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BGH - Entscheidung vom 29.05.2009

AK 8/09

Normen:
32001R2580 Art. 2 Abs. 1
32001R2580 Art. 2 Abs. 2
32001R2580 Art. 3
StPO § 112 Abs. 3

BGH, Beschluss vom 29.05.2009 - Aktenzeichen AK 8/09

DRsp Nr. 2009/13982

Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr sowie der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 Strafgesetzbuch ( StPO ) aufgrund der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung

Tenor:

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Normenkette:

32001R2580 Art. 2 Abs. 1; 32001R2580 Art. 2 Abs. 2; 32001R2580 Art. 3; StPO § 112 Abs. 3 ;

Gründe:

1.

Aufgrund der Haftbefehle des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 3. November 2008 sind die Beschuldigten am 5. November 2008 festgenommen worden. Die Beschuldigte E. befindet sich seit diesem Tag, die Beschuldigten I. und O. befinden sich seit dem 6. November 2008 aufgrund dieser Haftbefehle in Untersuchungshaft.

a)

Die Beschuldigten sind dringend verdächtig, sich seit dem 30. August 2002 bis zu ihrer Festnahme als Mitglieder der marxistischleninistischen Gruppierung DHKP-C an einer Vereinigung im Ausland (Türkei) beteiligt zu haben, deren Zwecke und Tätigkeiten darauf gerichtet sind, Mord oder Totschlag zu begehen (§ 129 b Abs. 1 i. V. m. § 129 a Abs. 1 Nr. 1 StGB ), um unter anderem auf diesem Wege die staatliche Ordnung in der Türkei durch "bewaffneten Kampf" zu beseitigen. Die DHKP-C hat sich seit 1994, auch im Tatzeitraum, zu zahlreichen Brand- und Sprengstoffanschlägen bekannt, die u. a. gegen Repräsentanten des türkischen Staates, Mitglieder türkischer Justizbehörden und der türkischen Armee gerichtet waren. Dabei kann hier dahinstehen, ob - was allerdings nahe liegt (vgl. etwa auch die uneingeschränkte Listung der DHKP-C als terroristische Vereinigung in den Ratsbeschlüssen 2002/460/EG vom 17. Juni 2002 und zuletzt vom 28. Juni 2007 - 2007/445/EG - zur Durchführung von Art. 2 Abs. 3 der VO (EG) 2580/2001 vom 27. Dezember 2001) - vor diesem Hintergrund die DHKP-C materiellrechtlich insgesamt als ausländische terroristische Vereinigung anzusehen ist, oder ob - wie die Haftbefehle annehmen - sich lediglich innerhalb dieser Organisation eine terroristische Vereinigung gebildet hat, der neben bestimmten Funktionären und den mit der Ausführung der Anschläge betrauten Kadern in der Türkei jedenfalls auch solche Kader als Mitglieder angehören, die im europäischen Ausland in herausgehobenen Funktionen für die DHKP-C tätig sind und denen es obliegt, u. a. durch Spendensammlungen die für den bewaffneten Kampf erforderlichen finanziellen Mittel zu beschaffen (so genannte Rückfront). Denn nach dem Ergebnis der bisherigen Ermittlungen gehörten die Beschuldigten diesem engeren Funktionärskreis an:

- Die Beschuldigte E. hatte von der DHKP-C seit dem Jahr 2000 bis zu ihrer Festnahme die Verantwortung für die Region Westfalen übertragen erhalten. Sie war in ihrer Region in Spendensammlungen, den Vertrieb von Parteipublikationen und die Organisation von Schulungen und kommerziellen Veranstaltungen eingebunden. Sie beteiligte sich ferner an der Suche nach Kurieren, u. a. für Waffentransporte in die Türkei.

- Der Beschuldigte I. war seit dem Jahr 2002 bis zu seiner Festnahme Gebietsleiter ("Bölgeleiter") in Nürnberg, München, Augsburg und Köln und in dieser Funktion ebenfalls für die jährlich stattfindenden Spendensammlungen in den ihm überantworteten Gebieten verantwortlich. - Der Beschuldigte O. war seit Februar 2002 zunächst Leiter des Gebiets Nord und dort für die Städte Hamburg, Bremen und Hannover verantwortlich, bevor er im Jahr 2006 in die Region Westfalen wechselte. Er war ebenfalls mit der Organisation und Durchführung von Spendensammlungen in seinen Gebieten betraut. Im Frühjahr 2003 ließ er zudem für die DHKP-C Prägesiegel zur Fälschung von Ausweispapieren anfertigen, die der Organisation mittels Kurieren überbracht wurden. Auch er benannte der DHKP-C Namen geeigneter Kuriere.

b)

aa)

Der dringende Verdacht gegen die Beschuldigten ergibt sich aus zahlreichen Dokumenten aus dem Archiv der DHKP-C, die bei einer Durchsuchung des "Ö. Pressebüros" am 1. April 2004 in Amsterdam sichergestellt werden konnten und in der Folgezeit ausgewertet wurden. Eine Zuordnung der im Haftbefehl aufgeführten Funktionen und Betätigungen war anhand der von den Beschuldigten verwendeten Decknamen möglich. Wegen der Einzelheiten wird auf die Auswertevermerke des BKA vom 28. Februar 2008 (Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigte E. , SA Bd. II 4.4.1.1.), vom 27. April 2007 (Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten I. , SA Bd. II 4.4.1.1.) und vom 27. Mai 2008 (Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten O. , SA Bd. II 4.3.1.1.) verwiesen. Danach waren die Beschuldigten mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb der "Rückfront" der DHKP-C mit Führungsaufgaben betraut.

