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BGH - Entscheidung vom 14.07.2011

V ZB 75/11

Normen:
AufentG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 5
AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1
FamFG § 70 Abs. 3 S. 1 Nr. 3,S. 2

BGH, Beschluss vom 14.07.2011 - Aktenzeichen V ZB 75/11

DRsp Nr. 2011/14683

Notwendigkeit des Einvernehmens mit der Staatsanwaltschaft bzgl. der Abschiebung eines Ausländers im Falle der Erhebung einer öffentlichen Klage oder der Einleitung eines strafrechtliches Ermittlungsverfahrens

1. Hat in einem Abschiebungsverfahren das Beschwerdegericht über den Fortsetzungsfeststellungsantrag nach § 62 FamFG entschieden, geht es im Rechtsbeschwerdeverfahren allein um die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung. Dabei ist allerdings inzident auch die Frage der Rechtmäßigkeit der Haftentscheidung zu prüfen.2. Ein Betroffener ist bereits dann in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt, wenn der Haftanordnung kein zulässiger Haftantrag zugrunde lag. Ob ein zulässiger Haftantrag vorliegt, ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Zu den unerlässlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen gehört es nach § 417 II S. 2 Nr. 5 FamFG, dass die Antragsbegründung insbesondere Angaben zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung enthält.3. Nach § 72 IV S. 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus. Fehlen in dem Haftantrag Ausführungen zu dem Einvernehmen, obwohl sich aus ihm selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass die öffentliche Klage oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist, ist der Antrag unzulässig.4. Das Fehlen eines zulässigen Haftantrags kann nicht rückwirkend geheilt werden, weil es sich bei der ordnungsgemäßen Antragstellung durch die Behörde um eine Verfahrensgarantie handelt, deren Beachtung Art. 104 I S.1 GG fordert. Deshalb ist ohne weitere Sachaufklärung festzustellen, dass die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Tenor

Der Antrag des Betroffenen auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe wird zurückgewiesen.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 21. März 2011 aufgehoben und festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Bingen vom 19. Oktober 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden dem Landkreis Cochem-Zell auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Normenkette:

AufentG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 5; AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1; FamFG § 70 Abs. 3 S. 1 Nr. 3,S. 2;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein aserbaidschanischer Staatsangehöriger, reiste am 21. März 2008 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte seinen Asylantrag ab und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise auf. Die Entscheidung ist seit Dezember 2009 bestandskräftig. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 ist gegen den Betroffenen mit Beschluss des Amtsgerichts vom 7. Oktober 2010 gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG Sicherungshaft für zwei Wochen angeordnet worden. Nach dem Scheitern der für den 19. Oktober 2010 geplanten Abschiebung hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 19. Oktober 2010 auf Antrag der Beteiligten zu 2 die Abschiebungshaft um drei Monate verlängert. Die nach seiner Abschiebung auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung vom 19. Oktober 2010 gerichtete Beschwerde des Betroffenen ist vor dem Landgericht ohne Erfolg geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde, für deren Durchführung er Verfahrenskostenhilfe beantragt, verfolgt er seinen Fortsetzungsfeststellungsantrag weiter.

II.

Nach Auffassung des Beschwerdegerichts war die Haftanordnung rechtmäßig, da der in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufentG genannte Haftgrund vorgelegen habe.

III.

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

1.

Die nach Erledigung der Hauptsache mit dem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG ohne Zulassung gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthafte (vgl. Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, InfAuslR 2010, 359, 360 und vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10, Rn. 10, [...]) Rechtsbeschwerde ist gemäß § 71 FamFG form- und fristgerecht eingelegt. Hat - wie hier - bereits das Beschwerdegericht über den Fortsetzungsfeststellungsantrag nach § 62 FamFG entschieden, geht es im Rechtsbeschwerdeverfahren allein um die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung. Dabei ist allerdings inzident auch die Frage der Rechtmäßigkeit der Haftentscheidung zu prüfen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 4 und vom 28. April 2011 - V ZB 184/10, Rn. 7, [...]).

