.

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 18. Oktober 2011 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen und wegen schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat hinsichtlich des Strafausspruchs mit einer Verfahrensrüge Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet.

II.

Die Revision des Angeklagten hat hinsichtlich des Strafausspruchs mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

1. a) Der Angeklagte war zu den Tatzeiten 20 Jahre und neun Monate bzw. zehn Monate alt. Das Landgericht holte zur Vorbereitung der Hauptverhandlung Stellungnahmen der Jugendgerichtshilfe vom 14. Juni und vom 11. Oktober 2011 ein. Im letzten Bericht heißt es u.a., dass sich der Angeklagte in den vergangenen Monaten deutlich stabilisiert habe. Er gehe einer geregelten Arbeit nach, habe wieder einen festen Wohnsitz, arbeite zusammen mit der Schuldnerberatung daran, seine Schulden abzuarbeiten und habe einen guten Bezug zu seiner Familie. Außerdem sei er in nicht geringem Umfang ehrenamtlich als "Streetworker" tätig, um suchtgefährdeten oder süchtigen Jugendlichen zu helfen. Er sehe das Unrecht seiner Taten und bereue sie sichtlich. Bei Bewertung der Straftaten sei sicherlich zu berücksichtigen, dass inzwischen eine sehr positive Entwicklung bei dem Angeklagten beobachtet werden könne und aus der Sicht der Jugendgerichtshilfe nunmehr eine gute Sozialprognose bestehe.

Im Termin zur Hauptverhandlung am 18. Oktober 2011 erschien ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe nicht. Die Berichte der Jugendgerichtshilfe wurden ausweislich des Protokolls nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht.

b) Das Landgericht hat auf den Angeklagten Jugendstrafrecht angewandt und wegen der Schwere der Schuld Jugendstrafrecht verhängt. Bei der vorrangig unter erzieherischen Gesichtspunkten zu bemessenden Höhe der Jugendstrafe hat die Strafkammer u.a. Folgendes ausgeführt:

"Bei dem Angeklagten ist neben dem Bedürfnis eines gerechten Schuldausgleichs gerade auch aus dem vorrangigen Erziehungsgedanken eine längerfristige Jugendstrafe erforderlich. Nur eine solche ist geeignet, beim Angeklagten eine Grundlage zu schaffen, durch die ihm sittliche und moralische Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens, ohne die er wieder scheitern und in die Strafbarkeit abrutschen würde, vermittelt und erzieherisch beigebracht werden können. Das Fehlen dieser Grundvorstellungen und die Bedenkenlosigkeit, mit der der Angeklagte die Taten begangen hat, machen die längerfristige erzieherische Einwirkung auf ihn erforderlich. Er muss lernen, das Eigentum anderer zu respektieren und die für alle geltenden Regeln zu akzeptieren. Diese Einsicht ist bei ihm - wie die von ihm verübten schweren bzw. besonders schweren räuberischen Erpressungen zeigen - noch nicht vorhanden. Der Angeklagte wird sich im Jugendstrafvollzug mit den Folgen seiner Tat ernsthaft auseinander setzen müssen, was die Kammer dringend erzieherisch für geboten hält. Durch eine längerfristige Jugendstrafe wird es ihm im geschlossenen Rahmen auch ermöglicht, die Schwere seiner Tat zu verarbeiten, und es können bei ihm die Grundlagen dafür geschaffen werden, dass er lernt, seine eigenen egoistischen Bedürfnisse nicht durch schwere kriminelle Handlungen auf Kosten anderer Menschen zu befriedigen.

Die Kammer verkennt dabei nicht, dass der Angeklagte derzeit eine Arbeitsstelle hat und keine Drogen konsumiert. Dies ist jedoch nicht dazu geeignet, einen inneren Wandel bei ihm zu dokumentieren. Sowohl seine Wohnungssituation als auch seine Arbeitsstelle zeigen, dass es sich um einen vorläufigen und äußerlichen Wandel seines Lebens handelt, der sich noch nicht verfestigt hat. So lebt der Angeklagte in einem Hotel und hat noch keine eigene Wohnung bezogen. Die Arbeitsstelle hat er als Arbeitssuchender ohne Ausbildung auf eine Zeitungsannonce hin erhalten. Er arbeitet auf Provisionsbasis und muss im Außendienst versuchen, Verbraucher vom Wechsel des Energieanbieters zu überzeugen, um genügend Geld zu verdienen. Es ist daher zu erwarten, dass der Angeklagte beim ersten beruflichen Misserfolg oder auch - wie seine Biographie zeigt - schon dann, wenn er keine Lust mehr auf eine geregelte Arbeit hat, in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Sowohl seine Ausbildung als Kfz-Mechaniker, als auch seine Arbeitsstelle in Bayern, die er ein Jahr lang hatte, hat der Angeklagte ohne nachvollziehbaren Grund aufgegeben, weil er keine Lust mehr hatte und seine Zeit lieber mit Freunden verbringen wollte."

2. Bei dieser Sachlage hätte sich das Landgericht gedrängt sehen müssen, einen Vertreter der Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung zu hören. Die Kammer ist ersichtlich davon ausgegangen, dass dem Angeklagten weiter die Einsicht in das begangene Unrecht fehle und die Veränderung äußerer Bedingungen nicht geeignet sei, einen inneren Wandel bei dem Beklagten zu dokumentieren. Demgegenüber ist dem letzten Bericht der Jugendhilfe vom 11. Oktober 2011, der der Kammer bekannt war, zu entnehmen, dass diese unter Mitteilung weiterer Tatsachen wie etwa der ehrenamtlichen Tätigkeit des Angeklagten eine andere Ansicht vertreten hat und von einer deutlichen Stabilisierung des Angeklagten ausgegangen ist.

Die Heranziehung der Jugendgerichtshilfe hat vor allem den Zweck, zur Gewinnung eines möglichst vollständigen Bildes von der Persönlichkeit des Täters, seiner Entwicklung und seiner Umwelt Gesichtspunkte beizutragen und dabei auf Umstände aufmerksam zu machen, die ohne die Zuziehung der Jugendgerichtshilfe möglicherweise gar nicht zur Sprache gekommen wären (vgl. BGHSt 27, 250 , 251; BGHR JGG § 38 Abs. 3 Heranziehung 1). Ergeben sich, wie hier, aus einem vorliegenden Bericht Erkenntnisse, die bisher nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen sind, und steht die dort gestellte Einschätzung der Jugendgerichtshilfe in deutlichem Widerspruch zu der Überzeugung des Gerichts, ist diese deshalb gehalten, die Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung zu hören. Dies ist hier unterblieben. Es ist nicht auszuschließen, dass bei einer Beteiligung der Jugendgerichtshilfe zur Überzeugung des Gerichts Gesichtspunkte zutage getreten wären, die sich bei der Bemessung der Strafe zugunsten des Angeklagten hätten auswirken können. Aus diesem Grund war der Strafausspruch aufzuheben.

Fundstellen
NStZ 2012, 574
StV 2013, 38