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BGH - Entscheidung vom 30.06.2011

V ZB 261/10

Normen:
AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 1
AufenthG § 62 Abs. 2
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1
FamFG § 417 Abs. 2

BGH, Beschluss vom 30.06.2011 - Aktenzeichen V ZB 261/10

DRsp Nr. 2011/14538

Rechtmäßigkeit einer weiteren Verlängerung einer bereits über drei Monate andauernden Abschiebungshaft im Falle des Scheiterns der Abschiebung; Folgen einer Unmöglichkeit der Durchfühung einer Abschiebung auf Grund einer von dem betroffenen Ausländer beantragten einstweiligen Anordnung des Verwaltungsgerichts

Der Ausländer hat es nicht zu vertreten, wenn eine Abschiebung auf Grund einer von ihm beantragten einstweiligen Anordnung des Verwaltungsgerichts nicht durchgeführt werden kann. Das Scheitern der Abschiebung aus diesem Grunde rechtfertigt keine weitere Verlängerung einer bereits über drei Monate andauernden Abschiebungshaft.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Hamburg vom 8. Oktober 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 30. September 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der F. H. auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 62 Abs. 2 ; AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1; FamFG § 417 Abs. 2;

Gründe

I.

Der Betroffene, der Staatsangehöriger von Togo ist, reiste im Jahre 1998 erstmals in das Bundesgebiet ein und stellte zwei erfolglose Asylanträge. In der Folgezeit wurde er zur Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung zunächst geduldet, im Oktober 2008 jedoch nach Togo abgeschoben.

Nachdem er nach eigenen Angaben im November 2009 wieder in das Bundesgebiet eingereist war, wurde er am 4. Januar 2010 in H. von der Polizei festgenommen und gegen ihn eine Restfreiheitsstrafe vollstreckt.

Auf Antrag der Beteiligten zu 2 wurde gegen den Betroffenen erstmals mit Beschluss des Amtsgerichts vom 14. Januar 2010 Sicherungshaft bis zu sechs Wochen nach dem Ende der Untersuchungshaft in einem weiteren gegen den Betroffenen geführten Ermittlungsverfahren angeordnet und in der Zeit vom 9. April 2010 bis zum 5. Mai 2010 vollzogen. Nach einem am Widerstand des Betroffenen gescheiterten Abschiebungsversuch am 6. Mai 2010 wurde in der Zeit vom 6. Mai 2010 bis zum 11. Juni 2010 eine Restfreiheitsstrafe vollstreckt und anschließend die Sicherungshaft weiter vollzogen. Mit Verfügung der Beteiligten zu 2 vom 4. Juni 2010 wurde der Betroffene aufgefordert, Deutschland zu verlassen, und ihm die Abschiebung für den Fall angedroht, dass er seiner Ausreisepflicht nicht bis zum 10. Juni 2010 nachkomme. Die Sicherungshaft wurde auf Anträge der Beteiligten zu 2 durch Beschlüsse des Amtsgerichts mehrfach verlängert.

Die Vollziehung einer am 28. September 2010 vorgesehenen Abschiebung des Betroffenen wurde durch eine einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts untersagt.

Auf Antrag der Beteiligten zu 2 vom 29. September 2010 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 30. September 2010 die Verlängerung der Abschiebungshaft bis zum 21. Oktober 2010 angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt er die Feststellung, durch die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts in seinen Rechten verletzt worden zu sein, nachdem der Senat mit Beschluss vom 14. Oktober 2010 die Vollziehung der Sicherungshaft einstweilen ausgesetzt hat.

II.

Das Beschwerdegericht meint, der Beschluss über die Verlängerung der Abschiebungshaft vom 30. September 2010 sei rechtmäßig.

Für ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG gebe es keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die Untersagung der für den 28. September 2010 vorgesehenen Abschiebung stelle lediglich ein vorübergehendes Hindernis dar, welches eine Abschiebung des Betroffenen bei entsprechenden Vorkehrungen zu seiner medizinischen Versorgung nach der Ankunft in seinem Heimatland nicht ausschließe.

Die Fortdauer der Haft sei auch nicht unverhältnismäßig. Die Beteiligte zu 2 habe das Beschleunigungsgebot beachtet. Von der Erforderlichkeit zusätzlicher Vorkehrungen zur ärztlichen Versorgung des Betroffenen bei und nach der Abschiebung habe sie vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, die auf ein von dem Betroffenen eingeholtes Privatgutachten gestützt sei, nichts wissen können. Deshalb sei der Beteiligten zu 2 auch nicht vorzuwerfen, dass sie erst danach tätig geworden sei, um eine medizinische Versorgung des Betroffenen während des Fluges und nach der Ankunft in seinem Heimatland sicherzustellen.

