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BVerfG - Entscheidung vom 21.01.2009

1 BvR 2594/06

Normen:
GG Art. 2 Abs. 2
GG Art. 14 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4
BVerfGG § 93a Abs. 2
AtomG § 4 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2, Nr. 5

BVerfG, Beschluss vom 21.01.2009 - Aktenzeichen 1 BvR 2594/06

DRsp Nr. 2009/3038

Verfassungsmäßigkeit der Nichtzulassung der Berufung im Zusammenhang mit der Genehmigung eines Transports von Kernbrennstoffen

1. Rügt ein Beschwerdeführer im Berufungszulassungsverfahren, § 4 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2 und Nr. 5 AtG haben entgegen der Ansicht des Gerichts ebenso drittschützenden Charakter wie die gleichlautend formulierten, drittschützenden Normen § 6 Abs. 2 Nr. 4 AtG und § 7 Abs. 2 Nr. 5 AtG , verstößt das Gericht gegen Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG , wenn es die Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils ablehnt. 2. Die Frage, ob die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Rechtsschutz Drittbetroffener gegen atomrechtliche Aufbewahrungs- und Anlagengenehmigungen auf die atomrechtliche Beförderungsgenehmigung nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 5 AtG zu übertragen ist, erfüllt die Voraussetzungen der Grundsatzbedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 beziehungsweise § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO . 3. Eine individuelle Grundrechtsrelevanz einer belastenden hoheitlichen Maßnahme kann nicht mit dem Hinweis auf eine große Zahl Mitbetroffener beziehungsweise eine gleichartige Betroffenheit der Allgemeinheit verneint werden.

Tenor:

1. Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 10. August 2006 - 7 LA 303/04 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 20.000 EUR (in Worten: zwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Normenkette:

GG Art. 2 Abs. 2 ; GG Art. 14 Abs. 1 ; GG Art. 19 Abs. 4 ; BVerfGG § 93a Abs. 2 ; AtomG § 4 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2, Nr. 5 ;

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft - ebenso wie das Verfahren 1 BvR 2524/06 - die Frage, ob atomrechtliche Beförderungsgenehmigungen gemäß § 4 des Atomgesetzes von Anliegern der Beförderungsstrecke beziehungsweise von Eigentümern in deren Nähe gelegener Grundstücke zulässigerweise angefochten werden können.

1.

Der Beschwerdeführer wandte sich im Ausgangsverfahren ebenso wie die Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 2524/06 gegen die mit Bescheid vom 30. April 2003 durch das Bundesamt für Strahlenschutz erteilte Genehmigung, bis einschließlich 31. Dezember 2003 unter Verwendung von Transport- und Lagerbehältern des Typs "CASTOR HAW 20/28 CG" maximal zwei Schienen- und zwölf Straßentransporte hochaktiver Glaskokillen aus der Wiederaufarbeitungsanlage in L... vom Grenzübergang P..., S..., K..., B... oder einem von der Polizei benannten Grenzübergang auf der Schiene zur Umschlagsanlage auf dem Bahnhofsgelände D... oder zu einem von der Polizei benannten Umschlagsort und von dort auf der Straße zum Transportbehälterlager G... durchzuführen. Der Beschwerdeführer ist Eigentümer eines von ihm und seiner Familie bewohnten Wohnhauses in B... im Landkreis L..., das in etwa 510 Metern Entfernung vom Bahnhof D... liegt.

2.

Nach Zurückweisung seines Widerspruchs durch das Bundesamt für Strahlenschutz erhob der Beschwerdeführer Anfechtungsklage, die er nach Durchführung der genehmigten Transporte als Fortsetzungsfeststellungsklage fortführte. Diese wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 15. Oktober 2004 ab. Den hiergegen gerichteten Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 10. August 2006 (NVwZ-RR 2007, S. 28 ) ab. Die Entscheidungen entsprechen weitgehend wörtlich den im Verfahren 1 BvR 2524/06 beschwerdegegenständlichen.

3.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG . Das Beschwerdevorbringen entspricht demjenigen im Verfahren 1 BvR 2524/06.

Das Bundesverwaltungsgericht und die Bundesregierung haben zu der Verfassungsbeschwerde eine Stellungnahme abgegeben.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit der Beschwerdeführer den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 10. August 2006 angreift. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist insoweit zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt.

Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2004 richtet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.

Zur Begründung wird - auch hinsichtlich der Entscheidung über die Auslagenerstattung und die Festsetzung des Gegenstandswertes - auf den Beschluss der Kammer vom heutigen Tage im Verfahren 1 BvR 2524/06 verwiesen.

Vorinstanz: OVG Niedersachsen, vom 10.08.2006 - Vorinstanzaktenzeichen 7 LA 303/04
Vorinstanz: VG Braunschweig, vom 15.10.2004 - Vorinstanzaktenzeichen 1 A 231/03