2.

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Es kann dahinstehen, ob eine Verlängerung der nach § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG angeordneten Sicherungshaft rechtlich möglich ist. Der Betroffene ist bereits deshalb in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt, weil der Haftanordnung vom 19. Oktober 2010 kein zulässiger Haftantrag zugrunde lag.

a)

Ob ein zulässiger Haftantrag vorliegt, ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. Senat, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - V ZB 136/10, Rn. 6, [...]; Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210 , 211, jeweils mwN). Zu den unerlässlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen gehört es nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG, dass die Antragsbegründung insbesondere Angaben zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung enthält (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, [...] Rn. 8 f.).

b)

Diesen Anforderungen wird der Antrag der Beteiligten zu 2 nicht gerecht.

Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574, Rn. 8 f.). Fehlen in dem Haftantrag Ausführungen zu dem Einvernehmen, obwohl sich aus ihm selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass die öffentliche Klage oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist, ist der Antrag unzulässig (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 9, [...]).

Das ist hier der Fall. Aus dem Haftantrag der Beteiligten zu 2 vom 14. Oktober 2010 ergab sich, dass gegen den Betroffenen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist. Der Vertreter der Beteiligten zu 2 hat dies im Rahmen der mündlichen Anhörung vor dem Amtsgericht am 19. Oktober 2010 dahingehend ergänzt, dass sich in seiner Akte eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Koblenz vom 22. Juni 2010 befinde, wonach sich der Betroffene nach einem Ladendiebstahl einer vorläufigen Festnahme durch einen Polizeibeamten unter versuchter Gewaltanwendung widersetzt habe. Weder im Haftantrag noch in den beigefügten Unterlagen noch bei der Anhörung ist allerdings dargelegt, dass das erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung des Betroffenen vorlag.

c)

Das Fehlen eines zulässigen Haftantrags kann nicht rückwirkend geheilt werden, weil es sich bei der ordnungsgemäßen Antragstellung durch die Behörde um eine Verfahrensgarantie handelt, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert (Senat, Beschluss vom 9. Mai 2011 - V ZB 295/10, Rn. 7, [...], mwN). Deshalb ist ohne weitere Sachaufklärung festzustellen, dass die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 , § 83 Abs. 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO . Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Körperschaft, der die beteiligte Behörde angehört (vgl. § 430 FamFG), zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen zu verpflichten (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 213/09, NVwZ 2010, 1510, 1511).

Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO .

IV.

Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe ist unbegründet.

Der Senat hat mit Beschluss vom 14. Oktober 2010 ( V ZB 214/10, FGPrax 2011, 41 ) entschieden, dass ein Betroffener grundsätzlich auch nach seiner Abschiebung eine aktuelle Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorlegen muss. Eine solche Erklärung hat der Betroffene nicht vorgelegt. Soweit er auf seine in der Beschwerdeinstanz eingereichte Erklärung Bezug genommen hat, ist dies nicht ausreichend, weil sich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen durch seine Abschiebung nach Aserbaidschan geändert haben können.

Es mag allerdings Fälle geben, in denen der Betroffene in dem Staat, in den er abgeschoben worden ist, aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen, etwa infolge einer Inhaftierung, gehindert ist, die Erklärung zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen unter Verwendung des vorgeschriebenen Formulars oder durch eine gleichwertige Bescheinigung des Aufenthaltsoder des Heimatstaats abzugeben. Wie dann zu verfahren ist, bedarf hier keiner Entscheidung, weil weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass es sich in dem Fall des Betroffenen so verhält.

Vorinstanz: LG Mainz, vom 21.03.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 8 T 202/10
Vorinstanz: AG Bingen, vom 19.10.2010 - Vorinstanzaktenzeichen 10 XIV 39/10