Schließlich sei auch die zulässige Haftdauer von sechs Monaten (§ 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ) nicht überschritten. Da der Betroffene zwischen dem 6. Mai 2010 und dem 11. Juni 2010 eine Restfreiheitsstrafe verbüßt habe, ende die Sechsmonatsfrist für die Sicherungshaft nicht am 8. Oktober, sondern erst am 13. November 2010.

III.

Die Rechtsbeschwerde ist -nachdem sich die Hauptsache erledigt hat -mit dem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG ohne Zulassung statthaft (vgl. Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, InfAuslR 2010, 359, 360 und vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10, Rn. 10, [...]) und gemäß § 71 FamFG form- und fristgerecht eingelegt.

1.

Das Rechtsmittel ist in der Sache begründet, weil sowohl die Beschwerdeentscheidung als auch die Haftanordnung, die im Falle der Erledigung ebenfalls Gegenstand der Überprüfung ist (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rn. 14; Senat, Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, [...] Rn. 6), einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten.

2.

In diesem Fall lag allerdings (anders als bei der für den vorangegangenen Zeitraum beantragten Sicherungshaft - Senat, Beschluss vom 28. April 2011 - V ZB 252/10, Rn. 9 ff., [...]) ein zulässiger, den Begründungsanforderungen nach § 417 Abs. 2 FamFG genügender Haftantrag vor, obwohl auch in dem Antrag der Beteiligten zu 2 vom 20. September 2010 der Grund der Verlassenspflicht des Betroffenen - die Ausreiseanordnung mit der Abschiebungsandrohung vom 4. Juni 2010 - nicht erwähnt worden ist.

Der Haftantrag und seine Begründung, welche die Grundlage für die Anhörung des Betroffenen bilden, müssen allerdings aus den Verfahrensakten selbst ersichtlich sein. Dazu ist es grundsätzlich erforderlich, dass sich entweder ein vollständiger schriftlicher Haftantrag in der Akte befindet oder die Begründung des Haftantrags durch die Behörde sich aus dem Protokoll der Anhörung des Betroffenen ergibt (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210 , 211 Rn. 17 und vom 7. April 2011 - V ZB 141/10, Rn. 9, [...]).

Hierfür kann jedoch die Bezugnahme auf eine frühere Entscheidung ausreichen. Den Anforderungen an die Begründung des Haftantrags in § 417 Abs. 2 FamFG wird auch durch die Verweisung auf eine zuvor gegen den Betroffenen ergangene gerichtliche Entscheidung entsprochen, wenn diese sich in der Verfahrensakte befindet und der in Bezug genommene Beschluss die nach § 417 Abs. 2 FamFG anzugebenden Tatsachen hinreichend bezeichnet. Unter diesen Voraussetzungen sind nämlich den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht die nach § 417 Abs. 2 FamFG zur Begründung des Haftantrags mitzuteilenden Tatsachen bekannt, und auch dem Rechtsmittelgericht ist - wenn sich der in Bezug genommene Beschluss ebenfalls in der Verfahrensakte befindet -eine Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Haftanordnung ohne Weiteres möglich.

Beides ist hier der Fall. Der in der Antragsbegründung in Bezug genommene Beschluss befindet sich in der Verfahrensakte und enthält - die in den Haftanträgen der Beteiligten zu 2 fehlenden - Darlegungen nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG zur Verlassenspflicht des Betroffenen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung aus der Sicht des Beschwerdegerichts, die sich die Beteiligte zu 2 in ihrem Antrag auf Haftverlängerung zu eigen gemacht hat.

3.

Die Rechtsbeschwerde hat jedoch in der Sache deswegen Erfolg, weil die Verlängerung der bereits über 4 1/2 Monate andauernden Abschiebungshaft nach einem von dem Verwaltungsgericht untersagten Abschiebungsversuch rechtswidrig war. Die erneute Verlängerung der Sicherungshaft stellte einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ) dar.

a)