Der Verdacht, dass die Zwecke der DHKP-C darauf gerichtet sind, Mord und Totschlag zu begehen, wird - entgegen der Auffassung der Verteidigerin der Beschuldigten E. - nach dem bisherigen Ermittlungsstand nicht durch neuere Erkenntnisse türkischer Ermittlungsbehörden im dortigen "Ergenekon-Verfahren" entkräftet. Vorläufige Auswertungen einer in jenem Verfahren verfassten Anklageschrift lassen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die in den Haftbefehlen aufgeführten Terroranschläge nicht der DHKP-C zuzurechnen sind, nicht erkennen.

Die erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener und künftiger Taten in Deutschland, "die im Zusammenhang mit der terroristischen Vereinigung stehen, die sich innerhalb des Führungskaders der DHKP-C unter der Führung von K. in der Türkei gebildet hat", hat das Bundesministerium der Justiz am 29. Juli 2003 erteilt ( § 129 b Abs. 1 Satz 3 und 4 StGB ). Dieser Zusammenhang ist hinsichtlich der den Beschuldigten zur Last gelegten Taten unabhängig davon gegeben, wie diese materiellrechtlich zu bewerten sind und der Umfang der Vereinigung materiellrechtlich zu bestimmen ist.

bb)

Da bereits der dringende Verdacht, dass sich die Beschuldigten mitgliedschaftlich an einer ausländischen terroristischen Vereinigung beteiligt haben, die Haftanordnung trägt, kann der Senat offen lassen, ob - wovon die Haftbefehle ausgehen - darüber hinaus dringende Gründe für die Annahme tateinheitlich begangener Verstöße gegen das AWG vorliegen ( § 34 Abs. 4 AWG aF bzw. § 34 Abs. 4 Nr. 2 AWG nF i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und 2 bzw. Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 vom 27. Dezember 2001, veröffentlicht im EG Amtsblatt am 28. Dezember 2001 und im Bundesgesetzblatt am 20. Februar 2002, BGBl I 2002, 680). Der Senat sieht deshalb davon ab, im Haftprüfungsverfahren die sich bei Anwendung der EG (VO) 2580/2001 stellenden schwierigen und komplexen Rechtsfragen - etwa ob die Beschuldigten als Mitglieder der gelisteten Vereinigung dem Adressatenkreis der Verbotsnormen der Verordnung überhaupt zuzurechnen sind, und ob die ihnen vorgeworfenen Betätigungen im Zusammenhang mit Spendensammlungen für die DHKP-C dem Umgehungsverbot des Artikel 3 der Verordnung unterfallen -näher zu erörtern.

c)

Es bestehen bei allen Beschuldigten die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr sowie der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO . Wegen der Einzelheiten wird auf die zutreffenden Erwägungen in den Haftbefehlen verwiesen. Der Zweck der Untersuchungshaft kann im Hinblick auf die Verdunkelungsgefahr, die bei konspirativ arbeitenden Organisationen auf der Hand liegt, und die gesteigerte Fluchtgefahr bei einem Mitglied einer international agierenden ausländischen terroristischen Vereinigung nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden ( § 116 StPO ).

2.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

a)

Das Verfahren ist bislang mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben worden. Der besondere Umfang und die besondere Schwierigkeit des Verfahrens werden dadurch belegt, dass sich die Auswertung der erst nach Festnahme der Beschuldigten sichergestellten Datenträger und in türkischer Sprache verfasster Unterlagen sehr zeitaufwändig gestaltet und deshalb noch nicht abgeschlossen werden konnte. Entgegen dem Vorbringen der Verteidiger sind diese Asservate nach den bisher vorliegenden Auswertungsergebnissen teilweise auch geeignet, den gegen die Beschuldigten bestehenden Tatverdacht weiter zu erhärten. Allerdings weist der Senat darauf hin, dass mit Blick auf die fortschreitende Dauer der Untersuchungshaft und das bereits erreichte - die Beschuldigten schwer belastende - Ermittlungsergebnis die weitere Auswertung des umfangreichen Datenmaterials auf das tatsächlich noch Notwendige zu beschränken sein wird, um einen alsbaldigen Abschluss des Ermittlungsverfahrens zu gewährleisten.

b)

Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht zu der Bedeutung der Sache und der für die Beschuldigten im Falle ihrer Verurteilung zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis ( § 120 Abs.1 Satz 1 StPO ). Dies gilt bei der Beschuldigten E. auch unter Berücksichtigung ihrer während der Inhaftierung aufgetretenen, medikamentös und therapeutisch jedoch behandelbaren psychischen Probleme.