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BGH - Entscheidung vom 10.05.2012

V ZB 35/12

Normen:
AufenthG § 62 Abs. 2 S. 2

BGH, Beschluss vom 10.05.2012 - Aktenzeichen V ZB 35/12

DRsp Nr. 2012/10637

Ermessensausübung des einen Ausländer zwecks Abschiebung in Sicherungshaft nehmenden Gerichts

Die Anordnung und der Vollzug einer Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 S. 2 AufenthG verletzen den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht, wenn sich das anordnende Gericht der Notwendigkeit einer Ermessensausübung nicht bewusst war. Das ist der Fall, wenn es den Haftgrund des § 62 Abs. 2 S. 2 AufenthG allein mit dem Hinweis bejaht, dass der Betroffene seiner Verpflichtung zur Ausreise nicht nachgekommen und daher Haft zu verhängen gewesen sei.

Tenor

Dem Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Traunstein vom 8. November 2011 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 28. Oktober 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der Stadt R. auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 62 Abs. 2 S. 2;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein rumänischer Staatsangehöriger, reiste im August 2008 nach Deutschland ein und erhielt eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht gemäß § 5 Abs. 1 FreizügG/EU. Mit Bescheid vom 29. August 2011 stellte die Beteiligte zu 2 fest, dass er das Recht auf Einreise und Aufenthalt für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verloren hat (§ 5 Abs. 5 FreizügG/EU), und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise bis zum 18. September 2011 auf. Die Entscheidung ist seit dem 1. Oktober 2011 bestandskräftig. Als der Betroffene, einer schriftlichen Aufforderung der Beteiligten zu 2 folgend, am 28. Oktober 2011 im Ausländeramt vorsprach, wurde er in Polizeigewahrsam genommen. Mit Beschluss vom selben Tag hat das Amtsgericht Abschiebungshaft für zwei Wochen angeordnet. Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene, der zwischenzeitlich abgeschoben wurde, die Feststellung erreichen, dass die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung ihn in seinen Rechten verletzt haben.

II.

Nach Ansicht des Beschwerdegerichts liegt der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vor. Die Haft sei auch verhältnismäßig. Seit dem Bescheid der Ausländerbehörde vom 29. August 2011 seien knapp zwei Monate vergangen, ohne dass der Betroffene ausgereist sei. Seine fehlende Ausreiseabsicht ergebe sich daraus, dass er sich für einen Mitte September 2011 beginnenden Integrationskurs angemeldet habe. Zudem habe er bei der Vorsprache im Ausländeramt erklärt, er werde Deutschland keinesfalls verlassen.

III.

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Entscheidung des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.

1. Nach § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann der Ausländer für die Dauer von längstens zwei Wochen in Sicherungshaft genommen werden, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Die Anordnung der Haft ist in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt. Diese Ermessensausübung hat unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Aus diesem Grund hat der Tatrichter im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht gemäß § 26 FamFG festzustellen, ob auf den Einzelfall bezogene Tatsachen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür ergeben, dass sich der Ausländer der Abschiebung entziehen wird (Senat, Beschluss vom 19. Januar 2012 - V ZB 221/11, Rn. 4, [...]). Die Entscheidung selbst erfordert eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ) und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung, das umso schwerer wiegt, je höher die Gefahr der Entziehung einzuschätzen ist. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - in der Entscheidung darzulegen (§ 38 Abs. 3 Satz 1, § 69 Abs. 2 FamFG). Das Rechtsbeschwerdegericht hat zu überprüfen, ob eine Ermessensausübung überhaupt stattgefunden hat und ob sie fehlerfrei - insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erfolgt ist (Senat, aaO).

2. Daran gemessen erweisen sich die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung als rechtsfehlerhaft.

a) Dem Amtsgericht war die Notwendigkeit einer Ermessensausübung offenkundig nicht bewusst. Es bejaht den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG allein mit dem Hinweis, dass der Betroffene seiner Verpflichtung zur Ausreise nicht nachgekommen und daher Haft zu verhängen gewesen sei. Diese Begründung legt nahe, dass das Amtsgericht rechtsfehlerhaft von einem zwingenden Charakter der Vorschrift ausgegangen ist.

b) Die unterlassenen Ermessenserwägungen sind auch nicht von dem Beschwerdegericht nachgeholt worden (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 13. Februar 2012 - V ZB 46/11, Rn. 11, [...]). Dieses hat sich weder mit der Frage befasst, ob der Betroffene der geplanten Abschiebung ohne den Vollzug der Haft zur Verfügung steht, noch lässt die Entscheidung eine Ermessensausübung erkennen. Das Beschwerdegericht stellt allein darauf ab, dass der Betroffene bisher nicht ausgereist ist und seine Anmeldung für einen Integrationskurs zeige, dass er nicht die Absicht habe, freiwillig auszureisen. Dies lässt aber nicht ohne weiteres den Schluss zu, dass der Betroffene über die fehlende Ausreisewilligkeit hinaus auch die Absicht hatte, die Abschiebung zu vereiteln. Umstände, die gegen eine solche Absicht sprachen, hat das Beschwerdegericht nicht in seine Überlegungen einbezogen. Es hat nicht in den Blick genommen, dass der zu keinem Zeitpunkt untergetauchte Betroffene der schriftlichen Aufforderung zur Vorsprache im Ausländeramt fristgerecht nachgekommen ist. Ebenso blieb die Äußerung des Betroffenen bei der persönlichen Anhörung vor dem Amtsgericht, er wolle freiwillig ausreisen, unberücksichtigt. Nicht beachtet wurden schließlich auch die Schriftsätze des vorinstanzlichen Verfahrensbevollmächtigten, in denen dieser dargelegt hat, dass die in Rumänien wohnende Familie des Betroffenen bereit sei, dessen Rückfahrt mit dem täglich verkehrenden Zug zu organisieren.

Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Die Ermessensentscheidung ist schon deshalb nicht nachholbar, weil eine Anhörung des Betroffenen nach Durchführung der Abschiebung nicht mehr möglich ist.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 , § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO .

Vorinstanz: AG Rosenheim, vom 28.10.2011 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 285/11
Vorinstanz: LG Traunstein, vom 08.11.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 4 T 4356/11