Der aus dem Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG ) folgende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet nicht nur, von der Anordnung der Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 AufenthG abzusehen, wenn die Abschiebung nicht durchführbar und die Freiheitsentziehung deshalb nicht erforderlich ist (BVerfG, NVwZ-Beilage Nr. 3/1996, 17, 18; InfAuslR 2001, 116, 117). Das Verfassungsgebot zwingt vielmehr auch dazu, das öffentliche Interesse an der Sicherung der Abschiebung und den Freiheitsanspruch des Betroffenen als wechselseitige Korrektive zu sehen und gegeneinander abzuwägen, wobei zu bedenken ist, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Durchsetzung ausländerrechtlicher Vorschriften mit zunehmender Dauer der Haft regelmäßig vergrößern wird (BVerfG, aaO). Die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG , nach der die Sicherungshaft unzulässig ist, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann, stellt sich als eine einfachgesetzliche Ausprägung des in diesem Sinne verstandenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar (BVerfG, aaO, zum gleichlautenden § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG ).

b)

Die Regelung in § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG lässt erkennen, dass im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine Haftdauer von sechs Monaten (§ 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ) nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen werden darf. Daraus folgt, dass die Verlängerung einer zunächst in zulässiger Weise auf drei Monate befristeten Haftanordnung unzulässig ist, wenn die Abschiebung aus Gründen unterblieben ist, die von dem Ausländer nicht zu vertreten sind (Senat, Beschlüsse vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235 , 237, vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 , 1176 Rn. 19 und vom 6. Mai 2010 - V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361, 362 Rn. 24). Liegen solche Gründe nicht vor, verletzt eine dennoch von dem Haftrichter angeordnete Verlängerung der Sicherungshaft über drei Monate hinaus den Ausländer in seinem Freiheitsgrundrecht.

c)

So ist es hier.

aa)

Der Ausländer hat es nicht zu vertreten, wenn eine Abschiebung auf Grund einer einstweiligen Anordnung des Verwaltungsgerichts nicht durchgeführt werden kann. Das Scheitern der Abschiebung aus diesem Grund rechtfertigt keine weitere Verlängerung der bereits über drei Monate andauernden Abschiebungshaft.

(1)

Die durch den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem Verwaltungsgericht nach § 123 VwGO eingetretene Verzögerung ist von dem Ausländer nach dem allgemeinen Rechtsgedanken, dass die Wahrnehmung der durch das Gesetz eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten dem Rechtssuchenden nicht zum Nachteil gereichen darf (vgl. OLG Celle, FGPrax 2007, 40 , 41), nicht zu vertreten. Dies gilt auch dann, wenn die Aussetzung der Abschiebung durch das Verwaltungsgericht rechtswidrig gewesen sein sollte, wie die Beteiligte zu 2 meint. Für eine Haftverlängerung kommt es darauf nicht an, weil die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte einer Nachprüfung durch die Zivilgerichte entzogen sind. Der Haftrichter hat diese bei der Entscheidung über den Haftantrag der Behörde als Tatsache zu berücksichtigen, jedoch nicht auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen (Senat, Beschluss vom 7. Mai 2010 - V ZB 121/10, Rn. 10, [...]).

(2)

Die weitere Haftverlängerung war auch dann nicht mehr verhältnismäßig, wenn die Beteiligte zu 2 vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts von den für eine Abschiebung des Betroffenen erforderlichen besonderen Vorkehrungen nichts gewusst haben und es ihr auch nicht vorzuwerfen sein sollte, dass sie sich erst danach um eine medizinische Versorgung des Betroffenen nach der Ankunft im Zielstaat bemühte. Hat der Ausländer den seine Abschiebung hindernden Grund nicht zu vertreten, ist eine Verlängerung der Sicherungshaft über drei Monate hinaus unzulässig und zwar unabhängig davon, ob der Behörde wegen des Scheiterns früherer Abschiebungsversuche ein Vorwurf zu machen ist oder nicht.

bb)

Andere von dem Betroffenen zu vertretende Abschiebungshindernisse, die eine Verlängerung der Abschiebungshaft auf bis zu sechs Monate (§ 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ) rechtfertigten, sind weder festgestellt noch ersichtlich. Ein Abschiebungshindernis entstand nicht dadurch, dass der Betroffene sich weigert, freiwillig in sein Heimatland zurückzukehren, und dadurch das für seine Rückführung erforderliche aufwendige Abschiebungsverfahren in Gang gesetzt hat. Dies ist kein dem Betroffenen zurechenbarer Umstand, durch den ein Abschiebungshindernis geschaffen worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 193/09, InfAuslR 2010 361, 362).

IV.

1.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 , § 83 Abs. 2 , § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO . Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die F. H. als diejenige Körperschaft, der die beteiligte Behörde angehört (vgl. § 430 FamFG), zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten.

2.

Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO .

Vorinstanz: AG Hamburg, vom 30.09.2010 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 26960/01
Vorinstanz: LG Hamburg, vom 08.10.2010 - Vorinstanzaktenzeichen 329 T 87/10